Langsam dem Ende entgegen

Mustin - Ratzeburg (24 km)


Als ich beim Frühstück sitze und auf den Kleinen See von Mustin hinausblicke, wird mir auf einmal bewusst, dass die vergangene Nacht die letzte war, die ich in einer Unterkunft der Kategorie Gasthof/Pension/Privatzimmer zugebracht habe. Die letzten werden Jugendherbergen und ein Naturfreundehaus sein. Allerdings habe ich auch dort Einzelzimmer gebucht, denn in meinem Alter steht man immer mehr auf das, was man wohl "Privatsphäre" nennt. 


Schon in den letzten Tagen kam das Gefühl immer mehr hoch, jetzt ist es voll da: der Zwiespalt von Freude und Wehmut. Nur vier Wandertage liegen noch vor mir, wohl keine hundert Kilometer mehr. Mein kleines Abenteuer Grünes Band geht dem Ende entgegen. Keine körperliche Anstrengung mehr, keine brennenden Füße, keine Auseinandersetzung mehr mit der jüngeren deutschen Geschichte und mit menschlichen Schicksalen, keine wechselnden Landschaften, kein Blick mehr auf die Wettervorhersage, keine freudigen oder weniger freudigen Überraschungen mehr bei den Unterkünften, kein Kolonnenweg, kein Grenzmuseum, keine Wachtürme. Keine Gespräche mehr mit Menschen, die an dieser Grenze damals lebten und es heute immer noch tun. Keine Beklemmung, keine Betroffenheit, keine Wut mehr über das , was damals "im Namen der Arbeiter und Bauern" hier geschah, vielleicht nur noch Verblüffung und Freude darüber, wie die Natur über all die Schändlichkeiten wieder ihren Mantel deckt.


Doch ich spüre auch Freude. Freude auf meine Lieben daheim, Freude auf meine Enkelkinder, von denen ich das jüngste noch nie auf dem Arm hatte, Freude darauf, mit meiner Theatergruppe bald wieder arbeiten zu können, die Zeitungen von zweieinhalb Monaten zu lesen, mit meiner Wandergruppe bald wieder loszuziehen, aus diesem Blog vielleicht wieder ein Buch zu machen oder mich einfach nur zurückzulehnen, um mit Hilfe meiner niedergeschriebenen Erinnerungen und den aufgenommenen Fotos alles nochmal Revue passieren zu lassen. Doch erstmal muss ich überhaupt ankommen.


Meine Unterkunft in Mustin liegt etwas abseits vom ehemaligen Grenzverlauf und ich muss erstmal wieder zu ihm zurück. Von einem Moränenhügel sehe ich das Wasser des Lankower Sees zu mir heraufblinken. Sein West- bzw. Südufer markieren die mecklenburgisch - schleswig-holsteinische Grenze, der Kolonnenweg verlief aber am Ostufer. Der Grenzzaun führte jedoch direkt durch den See hindurch und schnitt den größten Seitenarm ab. Um das bewerkstelligen zu können, hatten sich die Grenzkommandos der DDR etwas Besonderes ausgedacht. Vom Grenzstreifen zog man eine Reihe Streckmetallgitterplatten quer über den See, wobei die Zaunelemente in der Mitte der Seestrecke in das Wasser eintauchten. Damit nicht genug: Oberhalb und unterhalb des Metallgitters hatte man eine Rolle Stacheldraht gezogen, wobei die untere Rolle bis zu den Ufern hin tief in das Wasser eintauchte. Eine perfekte Sperre, die gleich einer Pontonbrücke durch Schwimmelemente stabilisiert wurde. 


Am Nordufer des Lankower Sees lag Lankow. "Auch dieses 800 Jahre alte Dorf musste weichen, weil es zu dicht an der Grenze lag und sich nicht lückenlos hätte überwachen lassen können", erzählt mir später eine Mitarbeiterin des Grenzmuseums in Schlagsdorf. "Nichts blieb von dem Dorf übrig. Bis auf die Reste ehemaliger Bauerngärten, in denen im Mai oder Juni noch Pfingstrosen und Gartenlupinen blühen." 

Am Südufer des Mechower Sees treffe ich wieder auf den Kolonnenweg. Fast verschämt taucht er neben der Straße, die es damals gar nicht mehr gab, aus hohem Grasbewuchs auf und stößt auf Asphalt. Als wolle sich die Straße ihm in den Weg stellen. 


Von Schlagbrügge gehe ich die Straße nach Schlagsdorf, einem Dorf im ehemaligen Sperrgebiet, fast malerisch auf einem Hügel oberhalb des Muchower Sees gelegen. Ein Ort mit uralter Geschichte, der gesichtslos wurde, nicht mehr zu existieren schien, als der Sicherheitsgürtel im innersten Grenzbereich immer dichter wurde. Das erste, was mir in den Blick fällt, sind die Kästen der ehemaligen Kasernengebäude, heute zu einer Wohnanlage "aufgehübscht". Wächter und Bewachte lebten in unmittelbarer Nachbarschaft. Wenn die Schlagsdorfer Alarm hörten und die Grenzer mit ihren Fahrzeugen in größter Hast ausrückten, wussten sie, dass es mal wieder jemand versucht hat.


Wie es sich für ein altes Dorf gehört, steht unweit der Kirche die alte Dorfschule. Inzwischen ist das Schulgebäude zum "Grenzhus" umfunktioniert worden, einem Museum zur Erinnerung an das Leben vor 1989. Einen Moment überlege ich mir, ob ich reingehen soll, denn ich habe schon einige von ihnen gesehen. Dann tue ich es doch - und bin froh darüber. Sehr eindrucksvoll, prägnant und nicht überladen, schildert das Museum mit Fotos, Interview- und Quellentexten das Leben der Menschen an der Grenze zwischen Schnackenburg, Lauenburg und Lübeck, berichtet von Zwangsaussiedlungen, Grenzabsicherungen, gelungenen oder gescheiterten Fluchtversuchen und von den Tagen des euphorischen Glücks nach der Maueröffnung in Berlin und den darauf folgenden Grenzöffnungen überall hier in der Region. Ich sehe Fotos von Örtlichkeiten entlang der nördlichen Grenze, die ich selbst auf meinem Weg gesehen habe. Fotos aus schlimmen Zeiten, die diese friedlichen Bilder, die ich im Kopf habe, verblassen lassen. Ich lese von Fluchten, die genau dort versucht und oft gescheitert sind, wo ich nichtsahnend und vielleicht singend oder pfeifend entlanggezogen bin. Als ich nach mehr als einer Stunde das Museum verlasse, kann ich nicht sofort weitergehen. Im Museumscafé, in dem ich der einzige Gast bin, trinke ich einen Kaffee, muss tief durchatmen, versuche den Kopf wieder aufzuräumen, ihn wieder frei zu machen von dieser verdammten Grenze hier. 


Doch sie lässt mich nicht los: Auf den nächsten Kilometern treffe ich immer wieder auf Hinweistafeln, dort, wo der Hinterlandzaun den Weg kreuzte, wo der Beobachtungsturm stand, wo ein Fluchtversuch gelang, wo der Hauptzaun verlief, wo von einem Holzturm aus der Blick über den ganzen Mechower See geht, an dessen Ostufer der Hauptzaun ein kaum zu überwindendes Hindernis darstellte, wo eine Eisenschiene quer über dem Schotterweg liegt und damit zeigt, wo die politische Grenze war und heute zwischen zwei Bundesländern immer noch ist. Für heute ist's genug!


Die Grenze verlässt am Nordende des Mechower Sees meinen Weg und strebt auf das Ostufer des Ratzeburger Sees zu. Morgen werde ich dort wieder auf sie stoßen. Ich marschiere weiter in Richtung auf die Stadt, die dem See seinen Namen gab: Ratzeburg. Mechow bleibt hinter mir zurück, dann Bäk. Durch das Kupfermühlental erreiche ich das Ufer des Sees, sehe drüben auf der Stadtinsel den Dom auf einer kleinen Anhöhe aufragen, daneben steht das Herrenhaus der Mecklenburger Herzöge. Über den Königsdamm komme ich in den alten Stadtbezirk, laufe auf den Dom zu, werfe einen Blick hinein. Viel Geschichte liegt rechts und links am Weg, viel gäbe es zu erzählen, doch dies ist kein Touristen-Stadtführer. Ratzeburg ist nur eine der letzten Etappenziele meiner Wanderung auf dem Grünen Band Deutschland und nicht Ziel einer Städtetour.


An der Ruderakademie vorbei erreiche ich die neue Ratzeburger Jugendherberge, direkt am Ufer des Sees. Ein Schulorchester absolviert gerade eine Probenwoche. Wie ich so höre, sind die Proben auch bitter nötig, denn der Beatles-Song "Let it be" klingt noch etwas schräg. Ein 7. Schuljahr tobt draußen am See herum und drei Jungs versuchen gerade, sich unter Anfeuerung von etwa zehn Mädchen von einer Holzplattform ins Wasser zu schubsen. Die abseits stehende Pädagogin ist verzweifelt und zetert und der daneben stehende Pädagoge grinst nur und telefoniert über sein Handy mit seiner Frau. Am Abend wird draußen gegrillt, der Lärm ist beträchtlich, alle haben gute Laune, nur in einer Ecke sitzt ein Mädchen inmitten einer Traube von Klassenkameradinnen und heult. Wahrscheinlich Liebeskummer oder Heimweh. Bei einer kleinen Rangelei landet ein Teller mit Würstchen und Katoffelsalat auf dem Boden und der aufgetragene Ketchup flattert durch die Luft. - Ich freue mich, Pensionär zu sein!


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Kommentare: 1
  • #1

    C.Langel (Sonntag, 28 Juni 2015 11:08)

    Kann ich verstehen, vor ca. 27 Jahren waren sie der Lehrer ...ich hab noch lebhafte Erinnerungen an diese letzte Klassenfahrt nach Ratzeburg...