Ganz schön heiß!

Söllingen - Büddenstedt (18 km)


Im ehemaligen "Wartesaal 1. Klasse" des Alten Bahnhofs haben die Gödes ihr Esszimmer. Während die Monteure, die einen Großteil ihrer Gäste ausmachen, ihr jeweiliges Frühstück in der obigen Selbstversorgerküche eigenhändig zubereiten, frühstücken die anderen Gäste, heute eben ich, mit bei Gödes am Tisch. Gespräche bleiben da natürlich nicht aus. Übermorgen erwarten sie zum Beispiel acht Engländerinnen. Damit ist die Zimmer- und Bettenzahl eigentlich ausgereizt. Wohin mit den treuesten Kunden, den Stammgästen, den Monteuren? Die sind damit einverstanden, im Wohnzimmer für die kurze Zeit zusammenzurücken und gemeinschaftlich im großen Wohnzimmer zu schlafen. "Als Gegenleistung haben wir einen schönen Grillabend vereinbart! ", lacht Frau Göde verschmitzt. 


Natürlich ist die Wendezeit auch Thema. "Die Monate nach den Grenzöffnungen waren eine unheimlich euphorische Zeit. Wir sind kaum noch vom Fernseher weggekommen. Auch bei uns im Dorf wurde überall gejubelt, die Freude war riesengroß. Mit unserem Nachbardorf in Sachsen-Anhalt, Ohrsleben, wurde gefeiert. Die Menschen von dort kamen zum Feiern zu uns und wir gingen mit Tschingderassabumm zu ihnen rüber. Drei, vier Jahre ging das, dann wurde es weniger, jetzt passiert gar nichts mehr. Aber wir denken, das ist jetzt ganz normal. Nicht normal fanden wir allerdings damals das Verhalten einiger Leute, die schon nach ein paar Wochen anfingen rumzumaulen: 'Immer dieses Schlangestehen vor den Geschäften! Viele Sachen gibt es gar nicht mehr, wenn man es haben will. Die Zonis kaufen uns alles weg!' Und die Grummelei wurde immer mehr - und lauter." 


Eine Geschichte klingt mysteriös, aber Herr Göde bleibt dabei: "Eines späten Abends in den 80ern, also noch während der DDR-Zeit, näherte sich von Osten her ein Hubschrauber und landete hinter den Bäumen jenseits des Bahnhofs. Wohlgermerkt: auf Westgebiet. Das konnte kein Bundesgrenzschutz-Heli gewesen sein, denn hier herrschte absolutes Flugverbot. Kaum eine Minute nach der Landung stieg der Hubschrauber auch wieder hoch und entschwand zurück Richtung Osten. Die haben da garantiert jemanden abgesetzt oder aufgesammelt! Merkwürdig war auch, dass man von diesem Vorgang nie etwas in der Zeitung gelesen hat. Agentenaustausch, Freilassung von Gefangenen?" Herr Göde zieht fragend Schultern und Augenbrauen hoch.


Auch die Beiden zitiere ich natürlich beim Abschied vor den Fotoapparat. Nette Menschen von schönen Unterkünften will ich in Erinnerung behalten. Da hilft Jahre später mal ein Foto.


Schon als ich losmarschiere ist es ordentlich warm. Mehr als 30°C sollen es heute werden und eigentlich bin ich dafür bereits zu spät dran. Doch schöne und informative Gespräche will ich dafür nicht aufgeben, unter anderem deshalb bin ich ja auf diesem Weg. Dann lieber schwitzen! Und dazu bekomme ich im Laufe des Tages gute Gelegenheit. Ich schwitze ja schon, wenn ich bei 10°C stramm gehe, geschweige denn bei 30. Nur ein beständig leichter Wind macht das Ganze anfangs einigermaßen erträglich. 


Die ersten sechs Kilometer zeigt sich der Kolonnenweg netterweise mal wieder von seiner Schokoladenseite: volle Platte, entlang der Schönauer Aue, einem kleinen Bach, in deren Mitte damals die politische Grenze verlief, fern vom Autoverkehr, wieder mit Hasen, Rehen und Milanen, der Grenzstreifen mit hohem Gras bewachsen, aus dem immer wiedermal bunte Wiesenblumeninseln hervorstechen, Grünes Band "at its best". Als ich Hötensleben näherkomme, treffe ich auf einen Bauern, der den Grenzstreifen mäht, mir fröhlich zuwinkt und den Daumen hochhält. Auch mal wieder schön, auf diesem Wege Anerkennung zu erfahren.


Dann sehe ich, jenseits des gemähten Streifens und jenseits des durch das Mähen erst sichtbar gewordenen Kfz-Sperrgrabens, ein Stück alter Mauer, nur wenige Elemente. Sofort fällt mir aber auf, dass in ihrem Anschluss eine Reihe relativ junger Bäume die Linie des ehemaligen Mauerverlaufs nachzieht und die erst am Beginn des Freilandmuseums Hötensleben endet, an einem weiteren Stück Mauer. Eine Hinweistafel klärt mich auf: Im Rahmen der Spendenaktion "Bäume überwinden Mauer" wurden diese Bäume 2002 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, hochrangigen Bundes-, Landes- und Kommunalpolitikern, Schulen, Parteien, Vereinen, Partnergemeinden und Einzelpersonen eigenhändig gepflanzt. Wenn ich im Gegensatz dazu genau gegenüber einen ehemaligen kleinen Beobachtungsturm auf einem grasbewachsenen Bunker sehe, so ist das schon ein bemerkenswerter Kontrast und rechtfertigt auf jeden Fall die Aktion.


Das Grenzdenkmal in Hötensleben ist ein gepflegter Originalgrenzstreifen, dezent mit erklärenden Schautafeln versehen, eine Art offenes Museum, Tag und Nacht. Das funktioniert anscheinend gut ohne noch einen Zaun um sich herum und ohne Eintrittskarte. Es steht einfach nur da und klettert den Hang hoch, in voller alter Breite: die hohe Mauer "feindwärts", weiß gestrichen, die Kfz-Höcker, wie die spanischen Reiter hießen und die hier den Sperrgraben ersetzten, der geeggte Kontrollstreifen, das ehemalige Minenfeld, jetzt ein gepflegtes Grün, der Zaun unmittelbar bei den Häusern von Hötensleben, dem danach sogar noch eine 350 m lange Sichtblendenmauer dazugegeben wurde, damit die westlichen Mauertouristen von ihrem Beobachtungspodest aus nicht das Dorf einsehen und vor allem die Bewohner auch keinen Blickkontakt aufnehmen konnten. Den Hang krönt natürlich ein Kontrollturm, Marke "Führungsturm". Allein schon die Dimension erdrückt. Trotzdem: Das gepflegte Grün verleiht der Anlage auch etwas Gestaltetes, etwas Golfplatzhaftes. Aber sollte man deswegen auch noch regelmäßig den Kontrollstreifen pflügen, eggen, und mit Herbiziden besprühen müssen, um das Barbarische schön authentisch frisch zu halten?


Hötensleben war hermetisch abgesperrt. Mit der Grenzziehung wurden auf einen Schlag 500 Bürger arbeitslos. Sie verloren ihren Arbeitsplatz beim benachbarten Braunkohlebergwerk. Es kam auch zu Zwangsumsiedlungen. 119 Menschen wurden im Zuge der "Aktion Ungeziefer" weggeschafft. Wie intensiv die Hötenslebener Bürger bespitzelt wurden, macht die Tatsache deutlich, dass es im Ort rund 40 "inoffizielle Mitarbeiter" der Stasi gegeben hat. Hinzu kommt, dass es an der gesamten Grenze, nicht nur in Hötensleben, Hunderte so genannter "Grenzhelfer" aus der Bevölkerung gab, Bürger also, die sich freiwillig dazu hergaben, für diverse berufliche Vorteile und Prämien die Grenzpatrouille zu unterstützen. Allerdings: Auch diese "Freiwilligen" wurden misstrauisch überwacht.


Hier noch drei Informationen von den Schautafeln, die ich ebenfalls für erwähnenswert halte:


Seit 1966 kostete der DDR die Errichtung des Kolonnenweges mit den diversen Plattenarten 185 Millionen Ostmark.


Bis 1981 gab es an der Grenze 773 km lange Kfz-Sperrsysteme (Kfz-Sperrgräben und Kfz-Höcker), allein auf den Sperrgraben entfielen 623 km. Kosten pro Kilometer: 54.300 Ostmark.


Zwischen 1961 und 1987 flüchteten ca. 2.400 Grenztruppenangehörige.


Mitten auf dem Grenzstreifen, oben direkt neben dem Führungsturm, mache ich eine Rast. Entspannend ist sie nicht. Erstens macht mir dieser Ort zu schaffen und zweitens die Sonne. Ohne Schatten ist das heute kaum auszuhalten. Erst, als ich wieder weitergehe und ein Wald mich aufnimmt, wird es besser. Gut, dass es heute nicht so weit geht, die Sonne laugt mich aus, mein Wasservorrat schwindet rapide.


Am Ortseingang von Offleben wechsel ich mal wieder nach Niedersachsen. Direkt an der Grenze an einem Haus ein Gasthaus-Schild: "Gasthaus zur Grenze". Doch die Treppe zur Tür hinauf ist abgerissen, die Tür selbst mit Brettern zugenagelt. Hier erfrischt sich kein Gast mehr. Damals ist man noch zum "Grenzegucken" hierher gekommen, an den Schlagbaum nur wenige Schritte weiter. Jetzt ist mit der Grenze kein Geschäft mehr zu machen.


Für mich ist auch keine Tränke in Sicht. Dafür ein großflächiges Plakat an einer alten Hauswand mit Werbung für Sprudelwasser, das in einer riesigen Flasche perlt - "nordisch, spritzig, frisch". Genau das, was man in dieser Hitze sehen will, wenn in den eigenen Flaschen kaum noch was drin ist - und das ist auch noch warm.


Hinter Offleben verlasse ich das Grüne Band. Eigentlich sollte es heute bis Harbke gehen, aber dort hat der letzte Beherbergungsbetrieb vor einiger Zeit bereits zugemacht. Alternative konnte nur Helmstedt sein. Nur von Harbke (Sachsen-Anhalt) aus fährt kein Bus nach Helmstedt (Niedersachsen). Also nehme ich die Straße von Offleben nach Büddenstedt (Niedersachsen), um von dort mit einem Bus nach Helmstedt zu gelangen. Die Straße ist lang, wird immer länger - und heißer. Beeilen muss ich mich nicht, denn der Bus fährt erst in knapp einer Stunde und in einer Viertelstunde bin ich in Büddenstedt. Aber ich will jetzt was Kaltes trinken, die Flaschen sind leer. Am Platz vor dem Rathaus, dort wo der Bus abfährt, sind zwei Kneipen noch gar nicht geöffnet, nur aus einem Brunnen sprudelt Wasser. Zur Not ... nee, lieber doch nicht. Ich halte nur mal kurz den Kopf drunter. Die Abkühlung ist ganz nett, ersetzt aber das Trinken nicht. Dann sehe ich eine geöffnete Bäckerei, kaufe mir dort ein Teilchen und eine Flasche Wasser aus dem bereitstehenden Kühlschrank, kippe mir das herrlich prickelnde Nass direkt in den Hals und bitte die nette Verkäuferin, mir meine Flasche noch mit Kranwasser zu füllen. So geschieht es. Jetzt ist wieder alles gut. 


In Helmstedt angekommen folge ich meinem Handy-Navi zu meiner angedachten Unterkunft. Die liegt nicht nur elend weit vom Busbahnhof weg - laut einer Digitalanzeige von 34°C ein besonderes Vergnügen - sondern ist für mich dann letztendlich als Pension auch gar nicht zu erkennen. Außerdem bin ich inzwischen in einem ziemlich verranzten Viertel gelandet und bei der angegebenen Adresse steht nur das Wort "Zimmervermietung" auf einem handgeschriebenen Zettel neben dem Klingelknopf. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich überhaupt klingeln soll, tu es dann aber doch. Nichts rührt sich. Nochmal klingeln. Nichts. Fast erleichtert haue ich ab. Wer weiß, was mich hier erwartet hätte. Ein günstiger Preis ist nicht immer alles. Mein Plan ist klar: Du gehst zur Touristeninformation, die sollen sich um ein Zimmer für dich kümmern, dafür sind sie ja u.a. da. 


Ich komme zum Marktplatz, auf dem sich gerade alles auf ein großes "Bierfest" vorbereitet und sehe, fast hinter einem großen Bierpavillon versteckt, die Touri-Info. Verriegelt und verrammelt! Heute ist Freitag und freitags ist ab 13 Uhr geschlossen. Hrrrrghh!!! Mich in der Hitze hinzustellen und per Smartphone nach einer naheliegenden Unterkunft zu suchen, habe ich keine Lust, also beginne ich, in Helmstedt zu kreisen. Nach zwanzig Minuten werde ich glücklicherweise fündig. Für das gleiche Geld hätte ich zwar in der ursprünglich angedachten Unterkunft drei Mal genächtigt, aber ... alles ist gut! 


Abends verpflege ich mich auf dem "Bierfest", aber nur kurz. Bis in die Nacht hinein schallt die Musik vom Marktplatz bis zu mir ins Zimmer. Zumindest das hätte ich in der anderen Unterkunft auch nicht gehabt. Also wieder alles richtig gemacht!


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