Erlesene Verschlafenheit

Brome - Wittingen (25 km)


Es dauert bereits eine halbe Stunde, bis ich von meiner Pension aus Brome durchquert habe. Brome heißt ja nicht nur Brome, sondern "Flecken Brome". Scheint hier in der Gegend eine gängige Bezeichnung zu sein, denn ich sehe seit etwa drei Tagen mehrere "Flecken" auf meinen Wanderkarten. Flecken ist mehr als Dorf, aber auch noch nicht Stadt. Flecken Brome wird zerschnitten von zwei großen, sich kreuzenden Straßen, wie ein Messer, das zweimal durch einen Kuchen fährt. Kein richtiges Zentrum, erst recht keine "Altstadt", nur Häuser, mehr oder weniger alt, mehr oder weniger schön. Das Schönste sind wohl noch die Ohreteiche, an denen ich vorbeikomme, bevor ich auf die alte Straße nach Wendischbrome komme. 


Die Grenze verlief mitten durch die Ohre. Oft müssen Flüsse und Bäche dazu herhalten, Grenze sein zu müssen, Länder und Menschen voneinander abzugrenzen, sie sauber zu trennen. Aber die Ohre war eine dieser kleinen Flüsse, die zu DDR-Zeiten Welten trennte. Jetzt ist sie zwar immer noch Teil der Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen, aber hauptsächlich ein Stück Natur. Sogar der Biber wird hier wieder heimisch.


Bis Wendischbrome geht die alte Kopfsteinpflasterstraße an der Ohre als Eichenallee entlang. Auf einem schmalen Gehsteig reitet eine junge Frau auf ihrem Pferd, das Pflaster wäre ihrem großen Vierbeiner wohl zu unbequem. Kein Auto stört, für lange Zeit höre ich nur das Hufgetrappel vor mir. In Wendischbrome bin ich schon wieder "im Osten", habe unbemerkt erneut die Grenze überschritten. Ich hätte mir notieren sollen, wie oft am Tag ich die Grenze überschreite, ich glaube, es käme was zusammen.


Was in den letzten Tagen zunahm, heute wirds die Regel: Der Kolonnenweg ist weg, die Platte vollständig zugewachsen, abgetragen, weggeschlossen. Die Wanderkarte mag ihn stellenweise noch behaupten. Alles Lüge. Desinformation. Nach Wendischbrome eine Ahornallee, bis Nattgau. Drei Autos, ein Motorrad, mehr nicht. Doch, natürlich mehr: zwei Rehkitze stehen plötzlich neben mir am Straßenrand. Wo ist die Mutter? Die kann doch nicht ihre Kinder hier alleine rumstolzieren lassen. Ich bleibe stehen, will natürlich meine Kamera zücken, das Motiv wäre zu putzig. Doch ich überlege es mir anders, mache lieber, dass ich fortkomme. Rehmütter nehmen Menschengeruch an ihren Kindern übel und ich weiß nicht, ob nicht ein Wanderer besonders intensiv Geruch verbreitet.


In Gladdenstedt die erste Rast, auf einer Bank an einem Kinderspielplatz. Kinderspielplätze sind immer Orte, wo man Bänke zum Rasten findet, genauso wie Bushaltestellen, Friedhöfe, Kirchen. Nichts ist los in Gladdenstedt. Das Größte, was passiert ist, dass ein Traktor durch das Dorf donnert. Zwei Frauen kommen vorbei, schauen verwundert, wer dort in ihrem Dorf rumsitzt. Hier kommt normalerweise niemand vorbei. Trotzdem grüßen sie freundlich, gehen aber schnell weiter. Eine Katze schleicht sich an, bleibt fünf Meter vor mir sitzen, hat mich im Visier, eine Viertelstunde lang, bis ich wieder gehe. 


Der Weg wird weicher, sandiger - schweres Geläuf. Das nächste Dorf: Hanum. Noch weniger los als in Gladdenstedt. Noch nicht mal zwei Frauen, die sich über einen Wanderer wundern und noch nicht mal eine Katze. Der einzige Hinweis, dass hier auch mal was los sein kann: das Feuerwehrhaus neben einem Bach, ungefähr so groß, wie bei uns die Garage eines Einfamilienhauses. Kürzlich muss ein Ernstfall gewesen sein oder eine Übung. Alle Feuerwehrschläuche hängen über dem steinernen Bachbrückengeländer und auch noch gegenüber über dem Maschendrahtzaun des Nachbargartens zum Trocknen. Mein Gott, ist hier noch die Welt in Ordnung!


Hinter Hanum wieder eine uralte, kantig gepflasterte, teils schon versandete Trasse für den Grüne-Band-Wanderer, dem der Kolonnenweg vorenthalten wird. Dann hört selbst das Pflaster auf, ersetzt durch groben Schotter. Was soll das denn jetzt? Ich hasse groben Schotter, der gehört auf den Bahndamm, aber nicht auf einen Wanderweg. Oder hat man hier einen Wanderer gar nicht auf dem Schirm, weil außer Grüne-Band-Wanderer hier niemand wandert? Und die sind schon selten genug.


Nach Wendischbrome, Gladdenstedt und Hanum noch ein Dorf von erlesener Verschlafenheit: Haselhorst. Doch mit einer Bushaltestelle, die ausweislich des aushängenden Fahrplans auch tatsächlich angefahren wird. Jetzt ebenfalls von mir, zu meiner nächsten Rast. Gegenüber im Haus, das zu einem größeren Bauernhof gehört, sind Renovierungsarbeiten im Gang. Das Dach ist schon neu, die Fenster auch. Jetzt ist man wohl beim Innenausbau, die Kreissäge kreischt, der Hammer klopft. Vor dem Haus fliegen die Schwalben hin und her, landen gegenüber auf dem Telefonkabel, twitschern aufgeregt, fliegen wieder fünf Meter, landen wieder, haben mich im Blick. Gilt ihre Aufgeregtheit mir? Sie fliegen auf das Bushäuschen zu, drehen im letzten Moment ab, landen wieder auf dem Telefonkabel. Twitschern, das wie Schimpfen klingt. Was ist denn los? Dann sehe ich es: Zwischen den Dachsparren über mir kleben zwei Schwalbennester. Daher weht der Wind! Ich behindere ihren Einflug ins trauliche Heim. Habe verstanden, ich gehe ja schon! 


Am Ortsende vom nächsten Dorf, Waddekath, entdecke ich tatsächlich nochmal ein paar Lochbetonplatten. Wie ein letzter Versuch des Kolonnenweges. Versteckt führt er ins Gebüsch, wird dann wieder breit, gepflegt, wie abgekauft zu Landwirts Nutzen und Frommen, präsentiert sogar ein Stück Mauer hinter Brombeersträuchern. Ein kleiner Trampelpfad führt "feindwärts" hinter die Büsche, zu einer schwarz-rot-goldenen Grenzsäule und einem spanischen Reiter. Ohne jeden Hinweis - weder am Weg, noch auf der Karte; stehen die da wie vergessen. Wenn einer das Versteck kennt, kann er immer mal hin, zum Zwiegespräch, wenn er mit sich und der Mauer noch was geklärt kriegen will.


Markierungen zum Grünen Band gibt es schon lange nicht mehr. Die Wanderkarte wird mehr denn je zum wichtigsten und notwendigsten Wanderpartner. Wieder geht es über die Grenze. Über Rade komme ich zu meinem heutigen Ziel: Wittingen. Eine Kleinstadt mit Menschen auf den Straßen, mit Autos, Geschäften, Kneipen, Restaurants, einer Eisdiele - und eigenem Bier. Auf letzteres komme ich dann heute Abend zurück.


Kommentar schreiben

Kommentare: 0