Bitte eine Bank!

Lauenburg - Langenlehsten (25 km)


Man muss es einfach sagen: Die Jugendherberge "Zündholzfabrik" in Lauenburg ist einfach eine Top-Adresse: ihre Lage unmittelbar am Rand der Altstadt und am Ufer der Elbe, die schönen Zimmer mit Elbblick, die gemütliche Bar mit angeschlossener Bibliothek und heute Morgen dann das Frühstücksbuffet im freundlich hellen Speiseraum, ebenfalls mit Blick auf die friedlich dahinfließende Elbe. Und die Zeiten, als man noch selbst spülen musste, sind sowieso längst vorbei.


In Anbetracht der heutigen Etappenlänge verschaffen wir uns nach Verlassen der Jugendherberge etwas Erleichterung. Wir durchqueren nicht nochmal, wie bereits gestern, die gesamte Altstadt bis zur Brücke am Elbe-Lübeck-Kanal zu Fuß und verschwenden auf dem sperrigen Kopfsteinpflaster unsere Zeit, sondern nehmen den Bus.


Unmittelbar vor der Kanalbrücke verlassen wir ihn wieder und biegen direkt danach mit einem kräftigen Schwung nach Norden auf meine Zielgerade ein. Eine denkbar lange Zielgerade von etwa 160 Kilometern, aber auch eine unglaublich kurze, betrachtet man die Strecke, die hinter mir liegt. Das Wetter sieht nicht gerade nach einem Sommertag aus, tief hängen die Wolken, als wollten sie sich bald über uns ausschütten, aber noch geben sie Ruhe. 


Ruhe herrscht auch am Elbe-Lübeck-Kanal, dem wir uns auf einem breiten Weg nähern. Bei seiner Einweihung durch Kaiser Wilhelm 1896 war er noch ein hochmoderner Kanal. Immerhin können hier Schiffe von 80 m Länge verkehren, aber für einen wirtschaftlichen Containertransport, wie er heute üblich ist, reicht es nicht mehr. Bis auf kleinere Lastkähne tut sich hier nicht viel. Wolfgang und ich sehen nicht einen einzigen. 


Bei Dalldorf verlassen wir den Kanal und steuern auf einer kleinen Landstraße auf Zweedorf zu. Nach 500 m überqueren wir die durch die Niederung mäandrierende Delvenau, die für einige Kilometer die Grenze darstellte. Ich schaue mich nach dem Kolonnenweg um, auf den wir hier treffen müssten, aber Fehlanzeige. Wenn es ihn noch gibt, dann ist er total zugewachsen. Außerdem ist es mittlerweile passiert: Es hat angefangen zu regnen. Jetzt durch hohes Gras und wir wären bis zu den Knien total durchnässt. Ein Blick auf die Karte. Kein Problem, wir bleiben auf dem Sträßchen, gehen über Zweedorf und Schwanheide, verlassen damit zwar deutlich das Grüne Band, behalten aber trockene Füße und Hosen. Außerdem könnten wir mal eine Bank vertragen, es wäre Pausenzeit.


In Zweedorf kommt schonmal keine Bank. Und nur mit einer Bank wäre es jetzt auch nicht getan. Sie müsste schon überdacht sein. Banksitzen im Regen ist nur suboptimal. Zweedorf hat zwar ein Buswartehäuschen, aber die Bank, die dort montiert war, hat ein böser Mensch auch wieder abmontiert. Also weiter! Kurz vor Schwanheide zweigt ein Weg zurück zum Grünen Band ab. Ich bin unsicher, ob wir den nehmen sollen. Wenn wir dort auf einen immer noch zugewachsenen Kolonnenweg stoßen, haben wir den Salat. Außerdem finden wir dort bestimmt keine Bank, geschweige denn eine trockene in einem Buswartehäuschen. Also weiter auf der Straße! 


Sie ist lang und gerade - und Wolfgangs Schritt wird spürbar langsamer. In Schwanheide, einem größeren Ort, die Hoffnung auf eine trockene Bank. Aber zunächst wieder nichts! Der Regen wird ergiebiger. Am Bahnhof sind wir sicher: An einer Art kleinem Busbahnhof steht ein Holzbauwerk. Das MUSS ein Buswartehäuschen MIT Bank sein. Wir kommen näher und es ist - ein Buswartehäuschen OHNE Bank. Wolfgang freut sich so gar nicht und sucht Schuldige für unser Unglück. Bänke gar nicht erst montiert wegen marodierender Jugendlicher, die sowieso auch schon die Wände beschmiert haben? Kann sein, muss nicht sein. Hilft nix, weiter! Inzwischen sind wir mehr als drei Stunden unterwegs.


Die Straße von Schwanheide in Richtung Langenlehsten geht durch einen Kiefernforst und ist noch länger und noch gerader. Wolfgang vermutet, dass "in 50 Kilometern" kein Ort kommt - und natürlich auch keine Bank. So ganz Recht hat er nicht, aber es zieht sich schon gewaltig. Zumal es keine schön glatt asphaltierte Straße ist, sondern mal wieder ein holpriges Pflaster. Nur gut, dass es links und rechts davon einen glatten Randstreifen gibt, auf dem mein Wheelie rollt. Am besten laufen wir uns in Trance, fahren alle Empfindungen runter, nehmen die Nässe, wie sie kommt, vermeiden jeden Gedanken, lassen die Umwelt verschwimmen und gehen einfach geradeaus. Aber das hebt die Stimmung nicht wirklich. So ziehen wir denn dahin, mäkeln genüsslich über die hiesige Ruhebanksituation und lassen den Regen unwidersprochen auf uns herabrinnen. 


Trotz all dieser Widrigkeiten muss ich aber auch an das Drama denken, was sich nicht weit von hier am 1. Mai 1976 ereignete: Der erst17-jährige systemkritische Michael Gartenschläger war 1961 von der DDR wegen "Propaganda" und "Hetze" zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt, jedoch nach zehn Jahren von der Bundesrepublik freigekauft worden. Unbeirrt in seinem Bemühen, die menschenverachtenden Praktiken der DDR-Führung zu entlarven, hatte er dann vom Westen aus Fluchthilfe betrieben. Im Frühjahr 1976 baute er am Grenzzaun nördlich von Boizenburg zwei Selbstschussanlagen ab, deren Existenz die DDR immer geleugnet hatte. Er legte sie dem SPIEGEL zur Berichterstattung vor, die Stasi, vor allem ihr Chef Erich Mielke, tobte.


In der Nacht zum 1. Mai 1976 machte sich Gartenschläger erneut am Grenzknick zwischen Böthen und Leistenförde zu schaffen, um eine dritte Selbstschussanlage abzubauen. Doch in dieser Nacht lagen Männer einer geheimen Eingreiftruppe der Stasi auf der Lauer, um ihn, den "Provokateur und Staatsfeind" zu liquidieren. Michael Gartenschläger wurde erschossen und als "unbekannte Wasserleiche" beerdigt. Der Knick in der Grenze, nur ein paar hundert Meter von der Straße entfernt, auf der Wolfgang und ich uns gerade entlangmühen, heißt im Gedenken an das Opfer noch heute Gartenschlägereck. Auch wenn ich jetzt nicht am Gedenkkreuz stehe, geht mir diese Geschichte doch wieder nahe. Sie ist wieder kaum fassbar, aber auch nicht auszublenden. So war es jedesmal an solchen Orten, und so ist es jetzt wieder. Es dauert seine Zeit.


Tatsächlich tauchen irgendwann mal Häuser auf, nicht mehr als drei oder vier: Leistenförde. Immer noch Regen, keine Bank, wir sind vier Stunden auf den Füßen. Vor dem Zaun eines Hauses dann eine große Kiste mit Deckel. Auf dem Deckel steht das Wasser, doch Wolfgang WILL JETZT SITZEN. Wir sind gerade dabei, mein Sitzkissen aus meinem Rucksack zu zerren, als sich bei dem Haus die Tür öffnet. "Kann ich Ihnen helfen?", ruft eine Frauenstimme zu uns herüber. Ich registriere neben der Tür unter dem Hausvordach eine Bank und versuche es mit der Jammernummer: "Wir gehen jetzt schon über vier Stunden ohne Pause und finden einfach keine trockene Bank. Jetzt wollen wir uns hier auf die nasse Kiste setzen." Es funktioniert. "Kommen Sie, Sie können sich auch hier auf die Bank setzen." Bingo! Das ist Musik in unseren Ohren! Eine trockene Bank unter einem Vordach mit Sitzkissen. Als dann nach kurzer Zeit sogar noch Kaffee gereicht wird, sind wir mit unserem Schicksal wieder versöhnt.


Nach einer halben Stunde gemütlicher Rast machen wir uns an die letzten vier Restkilometer. Der Regen hat aufgehört, es klart sogar auf. Zaghaft bilden sich Löcher in der Wolkendecke und ab und zu kommt die Sonne durch. Je näher wir Langenlehsten kommen, desto langsamer wird Wolfgang. Er hat genug für heute, wir müssen ankommen. Noch nie hat er solch eine Strecke zu Fuß zurückgelegt, aber die letzten Meter werden jetzt bitter. 


Dann kommt das, was in solchen Situationen oft vorkommt. Langenlehsten ist ein langgezogenes Straßendorf. Die Pension liegt an der Dorfstraße Nummer 22. Nummer 2 ... 6 ... 10 ... 14a ... 14b ... 14c ... das darf doch jetzt nicht wahr sein! ... 16 ... 18a ... 18b ...neiiiin!!! ...20 ...22 ... endlich! Die Unterkunft liegt am Ende des Dorfes. Das letzte Haus! Wolfgang wirft sich auf die Bank neben der Haustür, ich drücke die Klingel. Frau Kohn, die Pensionswirtin, öffnet und schaut irritiert. "Haben Sie gebucht?" Jetzt wird aber der  Hund in der Pfanne verrückt. Dann scheint es der lieben Frau zu dämmern. "Ich glaube, ich habe mich um eine Woche vertan. Aber keine Angst, ich habe ein Zimmer frei. Ich muss nur noch die Betten beziehen." Erleichterung! 


Jetzt muss noch die Verpflegungssituation geklärt werden. Wolfgang hat zwar noch Sauerfleisch vom Abendessen in Lauenburg im Rucksack, aber dazu brauchen wir wenigstens noch Brot. Wir bitten Frau Kohn darum und erhalten sogar ersatzweise eine Packung Kartoffelsalat. "Haben Sie denn auch etwas Bier da?", folgt Wolfgangs hoffnungsvolle Frage. Als Frau Kohn aus ihren letzten Beständen zwei kleine Flaschen hervorkramt, wird das Gesicht von Wolfgang sichtlich länger. Doch dann fügt sich mal wieder alles. Ein nettes Ehepaar, als Dauergast vorübergehend bei Kohns einquartiert, spendiert uns zum Kartoffelsalat jeweils zwei Bratwürste, die man uns sogar noch brät, und als der Mann des Paares sich noch bereiterklärt, mit Wolfgang ins zehn Kilometer entfernte Büchen zu fahren, um ein wenig Flüssignahrung zu besorgen, ist für Wolfgang die Welt wieder absolut in Ordnung. Sein härtester Wandertag hat ein glückliches Ende gefunden.


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Kommentare: 1
  • #1

    Lore (Mittwoch, 24 Juni 2015 21:40)

    Da hat Euch aber der Jakobus zu lange zappeln lassen, so jeht datt nitt!!