Auf dem "Amazonas des Nordens"

Ratzeburg - Rothenhusen (10 km) - Lübeck


Es ist angenem ruhig beim Frühstück, obwohl genauso viel Menschen im Speisesaal sitzen wie gestern beim abendlichen Grillessen. So gut wie alle Kids kämpfen noch gegen ihre Müdigkeit an. Ein Jugendherbergsaufenthalt ist eben keine Kindererholungsmaßnahme. Als ich mein schmutziges Geschirr in die Spülküche bringe, sitzen die meisten noch an ihrer ersten Brötchenhälfte oder haben sicherheitshalber noch gar nicht mit kauen angefangen. Frühstück wird eben von Erwachsenen überbewertet.


Der heutige Tag wird irgendwie ganz anders: eine Mischform aus Wanderung und Bootspartie. Und dennoch so hart an der ehemaligen Grenze wie selten in den letzten Tagen. In aller Gemütsruhe schlendere ich zum Schiffsanleger an der Schlosswiese. Um 10 Uhr legt von dort ein Rundfahrtboot zum Bootshaus Rothenhusen am Nordende des Ratzeburger Sees ab. Auch mein Grünes Band berührt diesen Punkt, aber bis dahin mitfahren will ich nicht. Ja was denn nun? Also: Das Boot soll mich über die Römnitzer Enge direkt zum ehemaligen kleinen Fischerdorf Römnitz bringen und mir damit die zeitraubende nochmalige Umrundung des Domsees, praktisch einer Ausbuchtung des Großen Sees, ersparen. Die Strecke kenne ich von gestern, muss ich also nicht nochmal haben. So geschieht es dann auch und ich bin mit dem ersten Teil des Tages zufrieden. 


An der Anlegestelle in Römnitz wartet schon eine Frau auf das Boot, dreißig Meter dahinter steht ein junger Mann mit einer kleinen Gruppe behinderter Kinder. Als das Boot anlegt, bekomme ich ungewollt die kurze Unterhaltung der Frau, wahrscheinlich der Chefbetreuerin der Kindergruppe, mit dem Bootskapitän mit. Sie seien zufällig hier vorbeigekommen und hätten das Boot ankommen sehen. Die Kinder würden nun sooooo gerne eine Bootsfahrt bis Rothenhusen machen, aber sie wisse nicht, ob das Geld reicht. Ich verzögere meinen Schritt, will wissen, was da jetzt bei rauskommt, während die Kinder bei ihrem männlichen Betreuer vor Aufregung und Gespanntheit mit ihren Körpern hin und her wiegen und mit weit aufgerissenen Augen herüberschauen. Für einen Gruppentarif reiche es bei der geringen Anzahl von Kindern noch nicht, aber eine Begleitperson wäre frei. Den geforderten Betrag verstehe ich nicht genau, nur die resignierte Stimme der Betreuerin: "Schade, dann haben wir zehn Euro zu wenig! Na dann ... vielleicht beim nächstenmal ...!" Das darf doch jetzt nicht wahr sein! Zwei Euro fehlen jedem Kind zur Erfüllung eines sehnlichen Wunsches. Ich rufe zum Kapitän hinüber, ob man in diesem Fall nicht mal eine Ausnahme machen könne. Er zuckt nur mit den Schultern. "Das dürfen wir gar nicht erst anfangen. Sowas spricht sich rum." - "Na und?", erwidere ich. "Vielleicht gibt das ja 'ne gute Presse für ihr Unternehmen." Der Bootslenker schüttelt nur mit dem Kopf. Die Kinder haben an der Körpersprache ihrer Betreuerin mittlerweile wohl gemerkt, dass anscheinend nichts aus ihrer schönen Schiffsfahrt wird und haben bereits abgedreht. Ich kann das jetzt nicht so stehen lassen. Ich greife in meine Hosentasche, krame zehn Euro raus und drücke sie dem Kapitän in die Hand. "Und jetzt lassen Sie die Kinder bitte an Bord gehen! ", sage ich und meine Stimme zittert vor Erregung ein wenig. Drei Ehepaare hinter mir, die offensichtich miteinander bekannt oder befreundet sind, hatten wohl die gleichen Gedanken wie ich und inzwischen Geld gesammelt. Jetzt gehen sie zur Betreuerin, drücken ihr ebenfalls Geld in die Hand und sagen: "Und von diesem Geld kaufen Sie bitte jedem Kind im Fährhaus Rothenhusen ein Eis!" Die Frau bedankt sich überschwänglich bei uns allen und winkt zu ihren Kindern hinüber. Ich weiß nicht, ob die Kinder genau mitbekommen haben, was da vor sich ging, aber als sie an mir vorbeistürmen, haben alle ein großes Glänzen in den Augen. 


Die zehn Kilometer lange Strecke am Ostufer des Ratzeburger Sees entlang ist einfach nur schön. Ein Hochwald nimmt mich auf, der See blitzt nur selten durch die Büsche. Der Weg steigt an, senkt sich wieder, immer im Wechsel. Das Ausflugslokal Kalkhütte erscheint, sieht aber geschlossen aus. Ist es noch zu früh oder Ruhetag oder hat es den Betrieb ganz eingestellt? Der Waldpfad mündet auf einen asphaltierten Forstweg, wieder rauf, runter. Fast am Ufer des Sees dann der Moment, wo die ehemalige Grenze ebenfalls auf den See trifft und von nun an am Fuß seines Steilufers entlangläuft. Der Zaun verlief oben, kein DDR-Bürger konnte den See sehen, geschweige denn drin schwimmen. Die Menschen der nun folgenden kleinen Dörfer Campow und Utecht mussten zum Baden weit ins Landesinnere, dabei lagen die schönsten Badestellen nur wenige hundert Meter entfernt. 


Hinter Campow dann eine Begegnung der besonderen Art: Auf einer etwas höher gelegenen Wiese stolziert ein Nandu, genauer gesagt, eine Nandu-Mutter, denn um ihre Füße herum tummeln sich fünf bis sechs Küken. Heißen die jungen Nandus so? Küken? Die sind doch in jungen Jahren schon größer als die größten Hühner. Wenn ich nicht gelesen hätte, dass hier Nandus rumlaufen, würde ich jetzt grübeln: Hat hier einer 'ne Straußenzucht? Irgendwie sieht ein Strauß aber anders aus ... Und außerdem läuft dieser Nicht-Strauß doch frei rum ... Aber ich weiß Bescheid: Nandus, deren Heimat eigentlich die Pampa in Argentinien, Uruguay und Brasilien ist, dürften die seltenste Großtierart sein, die hierzulande in freier Wildbahn herumläuft. Und das auch nur, weil vor Jahren einige Nandupärchen, die auf einer Farm in Groß Grönau, einem Dorf südlich von Lübeck, gehalten wurden, nach Mecklenburg rübergemacht haben. Dabei sind sie murmaßlich durch die Wakenitz gewatet oder geschwommen, denn fliegen können Nandus nicht. Dort haben sie Familien gegründet, sind inzwischen zu hundertst, und jetzt mischen sie als geschützte Natur das Naturschutzgebiet auf. Balzende Nanduhähne haben immerhin schon Gallowaykälber in Panik versetzt und den Hund des wandernden Dokumentarfilmers Andreas Kieling fast zu Tode gehetzt. Eine Bejagung ist nicht erlaubt, das verbietet das Bundesnaturschutzgesetz. Ganz zu schweigen vom Artenschutzabkommen. Wenn nun aber dieser eingewanderte geschützte Neubürger sich an der ebenfalls geschützten blauflügeligen Ödlandschrecke vergreift, weil er in der Brutzeit einfach mehr Eiweiß braucht? Dann haben wir den Salat. Deutschland uneinig Einwanderland.


Nach Campow kommt Utecht, nach Utecht Rothenhusen. Rothenhusen ist das alte Fährhaus, das auf einer kleinen Insel an der Nordspitze des Ratzeburger Sees liegt. Hier drehen die Ausflugsschiffe von Ratzeburg, bevor sie wieder zu der Domstadt auf der Insel zurückfahren, hier starten aber auch die kleinen Boote der Wakenitz-Schifffahrt des alten Familienunternehmens Quandt. Fast zwei Stunden benötigen sie, um von hier ihre Fahrgäste bis Lübeck zu bringen. Das gönne ich mir!


Nach meiner Ankunft am Fährhaus reicht es so gerade zu einem Kaffee auf der Außenterrasse des Fährhaus-Restaurants, als das Motorschiff "Melanie" an der Anlegestelle festmacht. Zunächst bin ich der einzige Fahrgast. Mag sein, dass unterwegs an den zwei Stationen noch weitere zusteigen. "Willkommen an Bord zu einer Fahrt auf dem 'Amazonas des Nordens'!" So begrüßt mich Raimund Quandt, der bereits seit fast 40 Jahren im Kielwasser seines Vaters Manfred auf der Wakenitz schippert. Den Begriff des "Amazonas des Nordens" hatte vor Jahren ein Lübecker Journalist geprägt. "Seitdem sitzt der Name und steht auch auf meinem Flyer", sagt der Kapitän. Ganz so mächtig wie der südamerikanische Strom sei die knapp 15 km lange Wakenitz zwar nicht, räumt er schmunzelnd ein, doch die Artenvielfalt könne sich auch hier sehen lassen. 


Raimund Quandt berichtet von Schwänen, Eisvögeln, Zwergtauchern, Löffelenten, dem Wachtelkönig und dem Fischadlerpaar. Auch Fischotter seien am Fluss wieder zu Hause. Am Anfang ist die Wakenitz noch so schmal, dass die Erlenkronen und Weiden sie wie einen Baldachin beschirmen. "Sagte ich's nicht ..." - der Kapitän blickt stolz über "seinen" Fluss, "... wie auf dem Amazonas ...!" Lauschig und romantisch geht es weiter. Schilf wiegt hin und her, Graugänse und Enten schwimmen zwischen Seerosen, ein versteinerter Graureiher wartet geduldig auf einen leichtsinnigen Frosch.


"Die Wakenitz war Grenzfluss. Früher sah man auf der gegenüberliegenden Seite Schilder mit der Aufschrift 'Halt! Hier Grenze!' Dort stand auch ein schwarz-rot-goldener Betonpfahl mit DDR-Emblem." Die Grenze entlang der Wakenitz war eine flexible Grenze. Sie führte am Ostufer entlang, der aktuelle Wasserstand markierte den genauen Verlauf. "Auf dem Wasser selbst konnten wir uns mit unseren Booten frei bewegen. Es gab allerdings immer mal den ein oder anderen vorwitzigen Paddler, der meinte, 'drüben' ein Päuschen einlegen zu können. Mancher wachte dann am nächsten Morgen in einem DDR-Gefängnis auf, wo er bei einer sechswöchigen 'Kartoffelschäl-Kur' über die 'Grenzverletzung' nachdenken konnte."


Beim Restaurant Absalonshorst legen wir an, andere Gäste steigen zu, ebenfalls beim Restaurant Müggenbusch. Die Wakenitz ist inzwischen breiter geworden, immer wieder liegen jetzt auch Wiesen am Ufer, Kleingärten, feudale Grundstücke mit stattlichen Kaufmanns- und Senatorenvillen. Dann ist die Lübecker Moltkebrücke erreicht, das Ziel meiner Fahrt auf dem "Amazonas des Nordens". 


Mitten in der Altstadt Lübecks, nicht weit von der Marienkirche, dem Rathaus und dem Buddenbrookhaus, liegt eine der zwei Lübecker Jugendherbergen, meine Unterkunft für heute. Auch nicht weit weg vom Hauptbahnhof. Und da muss ich morgen früh hin. Ein Zug bringt mich dann wieder ans Grüne Band, vor die Tore Lübecks. Noch ein Tag bis zur Ostsee!




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Kommentare: 2
  • #1

    Renate (Samstag, 27 Juni 2015 11:24)

    Ich hätte am Bootsanleger genauso reagiert und das Geld zusammengesucht!
    Gut gemacht!
    Und deine Gedanken zur Tiereinwanderung haben mal wieder zum Schmunzeln gebracht.
    LG
    Renate

  • #2

    Lore (Samstag, 27 Juni 2015 20:30)

    Ach, Renate, wir waren schon immer gedanklich nah beieinander. Jetzt wollte ich sinngemäß gerade das Gleiche schreiben wie Du.
    Übrigens in Lübeck waren wir mit Reinhard auch schon.
    Ich wünsche Dir, Reinhard, einen angenehmen Endspurt und eine gute Rückreise und uns allen bald ein gesundes Wiedersehen.
    Grüße von Lore