Grenzrelikte

Zehlendorf - Griebnitzsee (14 km)


Immer dieselbe Prozedur, es hat sich so eingespielt: Christa bereitet das Frühstück vor, Dieter oder ich holen die Brötchen, wir frühstücken, um 9 Uhr klingelt es und Wolfgang steht auf der Bildfläche. Gemeinsam gehen wir zur U-Bahnstation Rüdesheimer Platz und fahren zum Startpunkt unserer Tagesetappe. Heute ist es die Endstelle der Buslinie 101 in der Sachtlebenstraße von Zehlendorf, ganz in der Nähe des Teltowkanals. Wieder scheint die Sonne von einem über und über blauen Himmel, die Luft ist auch um 10 Uhr noch frisch, aber wir Mauerwanderer merken, dass es heute wohl noch ein paar Grad wärmer werden wird.


Für Wolfgang ist es heute der letzte Tag und ich bezweifle, ob er darüber sehr traurig ist. Wandern wird wohl nie sein erklärtes Hobby. Um dem Körper ein paar überflüssige Pfunde abzutrotzen, mag für ihn diese Fortbewegungsart vielleicht noch eine gewisse Existenzberechtigung haben, wenn dies dann aber gleichzeitig zu Versteifungen in diversen Gelenken und zu Ballonfüßen führt, ist das für ihn schon wieder gar nicht mehr lustig. Er hat also guten Willen gezeigt, vielleicht versucht er es von nun an eher mit Denksport. Aber diesen letzten Tag mit uns schafft er auch noch. 


In einer Wohnsiedlung an der Bezirksgrenze zwischen Zehlendorf und Klein Machnow werden wir unvermittelt bei einer Erinnerungstafel in einem kleinen Vorgarten auf die Geschichte eines weiteren gescheiterten Fluchtversuchs gestoßen. Am 14.11.1962 wurde hier eine beabsichtigte Tunnelflucht von 23 Menschen verhindert. Die durch einen Spitzel informierte Stasi wollte nicht nur die Flucht verhindern, sondern die Fluchthelfer mit einer Sprengladung töten. Diese sollte mit einem 70 Meter langen Kabel gezündet werden. Der Einsatzleiter hatte zwar den Befehl zur Sprengung gegeben, doch hatte einer der Grenzsoldaten das Kabel vorher zerschnitten. Die festgenommenen Flüchtlinge wurden zu mehrjähriger - der Fluchthelfer zu lebenslänglicher - Haftstrafe verurteilt. Weitere vier Fluchthelfer verdankten dem unbekannt gebliebenen Grenzposten ihr Leben. 


Von diesen Grenzsoldaten, die Befehle sabotiert, weggeschaut oder bewusst danebengeschossen haben, hört und liest man so gut wie nie. Ich hoffe, dass es auch sie, wenn auch in einer erschreckenden Minderheit, gegeben hat. Nur wenige hundert Meter von dieser Stelle, wo ein Funken Menschlichkeit aufflammte, entfernt, stoßen wir an der Erinnerungsstele für Walter Kittel auf den brutalen Kontrapunkt. Hier wurde Kittel - einer Hinrichtung vergleichbar - von einem Kommandeur der Grenztruppen aus 15 Metern Entfernung mit 30 Schüssen getötet, nachdem sein Fluchtversuch gescheitert war und er sich den Grenzpolizisten bereits gestellt hatte. Nach der Wende verurteilte das Bezirksgericht Potsdam den Kommandeur zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Ein Jahr später wurde dieses Urteil vom Bundesgerichtshof wegen Mordes auf 10 Jahre erhöht, das höchste Urteil, das gegen einen Todesschützen an der Berliner Mauer ausgesprochen wurde.


In der Nähe der Stelle, an der Walter Kittel den Tod fand, betreten wir das Gelände der Trasse der ehemaligen Stammbahn, das dem Mauerstreifen für kurze Zeit folgt. Die Stammbahn war die erste Eisenbahn in Preußen, die 1838 vom Potsdamer Personenbahnhof - am heutigen Potsdamer Platz - über Schöneberg, Zehlendorf und Griebnitzsee bis nach Potsdam fuhr. Hier dampften die "Bankierszüge" aus der Vorkriegszeit, mit denen das gehobene Bürgertum aus den Villenkolonien zwischen Wannsee und Zehlendorf ohne Halt in 13 Minuten zum Potsdamer Platz fuhr. Nach dem letzten Krieg wurde die Bahn stillgelegt, jetzt laufen Pläne für eine Reaktivierung.


Die alte Trasse, und mit ihr der alte Grenzstreifen, läuft fast genau auf die frühere "Grenzübergangsstelle Drewitz/Dreilinden" zu, die wir wenige Minuten später erreichen. Diese "GÜST" war die größte der DDR und erinnert viele West-Berliner und Berlin-Besucher an stundenlange Wartezeiten. Die immer wiederkehrende Frage der Zöllner: "Waffen, Munition, Funkgeräte?" war sattsam bekannt, und der im Auto geflüsterte Scherz "Muss man die dabei haben?" war nur für Neulinge witzig. Sie erinnert aber auch an "Gänsefleisch". So klang die Aufforderung der Grenzer in sächsischer Mundart an die Autofahrer: "Können Sie vielleicht... (den Kofferraum öffnen)".


Das Schmunzeln im Gesicht gefriert einem aber sofort wieder, wenn man bei dem noch existierenden und mittlerweile unter Denkmalschutz gestellten "Führungspunkt" (Grenzwachturm/jetzt Museum) an diesem "Checkpoint Bravo" vom Schicksal des kleinen Holger S. erfährt: Bei einem Fluchtversuch in Kisten auf einem Lkw hält die Mutter dem weinenden 15 Monate alten Kind in ihrer Panik den Mund zu. Dass er wegen einer Bronchitis nicht durch die Nase atmen konnte, hatte sich die Mutter nicht bewusst gemacht. Die Flucht gelingt, die Familie bleibt unentdeckt - beim Öffnen der Kisten am westlichen Kontrollpunkt kann nur noch der Tod des Kindes festgestellt werden.


Die "GÜST Drewitz/Dreilinden" gab es an dieser Stelle aber erst seit 1969. Davor existierte der "Kontrollpunkt Dreilinden/Checkpoint Bravo" an anderer Stelle, wenn auch nicht weit von hier. Wir erreichen diesen Punkt nur wenig später, nachdem wir bereits mindestens für einen Kilometer auf einem ehemaligen Stück der alten Autobahn marschiert sind, von der jetzt im Gelände nichts mehr zu erkennen ist außer einem breiten, trassenmäßigen Streifen. Wo dieses renaturierte Stück ehemaliger Autobahn über eine Brücke den Teltowkanal quert, fallen einem bei bewusstem Hinsehen auf dem geteerten Boden mit weißer Farbe gezogene Fahrbahnmarkierungen und die Worte "PKW" und "BUS" auf. Am Kopfende dieser bereits von Gras und Büschen überzogenen Fläche recken sich noch drei alte Fahnenstangen in die Luft und ganz in der Nähe davon steht ein kleines, mittlerweile schon baufällig aussehendes Gebäude mit der Aufschrift "Raststätte Dreilinden".


Die oben bereits benannte alte Autobahn A115 führte zum Verdruss der DDR-Verantwortlichen bis 1969 an dieser Stelle aber nach dem Verlassen von West-Berlin nach einigen Kilometern auf DDR-Gebiet noch durch Albrechts Teerofen, das - mit West-Berlin verbunden - wie ein Entenschnabel in das DDR-Gebiet hineinragte. Um Fluchtmöglichkeiten auszuschließen, wurde eine neue Streckenführung für die A115 gewählt, die nach Verlassen des Stadtgebiets nur noch auf DDR-Terrain verlief. Die alte Trasse, die West-Berlin bei Albrechts Teerofen nochmal berrührte, fiel in einen Dornröschenschlaf und wurde später ganz aufgegeben. Das relativ kleine Kontrollgebäude "Dreilinden", das bis zur Verlegung der Autobahn 1969 als Abfertigungsgebäude für West-Berliner Polizei, Zoll und Amerikaner in Betrieb war, wurde nach Inbetriebnahme der neuen Übergangsstelle mit 32 Spuren zu einem Restaurant umfunktioniert, das besonders als Gaststätte für den benachbarten Campingplatz diente. Jetzt steht es vor dem Verfall.


Kurz vor unserem heutigen Schlusspunkt, dem S-Bahnhof Griebnitzsee, gönne ich mir, während Dieter und Wolfgang bereits dem Bahnhof bzw. der erhofften Bahnhofsgaststätte zustreben, noch eine kleine Zusatzschleife nach Steinstücken, der einstigen West-Berliner Exklave inmitten der DDR ohne direkten Zugang nach West-Berlin. Anfangs mussten die Bewohner immer eine Klingel bedienen und sich auf einem abgezäunten Weg von und nach West-Berlin von DDR-Grenzposten kontrollieren lassen. Die gewissermaßen zur Beruhigung in Steinstücken stationierten drei amerikanischen Soldaten wurden dreimal wöchentlich mit einem Hubschrauber ausgetauscht. Durch einen ersten Gebietsaustausch 1971 wurde Steinstücken durch den Bau einer ca. einen Kilometer langen Zugangsstraße, die zu beiden Seiten eingemauert war, aus seiner "Insellage" befreit und mit dem "Festland" verbunden. Danach war es im Sommer ein beliebtes Ausflugsziel, wo es im "Taubenschlag" Kaffee und Kuchen gab. Der Fall der Mauer hat leider auch den "Taubenschlag" zu Fall gebracht.


Als ich nach meinem Bummel durch Steinstücken ebenfalls den Bahnhof Griebnitzsee erreiche, sitzen Dieter und Wolfgang bereits zufrieden lächelnd draußen in der Sonne vor zwei halb leeren Gläsern Weizen. Damit ist unsere Zeit als grenzwanderndes Kleeblatt beendet und drei Stunden später strebt Wolfgang, wohl heilfroh dieses "Abenteuer" einigermaßen schadlos überstanden zu haben, im Zug wieder dem heimatlichen Ruhrgebiet entgegen.


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Kommentare: 2
  • #1

    Der Kronprinz (Dienstag, 21 April 2015 09:24)

    Also bisher fallen Deine Bericht doch noch erfreulich detailliert aus. Ihr sauft zu wenig...!

  • #2

    Renate (Dienstag, 21 April 2015 21:27)

    Lieber Reinhard,
    ach - Brüllhusten braucht doch keiner! Ich hoffe, es geht dir heute schon etwas besser.
    Die guten Ratschläge hast du ja schon bekommen und die Medizin auch. Da hoffen wir mal, dass alles seine Wirkung tut. Gute Besserung für dich.
    Liebe Grüße
    Renate