Wandermotiv: Grenz-Nostalgie

Boizenburg - Lauenburg (15 km)


Wenn ein Freund zu Besuch ist, es viel zu erzählen gibt und in der Bar der Jugendherberge (!) von Lauenburg ein leckeres Bier gezapft wird, dann bleibt keine Zeit zum Bloggen. Meine Beiträge für die Zeit während Wolfgangs Anwesenheit kommen also etwas zeitversetzt.


Einen Frühstücksraum gibt es in der "Pension am Hafen" in Boizenburg nicht, dafür aber "Zimmerservice". Das Tablett, das uns unser Pensionswirt aufs Zimmer bringt, ist reich gefüllt, draußen lacht mal wieder die  Sonne - der Tag fängt gut an. Um 9 Uhr startet für Wolfgang - nach den drei Tagen auf dem Mauerweg in Berlin - der zweite Teil der Selbstprüfung nach dem Motto "Mal sehen, ob ich das schaffe. Wenn es keinen Spaß macht, verliere ich aber vielleicht ein paar Kilo Bauchspeck". Nein, Spaß beiseite, eine große Motivation für ihn, gerade hier nach Boizenburg zu kommen und ein Stück mit mir zu gehen, hat etwas mit Nostalgie zu tun. Mehr als dreißig Jahre lang hat er den deutsch-deutschen Grenzübergang bei Lauenburg/Boizenburg genutzt, nutzen müssen, um nach Siedenbollentin, einem kleinen Ort im tiefsten Meck-Pomm-Land zu gelangen, wo verwandschaftliche Wurzeln von ihm liegen und er seit seiner Kindheit Ferientage verbracht hat. Er will diesen Grenzübergang nochmal sehen, schauen, was von ihm noch übrig ist, sich erinnern, wie das damals war bei den entwürdigenden Kontrollen. Verbunden mit einer einfachen Strecke durch flaches Gelände stellt er sich diese drei Tage als eine schöne Abwechslung vom Alltagsleben im Ruhrgebiet vor. 


Direkt hinter der Pension geht es für ein paar hundert Meter am Hafengelände mit den alten Werftanlagen vorbei. Schiffsbau war einst hier angesagt, besonders für den "großen Bruder" Sowjetunion wurden Fahrgastschiffe gebaut. Im Hafen landeten aber auch Frachtschiffe mit Unmengen an hochwertigem Ton an, der von dort mit einer etwas mehr als zwei Kilometer langen Güterbahn an den östlichen Stadtrand zur Fliesenbabrik gebracht wurde. Boizenburg war die "Stadt der Fliesen", mit einem traditionsreichen Werk, das zu DDR-Zeiten halb Europa mit Keramikfliesen versorgte, vor allem den westlichen Teil, sodass es für die eigene Bevölkerung nicht reichte. Boizenburger Fliesen erster Wahl aufzutreiben, war für Normalbürger ungefähr so kompliziert, wie einen fabrikneuen Trabi vor Ablauf der üblichen Wartezeit zu ergattern, und das waren zwölf bis 14 Jahre.


Hinter Boizenburg marschieren wir anhaltend die Straße bergauf. Jawohl, bergauf! Es geht die Elbberge hoch. Ich war darauf vorbereitet, Wolfgang so gar nicht. Er ging von einer flachen Strecke an der Elbe entlang aus, so wie ich sie während der letzten Tage genießen konnte. Stattdessen wird es "bergig". Als wir an der Straße entlang die Höhe erreichen, sehen wir ein Bauwerk vor uns, das wie ein ehemaliger kleiner, abgebrochener Beobachtungsturm der Grenztruppen aussieht. "Checkpoint Harry" steht drauf. Gegenüber am Straßenrand ein ehemaliges Kontrollgebäude, Fenster vergittert. Neben dem Schild "Checkpoint Harry" der Zusatz "Restaurant", Werbung lockt mit Radeberger Bier. Hier war bis 1989 der "Vorgrenzposten Vier" zur Abfertigung Reisender von und nach Boizenburg. 


In Vier zweigen wir von der Straße ab und gehen wieder Richtung Elbe. Nur die liegt inzwischen tief unter uns. Vom "Elwkieker", einem hölzernen Aussichtsturm, der heute am Standort eines ehemaligen Wachturms am Steilabfall zur Elbe steht, schauen wir auf den Fluss hinab. Ich sehe einen großen Abschnitt meiner Strecke von gestern dort unten liegen, die Deiche links und rechts der ausladenden Elbe, die Marschwiesen, die Häuser von Gothmann und ganz weit hinten die von Stiepelse, ganz viel Niedersachsen, ein wenig Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein.


Dann geht es los! Wie auf einer Achterbahn verläuft unser Waldpfad durch die Elbberge. Hinunter geht es in kleine Schluchten und Siefen, um direkt auf der anderen Seite wieder ordentlich steil bergauf zu gehen. Ich selbst bin überrascht von der Berg- und Talfahrt und fühle mich an beste Kolonnenwegzeiten im südlicheren Teil des Grünen Bandes erinnert. Wolfgang stöhnt, schnauft und schwitzt und wähnt sich im falschen Film. "Ich dachte, hier an der Elbe entlang wäre alles flach. Was ist das denn jetzt? Das macht ja überhaupt keinen Spaß, hier bergab zu laufen, weil es danach sowieso wieder bergauf geht ...!" Er schimpft wie ein Rohrspatz und ich amüsiere mich köstlich. Doch der Schweiß fließt mir genauso wie ihm.


Direkt neben dem Pfad tauchen auf einmal alte Betonpfosten auf, traurige Reste des alten Grenzsignalzauns, der sich hier durch den Wald zog, genauso wie unser Pfad jeder Schlucht und jedem Siefen folgend. Was muss das für die Bautrupps damal eine Schinderei gewesen sein, hier diesen Zaun zu errichten ...


Irgendwann hat die Achterbahnfahrt ein Ende und wir treffen auf ein Stück Kolonnenweg, der uns stetig bergab wieder an die B 5 bringt. Wir haben die Elbberge geschafft und sind wieder auf Höhe der Elbe. Der Straße entlang folgen wir für einen Kilometer einem neu asphaltierten Radweg - und Wolfgang fällt sofort auf: "Genau hier liefen damals immer die Hunde her und links und rechts der Straße war der Zaun."


Wir kommen an die Stelle, wo die B 5 an dem kleinen Ort Horst vorbeiführt. Hier lag der Hauptgrenzdurchgang zwischen Lauenburg (West) und Boizenburg (Ost). Zunächst war er von der Roten Armee bewacht, ab Mai 1952 hatten ihn ostdeutsche Grenzpolizisten übernommen. Danach wurde Schlag auf Schlag die Grenze dichtgemacht, ein Abfertigungsgebäude entstand, der Horster Damm, heute gleichbedeutend mit der Straße bis Boizenburg, wurde beidseitig eingezäunt, Hundelaufanlagen wurden installiert. Bis auf eine große geteerte Fläche ist vom ehemaligen Abfertigungsgelände nichts mehr zu erkennen, doch ich denke, es reicht, Wolfgang noch den einen oder anderen Schauer über den Rücken zu treiben. Wie oft hat er hier mit Teilen seiner Familie im Auto gesessen und war den Schikanen der Grenzer ausgesetzt. Er ist der Meinung, dass man nach der Wende mehr von dieser Anlage hätte zur Erinnerung und Mahnung erhalten sollen. Etwas abseits der Straße steht nur noch die renovierte ehemalige Wohnanlage der Grenztruppen und Stasimitarbeiter von einem hohen Zaun umgeben im Kiefernwald. Heute dient sie als Asylbewerberheim.


Hinter Horst geht es endlich nochmal wieder auf einen Deich, für Wolfgang zum ersten, für mich zum letzten Mal während meiner Tage an der Elbe. Bald schon sehen wir die ersten Gebäude von Lauenburg vor uns, eine große Werfthalle, die große Auto- und Eisenbahnbrücke über die Elbe, eine kleinere über den Elbe-Lübeck-Kanal. Und schneller als gedacht sind wir in der Altstadt unten am Elbufer. Eine enge Straße mit grobem Pflaster, kleine und große Fachwerk-Backsteinhäuser, gepflegt, urig. 


Handel hatte immer Wohlstand in das Elbestädtchen gebracht. Dabei spielte der Salzhandel eine bedeutende Rolle, besonders nachdem die Alte Salzstraße als Haupthandelsroute durch den Elbe-Lübeck-Kanal abgelöst wurde. Doch dann kam die "Zonengrenze" und mit ihr wurden alte menschliche und wirtschaftliche Verbindungen gekappt und die Region Lauenburg bis zum Mauerfall ins wirtschaftliche Abseits geschoben. Lange Zeit war man im toten Winkel der Elbe. Schlecht fürs Geschäft, es fehlte das Hinterland. Dann ging die Grenze auf, alles boomte, expandierte. Doch nach und nach bekamen die Mecklenburger ihre eigenen modernen Läden, und man versank wieder in den Dornröschenschlaf. Bis zur Grenzöffnung bekam man wenigstens Zuschüsse im Rahmen der Zonenrandförderung. Damit war jetzt Schluss. Jetzt setzt man stark auf touristisches Potenzial.


Einiges an Menschen sitzt in den Gastronomien oder spaziert fotografierend durch die enge Elbstraße. Ausflugsschiffe liegen am kleinen Kai und verlassen es Richtung Hitzacker oder Hamburg. Wolfgang und ich lassen uns ebenfalls durch die Altstadt treiben und stehen irgendwann vor der neuen Jugendherberge "Zündholzfabrik", unmittelbar am Elbufer. Gebucht habe ich nur leider in der alten Jugendherberge "Am Sportplatz", etwas außerhalb der Stadt. Wir haben keine Lust mehr, den Weg bis dorthin zu Fuß zurückzulegen und fragen in der "Zündholzfabrik" nach Möglichkeiten, eventuell mit einem Bus dorthin zu gelangen. Doch ganz unerwartet ergibt sich eine viel bessere Alternative. Da beide Jugendherberge über dieselbe Geschäftsführung laufen und hier noch Zimmer frei sind, bucht die nette Dame an der Rezeption um und wir sind unerwartet bereits am Ziel - in einer modernen Jugendherberge, in schönen Zimmern und abends in einer gemütlichen Bar bei einem leckeren Bier. 


Und draußen, an der Herberge vorbei, fließt die Elbe, Hamburg entgegen.


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