Ansichten eines Anglers

Zarrentin - Mustin (28 km)


Als ich beim Frühstück erscheine - ich gehe jetzt auch durch die Küche - , sind die Monteure schon alle weg. Kalter Rauch hängt noch in der Luft, aber immerhin brauche ich keinen frischen einzuatmen. Das Frühstücksangebot ist überaus reichlich. Wer den ganzen Tag arbeiten muss wie die Monteure, der braucht auch richtig was hinter die Kiemen. Und sowas ähnliches wie arbeiten tue ich ja auch.


Die Sonne scheint noch, als ich die Gaststätte Steffen verlasse und durch den alten Teil von Zarrentin zum Schaalsee hinuntergehe. Die Grenze verlief, wie heute die Landesgrenze auch, genau durch die Länge des Sees. Dadurch war "der Luftkurort vor den Toren Hamburgs", wie sich in den 30er-Jahren Zarrentin selbst bezeichnete, zu DDR-Zeiten völlig abgeschnitten. Die Stadt lag im Sperrgebiet. Alle uralten Verbindungswege zum benachbarten Mölln, Ratzeburg oder Lauenburg waren unterbrochen, Landstraßen gesperrt oder durch Kontollposten besetzt, Eisenbahnlinien aufgehoben oder abgebaut. Reisende überkam bei der mechanisch kalten Abfertigung am Grenzübergang Gudow - Zarrentin auf der nahegelegenen Transitautobahn Hamburg - Berlin eisiges Schaudern. Vor allem nach dem Mauerbau 1961 war Zarrentin vollkommen isoliert. Eine Kette gleißender 2000-Watt-Lampen tauchte nachts Zarrentins Hinterland in schmerzhaft grelles Licht. Natürlich war auch der Badebetrieb verboten. Erst nach der Wende blühte der Ort wieder auf.


Auf einem schönen Uferweg gehe ich am Schaalsee entlang, der glatt wie ein Spiegel daliegt. Boote liegen an kleinen Stegen, bunte Häuschen auf Pfählen ("Pahlhüser") stehen daneben, Schwanenpaare mit ihren Jungen ziehen an mir vorbei. Auf der Liegewiese des Seefreibads ist natürlich noch nichts los, und ich glaube, so schnell wird sich daran heute auch nichts ändern. Zum einen habe ich noch vorhin im Ort eine Digitalanzeige mit 13°C gesehen, zum anderen verdeckt gerade eine dunkle Wolkenwand die Sonne und wird ihr wohl so bald keinen Vortritt mehr gewähren.


Gletscher der Weichseleiszeit haben vor fast 120.000 Jahren die Grund- und Endmoränenlandschaft zwischen Ratzeburg und Zarrentin modelliert. Beim Abtauen spülte ihr Schmelzwasser Löcher und Rinnen aus und veränderte das von der Gletscherzunge geformte Land noch einmal. So auch das Bett des Schaalsees mit seinen Buchten und Inseln. Aufgereiht wie die Perlen einer Kette ziehen sich Schaalsee und Goldensee, Lankower See und Mechower See von Zarrentin bis nach Ratzeburg. Zu DDR-Zeiten patrouillierten Tag und Nacht Boote der Grenztruppen auf dem Wasser. Die östliche Uferseite war Sperrgebiet, außer den Grenzern kam keiner hin. Die Natur blieb nahezu unberührt. Es wuchs, was wuchs, und starb, was starb, niemand griff ein, regulierte oder beseitigte irgendwas. Und so sieht es auch heute noch aus, fast wie im Dschungel. Im Jahr 2000 erfuhr die vier Jahrzehnte lang "weggeschlossene" Landschaft am Schaalsee internationale Aufwertung als UNESCO-Biosphärenreservat. 


Ich tauche ein in diese Wildnis, laufe eine Weile und komme an einen Bootssteg, der weit in den See hinausragt. Auf dem Steg steht ein Angler, mir zugewandt, als hätte er gewartet, dass ich komme. Sein Gesicht strahlt mir entgegen, so dass ich gar nicht vorbeikann, ohne nach seinem Fang zu fragen. Erst sagt er nichts, schaut nur hinunter auf den Boden und strahlt noch mehr. Vor seinen Gummistiefeln liegt ein kapitaler Hecht. Dann verkündet er: "Zehn Pfund bringt der auf die Waage, mindestens." Und ich höre seinen Stolz. "Das war vielleicht ein Kampf! Über hundert Meter Schnur musste ich ihm geben. Eine halbe Stunde hat es gedauert, bis ich den Burschen endlich aus dem Wasser kriegte."


Er legt den Hecht wie einen Schatz in einen großen Eimer und geht dann mit ihm und seinen Angelutensilien zu einer Bank ans Ufer, setzt sich hin und stopft sich eine Pfeife. Ich frage ihn, ob ich mich einen Moment zu ihm setzen dürfe und ohne eine Antwort zu geben, rutscht er auf der Bank etwas zur Seite. Wir kommen ins Gespräch, wie das war damals, hier an der Grenze. Irgendwann sind wir bei den Grenzern.


"Die Grenztruppen waren hier Teil des Gemeinschaftslebens", erinnert er sich. "Sie hatten Patenschaftsverträge mit Schulen und Kindergärten, und Vertreter der Grenztruppen saßen im Stadtparlament. Man lebte miteinander und die bei der Ein- und Ausreise nach Zarrentin geforderten Formalien empfanden die meisten Bürger nicht als starke Einschränkung. Wir hatten uns daran gewöhnt. Aber dass Freunde, Verwandte und andere DDR-Bürger nur mit einem lange im Voraus zu beantragenden Passierschein einreisen durften, dass Familien praktisch auseinandergerissen wurden, war schon schmerzlich."


Er blickt sehr nachdenklich und nichts ist mehr zu sehen von der Freude über seinen gefangenen Hecht. "Diese Zeit hatte hässliche, aber auch menschlich schöne Seiten. Wir machten das Beste aus unserem Leben; einer war für den anderen da, man half sich gegenseitig und man feierte gemeinsam. Wir hatten Organisationen, die sich für das kulturelle Leben einsetzten, und unser Schulsystem war gut. Sicher", räumte er ein, "immer war Politik im Spiel, aber der Unterricht selbst bewegte sich auf hohem Niveau. Glauben Sie mir, ich war Lehrer."


Und dann sagt er fast kämpferisch: "Wir haben hier gearbeitet und unser Leben gestaltet. Wir lassen uns unsere Vergangenheit nicht nehmen." Mit etwas düsterem Gesichtsausdruck schaut er über den See und ich habe das Gefühl, ich sollte jetzt gehen. Ich verabschiede mich, lasse ihn mit seinen Gedanken zurück und mache mir meine eigenen. Als ich mich nach einiger Zeit nochmal rumdrehe, sitzt er immer noch auf seiner Bank und rührt sich nicht.


Nach ein paar Kilometern auf einem Radweg und anschließendem Abzweig auf einen Wirtschaftsweg, führt mich mein Weg auf eine kleine Anhöhe, auf der das kleine Dorf Techin liegt. Zu DDR-Zeiten verlief der Grenzzaun unmittelbar hinter den Häusern. Um den Zustand der Häuser stand es nach vier Jahrzehnten Grenze nicht sonderlich gut. Nach der Wende wurden sie von Grund auf saniert, mit Reet gedeckt und von einem Investor zu Ferienhäusern ausgebaut. Ein romantisches "Dörfchen" für Städter. Aber warum nicht? Immer noch besser als der vollkommene Verfall.


Um mich herum wird es dunkel. Nicht nur weil die Wolken über mir inzwischen tiefgrau sind und mich immer mal wieder mit etwas Nieselregen benetzen, sondern auch weil der Waldpfad, auf dem ich kurz nach Techin unterwegs bin, immer mehr von einem Dschungelpfad annimmt. Mit Ranken und Efeu bewachsene Bäume stehen dicht an dicht, einige sind auch umgefallen und strecken ihre Wurzeln in die Luft. Sumpfwasser steht neben dem Trail und schickt mir die Mücken in Scharen auf den Hals. Bevor sie mich ganz auffressen, führt ein Hohlweg mich hoch nach Lassahn.


Bis 1945 gehörte das Dorf, wie einige Nachbardörfer auch, zum Herzogtum Lauenburg. Danach aber fiel es am 26. November 1945 im Rahmen einer englisch-russischen Grenzbegradigung an die Sowjetische Besatzungszone. Eine dramatische Evakuierungsaktion folgte. Den Einwohnern, die erst am 14. November von dem bevorstehenden Gebietstausch erfuhren, wurde freigestellt, in den "Westen" zu gehen. Doch die Umsiedlung musste bis zum 28. November abgeschlossen sein. Die große Mehrheit der Lassahner entschloss sich, die Heimat zu verlassen, nur 14 Familien blieben. Bereits am 16. November begann man damit, das Vieh und landwirtschaftliche Gerätschaften abzutransportieren. Die Fischerboote wurden ans westliche Ufer gebracht. Alle Lassahner wurden mit der Fähre ans westliche Ufer bei Groß Zecher übergesetzt. Die Bevölkerung in den lauenburgischen Grenzorten wuchs beträchtlich, die Gebiete östlich des Schaalsees waren nahezu entvölkert. Später zogen sudetendeutsche Flüchtlinge in die ausgeplünderten und teilweise zerstörten Häuser ein.


Mittlerweile hat sich Lassahn wieder herausgemacht. Das schönste Gebäude ist die Dorfkirche St. Abundus. Sie steht, von einer Feldsteinmauer umgeben, hoch über dem Ufer des Schaalsees und ist teils aus Feldsteinen gebaut (1250), teils als Fachwerk gefügt (17./18. Jahrhundert).


Von Lassahn bis Kneese ist wieder die Landstraße mein Revier. Ulkig sieht sie aus: Dem Gelände angepasst läuft sie wie aufeinanderfolgende Wellen vor sich hin. Ein Motorradfahrer, der mich überholt, schein auf ihr entlangzusurfen, verschwindet im Wellental, um wenig später wieder, anscheinend mühelos, auf den Wellenberg emporgetragen zu werden, rauf, runter, rauf, runter ...


Für Kneese verspricht mir der Wanderführer ein Café, nach zwanzig bisher absolvierten Kilometern eine verdiente Belohnung. Doch dann die Ernüchterung: "Wir haben den Café-Betrieb eingestellt. Wir danken für Ihr Verständnis!" Es ist ja nicht das erste Mal, das ich eine erhoffte Raststelle verschlossen vorfinde, aus den verschiedensten Gründen. Dann eben nicht!


Acht Kilometer noch! Bei Dutzow umkurve ich den Dutzower See, die nördlichste Ausbuchtung des Schaalsees. Auch Dutzow hatte unter seiner Lage unmittelbar an der Demarkationslinie schwer gelitten. Familien wurden zwangsausgesiedelt, Häuser abgerissen. Nur wenige alte Häuser stehen noch, der Rest ist neueren Datums. 


Nach 28 Kilometern, mit nur einer Unterbrechung relativ am Anfang der Etappe, komme ich um 14.30 Uhr in Mustin an. Und siehe da: Ganz im Gegensatz zu einer gewohnten Wandergesetzmäßigkeit liegt meine Unterkunft heute am Anfang des Ortes. Eine schöne Herberge: "Landgasthof am kleinen See", neu, gemütlich, eine freundliche Wirtin. Draußen zieht gerade verstärkter Regen auf. Ist mir jetzt herzlich egal!


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Kommentare: 1
  • #1

    inge.geisler (Donnerstag, 25 Juni 2015 07:27)

    Schade. Noch vier Etappen, dann geht die Reise zu Ende. Dann muss ich beim Frühstück wohl wieder vorrangig die Zeitung lesen. Gerade wo am 30.6. mein letzter Arbeitstag ist. Da hätte ich die beste Zeit beim Frühstück. Es hat wieder Spass gemacht in Gedanken mitzugehen. (Denk an das versprochene "Gelati").
    Viel Spass noch auf Deiner Zielgeraden.
    Gruß Inge