Grenze mitten durchs Haus

Vacha - Berka (20 km)


Beim Aufstehen hängen draußen schwere, dunkle Wolken über Vacha. Es regnet zwar noch nicht, wird sich aber nur noch um Minuten handeln. Aber ich bin optimistisch. Laut Vorhersage soll nur wenig runterkommen und bald auch wieder aufklaren. Beim Frühstück regnet es dann doch etwas, aber ich ignoriere diesen Umstand einfach. Mein Wirt bedauert mich: "Haben Sie gerade im Radio gehört? Ganz schlechtes Wetter werden Sie haben, tagelang nur Regen!" Ich habe den Radio-Wetterbericht in der Tat auch gehört, aber auch dessen zweiten Teil. Der besagte nämlich, dass es dieses angesprochene Sauwetter nur südlich einer Linie München - Bayerischer Wald geben soll, und das trifft für diese Gegend nun gar nicht zu.


In einem hat der Wirt allerdings recht. Gestern war ich die ganze Zeit der Meinung, ich gehe in Sichtweite zum "Monte Kali". Ein Irrtum! "Den Monte Kali sehen Sie heute erst, wenn Sie auf Heringen und Berka zulaufen. Gestern, das war die Halde Oberbreizbach. Mein Bruder arbeitet dort im Kali-Bergwerk. Auf 900 m Tiefe sind sie dort inzwischen angekommen. Richtige Straßen gibt es dort unten, wo Fahrzeuge fahren oder Arbeiter mit Fahrrädern. Die Dimensionen kann man sich hier oben kaum vorstellen, das muss man mal gesehen haben. Nur ungefährlich ist die Arbeit da unten auch nicht. Anfang Oktober 2013 gab es im Berg eine Explosion, die drei Bergleute in den Tod riss. Das Bergwerk in Merkers, nur ein paar Kilometer von hier entfernt, hat man nach der Wende stillgelegt. Verdrängungswettbewerb! Jetzt ist es ein Besucherbergwerk. Heiraten kann man da unten, Konzerte werden veranstaltet. Gestern Abend hat da in 500 m Tiefe die alte DDR-Kult-Rockband Karat gespielt, vor über 5.000 Zuschauern. Nicht in einem Stadion oder einer großen Veranstaltungshalle ... in einem Bergwerk. Tradition haben inzwischen sogar Marathonläufe, die da stattfinden." Ich bin beeindruckt.


Als ich die Unterkunft verlasse, hat der Regen aufgehört. Im Westen klart der Himmel schon auf. Ich bin sicher, gleich scheint wieder die Sonne. Nach wenigen Minuten stehe ich auf Vachas Marktplatz. Hier merke ich, auch Vacha ist ein ruhiges kleines Städtchen, gut zu vergleichen mit Geisa gestern. Im Gegensatz zu Geisa stehen auf Vachas Marktplatz aber noch viele Fachwerkhäuser, das Rathaus ist davon ein besonders schönes Exemplar. Viele sind renoviert, einige Gebäude harren immer noch der Sanierung. Es gibt ein paar geöffnete Geschäfte mehr, aber ein Shopping-Rummel findet auch hier mit Sicherheit nicht statt. 


Ich komme runter zur Werrabrücke. Anfang Juni 1962 entstand hier die erste Mauer an der innerdeutschen Grenze. Um freies Sichtfeld zu schaffen, hatten die Grenzsoldaten zuvor alle Bäume im Umfeld der Brücke gefällt und die Gärten am Werraufer geräumt. Auf der westlichen Brüstung der Brücke montierte man den Metallgitterzaun und auf der Fahrbahn einen Beobachtungsturm aus Beton. Um auch die Möglichkeit zu vereiteln, über die Werra und unter der Brücke durch zu fliehen, wurden die Brückenbögen mit starken Eisengittern versehen.


Jetzt gehe ich in aller Ruhe über diese Brücke hinweg. Autos können mich nicht stören, sie ist jetzt eine reine Fußgänger- und Radfahrerbrücke und heißt "Brücke der Einheit". Dort, wo die Brücke das andere Ufer erreicht, steht die ehemalige Hoßfeld'sche Druckerei. Sie war auch ein "Haus auf der Grenze", die Grenze ging genau durch dieses Gebäude. 11/12 des Hauses liegen im "Westen", 1/12 befindet sich im "Osten". 1890 wurde das Haus unmittelbar an der Landesgrenze zum Königreich Preußen und dem Großherzogtum Sachsen-Weimar von einem Adam Hoßfeld errichtet. Er war Drucker, und seine Druckerei versorgte von 1893 bis 1941 den benachbarten Thüringer Raum mit der "Rhönzeitung". Aus steuerlichen Gründen wurde das Anwesen 1928 um einen Ausbau über die hessische Landesgrenze hinaus nach Thüringen erweitert. Auch die Haustür öffnete man nach Osten. Ab diesem Zeitpunkt gehörte das Gebäude politisch zu Vacha - und damit zu Thüringen. Um bei der Aufteilung Deutschlands dem Zugriff der Sowjets zuvorzukommen, entschlossen sich die Hoßfelds, den östlichen Gebäudeteil vom westlichen zu trennen, und mauerten den Durchgang zwischen den Gebäudeteilen in der Silvesternacht 1951/1952 einfach zu und brachen eine neue Tür in Richtung "Westen". Nun wies der Ein- und Ausgang wieder nach Philippsthal in Hessen, und damit unterstanden die Hoßfelds den amerikanischen Truppen. Der östliche Gebäudeteil wurde daraufhin enteignet und durfte nicht mehr benutzt werden. Heute noch zeichnet auf der Straße eine weiße Linie den Mauerverlauf nach, wie er auf das Haus der Hoßfeld 'schen Druckerei zulief.


Bis nach Philippsthal muss ich die Werra hinabgehen, um erst dort einen Weg zu finden, der mich die Höhe hinaufbringt. Ja, ich muss mal wieder steigen, einen zweiten Tag Flachetappe kann es ja nicht geben. Erst durch Wohngebiet, dann entlang einer Birkenallee erreiche einen großen Wald, der mich wieder unmittelbar an die Grenze bringt. Jeden Moment erwarte ich meinen Freund, den Kolonnenweg, doch er taucht nicht auf. "Werra-Burgen-Weg" heißt der schöne breite Waldweg, der mich entlang vieler alter Grenzsteine dahintraben lässt. "KP" lese ich immer auf den Steinen, "Königreich Preußen". Moment mal, ich bin im "Königreich Preußen"? Na klar, ich bin hier ja noch auf der hessischen Seite, rechts von mir ist Thüringen. Bei genauem Hinsehen wird es auch klar: Links ein dichter Hochwald, rechts junges Birken- und Kieferngehölz, das Grüne Band, der ehemalige Todesstreifen. Bei der andauernden Grenzhüpferei werde ich noch ganz kirre. Da kann man nur sagen: Wer (Karten) lesen kann, ist klar im Vorteil! Der Kolonnenweg ist auf der anderen Seite des überwachsenen Grenzstreifens, hier kann ich lange auf die Lochplatten warten. Umso besser! Umso zügiger komme ich voran.


Nach einigen Kilometern als Waldläufer, geht es, wenn man seine Unterkunft am Werraufer hat, auch  wieder abwärts. Ich erreiche den Waldrand - und schnappe erstmal wieder nach Luft. Wieder ist die Aussicht umwerfend: weit hinten am Horizont das Werrabergland, davor die Schwemmlandebene der Werra bei Dankmarshausen/Gerstungen/Obersuhl/Berka und links von mir Heringen mit seinem Kalibergwerk und die riesige Kalihalde Monte Kali. Weiß, mit ein paar grauen Schlieren und extrem steilen Flanken. Ein Berg aus purem Steinsalz, so viel Salz, dass man über Jahrhunderte hinweg alle Küchen Deutschlands damit versorgen könnte. Die Kaliwerke sind seit gut 100 Jahren die größten Arbeitgeber in der Region. Ob im hessischen Obersuhl oder im thüringischen Dankmarshausen, hier lebt man nach wie vor von der Kaliförderung, wenn auch die Zahl der Kumpel inzwischen rückläufig ist.


Schnurgeradeaus zieht sich der Wirtschaftsweg nun an blühenden Ginsterbüschen vorbei ins Werratal hinab. Der Himmel ist mittlerweile wieder tiefblau mit vielen kleinen Schäfchenwolken und es ist eine Lust zu gehen. Nach alter Tippelbrudermanier marschiere ich die Landstraße zwischen Heringen und Dippach entlang, überquere dabei mal wieder die Grenze und komme vom Landkreis Hersfeld-Rotenburg (Hessen) in den Wartburgkreis (Thüringen). Noch zwei weitere Kilometer und ich bin in Berka.


Hier wartet eine besondere Unterkunft auf mich. Ich schlafe in einem kleinen Holzhüttchen auf einem Kanu- und Freizeitcamp-Gelände unmittelbar am Werraufer. Fünf dieser kleinen Hütten stehen im Camp, Kanus warten auf Interessenten, ein großer Grillplatz, ein Volleyballplatz, ein Gemeinschaftszelt - und ich habe alles für mich alleine. Kein anderer Gast weit und breit. "Am Wochenende ist immer alles voll", versichert mir der Camp-Besitzer. "Unter der Woche könnte es besser sein. Aber es kommen schon Wanderer oder Radfahrer für eine Übernachtung oder ganze Schulklassen. Seien Sie froh, dass Sie es heute ruhig haben."


Auch mal schön! Ich lege mich ins Gras ans Werraufer, setze mich vor meine Hütte und lese oder lege mich auf die Entspannungsliege und döse in den Nachmittag. Und das Beste ist: Morgen mach ich das nochmal. Ich habe nämlich für zwei Nächte gebucht!


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Kommentare: 2
  • #1

    Der Kronprinz (Mittwoch, 20 Mai 2015 12:04)

    Coole Unterkunft. Dann gute Entspannung...

  • #2

    Inge Geisler (Mittwoch, 20 Mai 2015 19:46)

    Ganz schön komfortabel, Deine diesjährige Wanderung. Und viel gutes Essen. Da bin ich ja mal gespannt, ob es auch diesmal mit der Gewichtsreduktion klappt. Die Adresse der "Windbeutelherstellung" hätte ich mal gerne.