Der Elbe mehr Raum

Stiepelse - Boizenburg (15 km)


Beim Frühstück sitze ich mit einem Mann zusammen, der noch was vor sich hat. Er ist vor ein paar Tagen mit dem Zug von Freiburg nach Flensburg gefahren und ist jetzt auf dem Weg mit dem Fahrrad zurück. Dazu nimmt er nicht unbedingt die direkteste Linie, sonst wäre er nicht jetzt in Stiepelse. Im Prinzip folgt er dem Grenzverlauf der ehemaligen innerdeutschen Grenze bis auf die Höhe von Fulda, ohne aber unmittelbar am Grünen Band entlangzufahren. Ab Fulda schwenkt er dann Richtung Südwesten auf seine Heimatstadt zu und will auf seinem Weg viele Flusstäler nutzen. 


Vor mir liegen erstmal noch zwei Tage Elbe. Weiterhin ist es der Elberadweg, weiterhin sind es die Deiche, die meinen Weg bestimmen. Wirklich endlos liegen nach Norden hin die Marschwiesen, und wenn ich dort Bäume sehe, dann sind es diejenigen entlang der Straße, die sich in einiger Entfernung zum Deich parallel entlangzieht, die Deutsche Storchenstraße. 


Selbst menschliche Besiedlungen gibt es heute am Deich kaum. Nur Neu-Bleckede kommt bald hinter Stiepelse und das sind nur wenige Häuser. Und doch bleibe ich einen Moment stehen. Drüben, am anderen Elbufer liegt Bleckede, ein Städtchen, mindestens so groß wie Hitzacker. Neu-Bleckede ist praktisch nichts anderes als die Fähranlegestelle am gegenüberliegenden Ufer. Doch mehr als 45 Jahre setzte diese Fähre nicht mehr über. Jetzt kommt sie gerade wieder mit drei Autos an Bord über den Fluss geschippert. Dafür aber hatte Neu-Bleckede über Jahrzehnte einen Führungsturm, direkt am Deich, direkt an der Stelle, wo es zur Anlegestelle runter geht und von wo aus gleich die Autos hochgefahren kommen, um weiter in die Marschen zu fahren. Was würden dazu die Grenzer sagen, die dort oben auf der Beobachtungskanzel einst ihren "Dienst am Sozialismus" getan haben? Kaum zu begreifen auch, dass dieser Turm nur wenige Meter entfernt von den Häusern am Deich steht. Was musste das für ein Gefühl gewesen sein, unter ständiger Beobachtung zu leben. Mit ihren Ferngläsern konnten die Grenzposten in die Fenster hineinsehen. War es erlaubt, diese immer mit einem Vorhang gegen Einblicke zu schützen? Wie hat man im Garten gearbeitet, wenn man sicher sein konnte, dass jeder Handgriff beobachtet wurde?


Der nächste Deichabschnitt ist noch neuer, als die der letzten drei Tage. Unter dem Eindruck des Jahrhunderthochwassers von 2002, aber auch von Hochwasserständen in den folgenden Jahren, wurden hier ebenfalls unter dem Motto "Der Elbe mehr Raum" die Deiche bis zu 250 m rückverlegt und gleichzeitig erhöht und verstärkt. Eine existentiell wichtige Investition in die Zukunft, denn der Klimawandel ist nicht aufzuhalten. Diese neuen Deiche haben für den Radwanderer (und dadurch natürlich auch für den Wanderer) zwei Auswirkungen. Entweder verläuft der Radweg oben auf der Deichkrone auf wunderbar platter Platte oder er führt "landeinwärts", am Fuße des Deichs, entlang. Warum er nicht durchgehend auf der Krone verläuft, hat sich mir noch nicht so ganz erschlossen. Denn den "Deichverteidigungsweg" unten entlang gibt es sowieso immer. Ich denke mal, man hat sich was dabei gedacht.


Wieder erfreut mich die Tierwelt: Der Hase hoppelt, die Störche schweben heran und lassen sich auf den Wiesen nieder, in Eintracht mit ihren Gevattern, den Reihern, Wildgänseformationen kommen laut schreiend angerauscht und landen wie die Wasserskifahrer auf den im Deichvorland neu geschaffenen Flutrinnen, und Kuhherden liegen träge widerkäuend im Gras und dösen vor sich hin. Jedenfalls solange Radfahrer an ihnen vorbeiziehen. Wenn ich aber mit meinem Wheelie an ihnen vorbeirolle, stehen sie hektisch auf, laufen zusammen - und schauen mich unglaublich blöde an. Was habe ich an mir, das Radler nicht haben? Ist es die rote Farbe meines Anoraks oder die neongelbe meines Wheelie-Regenschutzes? Oder kennen Sie einfach nur die Spezies Mensch, die auf einem Rad mit den Füßen strampelnd an ihnen vorüberzieht? Teilweise verfolgen sie mich sogar etliche Meter und kommen anscheinend aus dem Staunen gar nicht mehr raus.


Kurz vor Gothmann komme ich wieder an eine Grenze, die es vor 25 Jahren so hier nicht gab. Für mich endet die Durchquerung des Amtes Neuhaus und damit des Stücks Niedersachsen und ich wechsel wieder nach Mecklenburg-Vorpommern. Genau dort, an der unmarkierten Grenze, steht ein hoher hölzerner Aussichtsturm. Natürlich klettere ich die Stufen hoch - und bin beeindruckt von dem, was ich sehe. Ungeheuer weit geht mein Blick: Ganz dahinten müsste Stiepelse sein, dazwischen der teils gradlinige, teils geschwungene neue Deich, auf dem ich entlangmarschiert bin, die Marschen, die Flutrinnen, eine Schafherde, die sich auf einer riesigen Marschwiese ausmacht wie ein heller Farbfleck auf grünem Grund und gar nicht mehr so weit, vor den Elbbergen, erkenne ich die blauen Kräne der alten Werft des Hafens von Boizenburg.


Eine Stunde später bin ich da. Am Stadtrand treffe ich auf einen Teich, dessen Zulauf Teil eines Wallgrabensystems ist, das die Altstadt umgibt. Unmittelbar darauf bin ich in der Altstadt, eine heimelige Atmosphäre aus Fachwerk, Backsteingemäuer und Kopfsteinpflaster. Das Rathaus steht frei auf einem großen gepflasterten Marktplatz, sein Fachwerk ist mit Backsteinen ausgemauert, unter den Arkaden der Vorderfront hängen die Waagschalen der Justitia. Im Hintergrund erhebt sich der Backsteinbau der dreischiffigen St.-Marien-Kirche.


Viel ist nicht los im Städtchen. Ab und zu rumpelt ein Auto über den Asphalt, ein älteres Ehepaar sitzt vor der Eisdiele am Marktplatz an einem kleinen Bistrotisch und ein Imker, der bis jetzt seinen Honig auf dem Marktplatz verkauft hat, verstaut gerade seinen Stand in seinem Autoanhänger. In wenigen Minuten habe ich die Altstadt durchkreuzt, erreiche den Hafen. Einst recht geschäftig, verlor er noch zu DDR-Zeiten an Bedeutung, ein Zustand, an dem auch die Wende nichts geändert hat. Nur noch Sportboote machen am Kai fest. 2001 wurde der Hafen aufwendig modernisiert, doch das Hafenbecken wirkt überdimensioniert und man hat den Eindruck als warte es darauf, zu neuem Leben erweckt zu werden.


Direkt am Hafen liegt auch meine kleine Pension. Hier warte ich auf Wolfgang, der irgendwann am Nachmittag auftauchen wird. Ich überbrücke die Zeit mit einem kleinen Schönheitsschlaf und kurz nach 17 Uhr steht er tatsächlich auf der Matte. Ich bin begeistert. Besuch von einem lieben Freund, es werden drei schöne Tage werden. Für mich. Wie Wolfgang als Ungeübter die kommenden Kilometer wegstecken wird, bleibt abzuwarten. Morgen geht es nur über 15 Kilometer bis nach Lauenburg, übermorgen aber sind es 26 Kilometer und das ist schon eine andere Hausnummer. Aber wir werden sehen, bangemachen gilt nicht!


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Kommentare: 1
  • #1

    Hans-Jürgen und Kerstin (Sonntag, 21 Juni 2015 22:25)

    Hallo, Reinhard,

    lesen Deine Berichte jeden Tag, hast ja wieder tolle Begegnungen und Landschaften wie sie Mitten in Deutschland unterschiedlicher nicht sein könnten.
    Viel Spaß mit Wolfgang und bald ab in die Wellen.
    Übrigens haben wir uns gerade das Kindle Buch "Notizen einer Pilgerreise" von Heinz Gottwald herunter geladen, da kommst Du mit Wheelie auch drinnen vor, Ihr seit Euch in San Miniato begegnet. Erst habe ich seinen Abschnitt gelesen und anschließend nochmal Deinen, interesant, wenn man zwei Bücher hat, in welchem je vom anderen Mitpilger berichtet wird.

    Also, viel Spaß noch Euch beiden, buon camino.

    Liebe Grüße aus der Pfalz

    Kerstin und Hans-Jürgen