Ostsee erreicht!

Lübeck / Herrnburg - Priwall (32 km)


Ich muss ans Grüne Band zurück, raus aus dem Gewühl von Lübeck. Dazu muss ich zum Hauptbahnhof, der glücklicherweise nicht weit von der Altstadt-Jugendherberge entfernt ist. In den Straßen ist es noch relativ ruhig. Heute ist Samstag. Selbst im Bahnhofsgebäude geht es noch relativ entspannt zu. Für meinen Wheelie muss ich mal wieder eine Fahrrad-Gebühr bezahlen. Stinkt mir ein wenig. Die Ostsee-Urlauberin, die vollbepackt in Travemünde aus dem Zug steigt, musste bestimmt auch nichts für ihren Monster-Trollee zusätzlich bezahlen. Und der hat auch Räder ...!


Mein Zugziel ist aber nicht Travemünde, sondern Herrnburg, der erste Ort südöstlich von Lübeck in Mecklenburg-Vorpommern. Hier ist es wieder grün. Aber nicht mehr so grün, wie noch auf meiner Wanderkarte dargestellt, denn inzwischen haben neue Wohngebiete Wald und Wiesen vereinnahmt und ich stehe wegmäßig kurzfristig auf dem Schlauch. Kommt ja gut, denke ich mir, bei einem verspäteten Abmarsch und mehr als 30 Kilometern vor der Brust genau richtig. Doch Google-Maps ist wieder mein Freund und schickt mich zügig auf den rechten Weg. 


Die Bezeichnung "Pahlinger Heide" ließ es schon vermuten: Kiefernforste und Sandwege. Ich gehe hart am Rand, wo der Sand nicht ganz so weich ist und komme einigermaßen gut voran. Schnurgerade verläuft mal wieder der Weg, ohne viel Kurven immer nach Osten. Ab Palingen habe ich dann die Chance, weitere Sandwege zu vermeiden. Konsequenz: eine Landstraße, Problem: Null. Es rollt und das ist heute die Hauptsache. Nach zwei Stunden Weg erreiche ich Selmsdorf. Beim Feuerwehrhaus ist Feststimmung. Alle Feuerwehrzüge, die Alten und die Jungen, stehen stramm in Reih' und Glied und lauschen den Worten des Bürgermeisters, der ohne Punkt und Komma die Einsätze des letzten Jahres herunterbetet und zum Dank dafür einen neuen Einsatzwagen präsentiert. Alle sind begeistert, ein Tusch der Feuerwehrkapelle, alle Einwohner von Selmsdorf klatschen, nur den Kindern ist das herzlich egal, sie toben auf der Hüpfburg. Immerhin habe ich Unterhaltung bei meiner Rast. 


Dann die erwartete Prüfung für Körper und Geist: Acht Kilometer B 105 liegen vor mir, auf der Karte mit leichten Schlenkern, gefühlt stur geradeaus. Mein Wanderführer empfiehlt sogar, dieses Stück auszulassen und die Distanz lieber mit einem Bus (und das auch noch mit einem Umweg) zu überbrücken. Aber das geht ja wohl gar nicht! Wer auf der großen Ausfallstraße "Cassia" nach Rom hineinmarschiert ist, den kann doch wohl so eine Straße in Mecklenburg-Vorpommern nicht kratzen. Aber es wird wirklich nicht ganz einfach: Die Straße entpuppt sich zwar als eine Allee, die dem schwitzenden Wanderer bei der heutigen schwül-warmen Sonnenbestrahlung etwas Schatten bietet, aber die Leitplanken nerven. Die sind ohne Unterbrechung über Kilometer hinweg durchgezogen, um den Baumbestand der alten Allee zu schützen. Oder die Fahrer vor den Bäumen. Jedenfalls nicht den Grüne-Band-Wanderer vor den Fahrern. Solange sich nicht zwei Autos auf meiner Höhe begegnen, geht es ja, wenn aber doch, wird es eng. Doch ich habe meine Erfahrungen mit diesen Situationen und bin recht entspannt. 


Bald sehe ich links den Dassower See vor mir liegen, der mit seinem Ufer immer näher an die Straße heranrückt. Als er sie fast berührt, steht da ein alter Wachturm, einer von den dicken Viereckigen, ein früherer Führungsturm. Mit dickem, rotem Pinselstrich ist auf seine Wand ein Herz gemalt. Ein "P" liebt seine "E". Auf der Tür ein resolutes "Nie wieder". Mit beidem kann ich leben. Doch wie konnten die Menschen, nur ein paar Kilometer von der Großstadt Lübeck entfernt, mit dieser Grenze leben? Jeder Eigenwilligkeit der Uferlinie folgten Zaun und Kolonnenweg. Alles war Sperrgebiet, in das man nur mit Passierschein kam. Das Südufer des Dessower Sees war ein vergessenes, aber peinlichst kontrolliertes Land.


Dann endlich Dassow. Dassow war ebenfalls Sperrgebiet, der Dassower See war Bundesrepublik, das Ufer die Grenze. Vor dem Mauerbau in Berlin durften auch die Dassower Kinder noch im See baden, obwohl die Grenzlinie der Hochwasserlinie entsprach und bei niedrigerem Wasserstand ein Küstenstreifen zur BRD gehörte. Da durften auch noch drei Fischkutter durch Westwasser in die Ostsee fahren. Dann war das vorbei. Die drei Fischkutter wurden auf Tiefladern nach Wismar verbracht, bevor da ein Fischer jemand in den Westen geschleust hätte; und zwischen Haustür und See wurde auch in Dessow eine Mauer hochgezogen. Wer in den 60er-Jahren aufwuchs, der hatte den See nicht gesehen. Der kam hier auch nicht ans Meer, das die Touristen heute in zehn Minuten erreichen. 


Wo heute der Penny-Markt steht, zog damals die Mauer von Dessow weg und ans Ufer des Dessower Sees. Wo ich also kalte Getränke einkaufe, weil die Schwüle des Tages meine Flüssigvorräte schnell hat schwinden lassen, war damals meist höchste Alarmstufe verordnet, denn immer wieder versuchten DDR-Bürger über den Dessower See zu flüchten. 


Von einem dieser Fluchtversuche lese ich in der Nähe der wenigen Häuser des fast vollständig geschleiften Dorfes Volksdorf, dem letzten Dorf, bevor ich den Priwall erreiche: Von der anderen Seite des Dessower Sees schafft es ein junger Mann, den Zaun am Ufer zu überwinden. Er will durch den See Richtung Travemünde schwimmen. Er schafft es, in den See zu gelangen, und schwimmt zu der kleinen vorgelagerten Insel Buchhorst. Hier entdecken ihn die Grenzer eines nahegelegenen Wachtturms und nehmen ihn unter Feuer. Vollkommen in Panik schwimmt er orientierungslos weiter und gelangt, meist tauchend, schließlich vollkommen erschöpft zu einem aus dem Wasser ragenden Stein nahe am nördlichen Ufer des Sees zwischen den Dörfern Benckendorf und Volkstorf. Auf dem Stein sich erholend, wird er von Grenztruppen auf einem Wachtturm bei Volkstorf in Visier genommen. Bald peitschen Schüsse über den See. Fischer aus Lübeck, die im See ihrem Beruf nachgehen, haben inzwischen die Schüsse gehört, eilen zu dem Flüchtenden und geben ihm mit ihren Booten Schutz, bis ein Schiff des BGS auftaucht und den Flüchtling aufnimmt.


Wolken haben sich zusammengebraut, es donnert, starker Wind kommt auf und eine kurze Schauer geht nieder, vor der ich mich unter hohen Büschen in Sicherheit bringe. Eine Viertelstunde dauert das Ganze, dann ist die Schwüle weg, in kürzester Zeit wie weggeblasen. Wie ein Zeichen für mich, jetzt mit Volldampf die letzten Kilometer anzugehen. Ich renne nochmal durch die Kornfelder, bestaune weite Flächen mit Mohnblumen und sehe und rieche Kamille. Ich sehe die mächtige "Bettenburg" von Travemünde über einem Wald emporragen und etwas abwärts der Trave die dicken Pötte der Skandinavienfähren. Nochmal ein Stück Wald direkt am Ufer der Pötenitzer Wiek, die genau wie der Dessower See nichts anderes ist wie ein Teilstück der Lübecker Bucht, die nur durch das angeschwemmte Küstenmaterial des Priwalls fast zu selbstständigen Binnengewässern geworden sind. Auch hier zog sich der Zaun entlang, der Kolonnenweg. Im Wald nochmal Grünes Band pur: Alles schießt mächtig ins Kraut, Gras hüfthoch, Brombeeren, Brennnesseln, dschungelartig, dicht, vor allem grün - ein schöner Abschied. Dann plötzlich die Landstraße, die mich nochmal für 500 Meter aufnimmt.


Es kribbelt im Bauch. Immer wieder denke ich: Jetzt muss die Kurve der Straße doch kommen, wo du nur noch 150 m geradeaus zu gehen brauchst und dann bist du da, bist angekommen an der Ostsee. Auf einer kleinen Radweg-Markierung neben der Straße hat jemand "DDR - unser Vaterland" geschrieben. Komisch, das gerade jetzt in diesem Moment zu lesen. Dann bin ich endlich an der Kurve, und tatsächlich, direkt dort beginnt ein Bohlengang. Gleich dahinter die Düne. Das Wellenrauschen höre ich schon. Die letzten Schritte. So langsam wie noch nie.


Wie wird es sein? Ein Triumphzug! Kaiserwetter, Möwenlachen, Frühsommerglück. Die letzten Meter am Strand sind festlich geschmückt, Girlanden, Birkengrün mit bunten Bändern. Fähnchen schwenkende Schulkinder und Vivat rufende Landfrauen in Festtagstracht stehen Spalier. Feuerwehrkapellen schmettern Begrüßungsfanfaren, und Bürgermeister der umliegenden Gemeinden und Städte stehen zu Ansprachen bereit. Würste wälzen sich im Fett, Fässer fiebern ihrem Anstich entgegen, Lavendel liegt in der Luft, daneben Sekt und Fischbrötchen. Und jedermann erwartet ein Fest. So etwa hatte ich mir das vorgestellt.


Quatsch! In Wahrheit: Schritt für Schritt gehe ich auf dem Bohlenweg vor, ganz allein, wie auf den allermeisten Kilometern zuvor. So will ich es. Und dann ... Wo die Priwall-Halbinsel am schmalsten ist. Wo eine einfach und engmaschig gestrickte Wochenendhaussiedlung direkt an das Naturschutzgebiet anschließt. Wo bis 1990 Ost-Grenzer auf West-Nackte stießen. Wo seit 1226 ein Lübecker Strand Mecklenburg berührt. Wo im Westen die zugebaute Ferienküste Ostholsteins liegt, und im Osten nichts, nichts als Naturstrand, Bäume bis ans Wasser, bis Boltenhagen segensreiche Leere. Wo ein Bohlengang die letzten Meter durch die Dünen führt - da geht das Meer auf. Ich bin angekommen. Mir ist ein wenig zum Heulen.


Es ist schon relativ spät. Bis auf ein junges Ehepaar mit Kind ist niemand mehr da. Sie kommen gerade an mir vorbei, wollen auf dem Bohlengang zurück zu ihrem Auto. Ich bitte sie, ein Foto von mir zu machen. Wie hätte sonst dieser Moment dokumentiert werden sollen? Sie tun es gerne und gehen. Ich bin alleine am Strand. So wollte ich es. So passt es im Moment zu mir. Das Naturfreundehaus kann noch etwas warten. Ich setze mich in den Sand und bin zufrieden.


Kommentar schreiben

Kommentare: 4
  • #1

    Rolf (Sonntag, 28 Juni 2015 15:01)

    Glückwunsch Reinhard,
    Ziel erreicht...... der Weg ist das Ziel ;-)
    Ich werde die regelmäßige Morgenlektüre vermissen. Danke.
    Bis bald.
    Gruß
    Rolf

  • #2

    Renate (Sonntag, 28 Juni 2015 18:34)

    Lieber Reinhard,

    herzlichen Glückwunsch! Angekommen!
    Auch ich werde die tägliche Lektüre vermissen.
    Vielleicht bekommst du ja Birkengrün und bunte Fähnchen, wenn du wieder in Helpenstell einläufst - auf dem Weg zu deinem Enkel.... ich wünsche es dir :)

    Liebe Grüße
    Renate

  • #3

    Peter und Lore (Sonntag, 28 Juni 2015 21:49)

    Hallo Reinhard,
    es müsste Dir in den Ohren geklingelt haben, wir haben heute öfter von Dir gesprochen.
    Wir gratulieren zum vollendeten Weg! Danke für die so anschaulich geschriebenen Berichte, die wir auf jeden Fall sehr vermissen werden.
    Alles Gute - tschüss bis August!
    Peter und Lore

  • #4

    Der Kronprinz (Donnerstag, 06 August 2015 16:22)

    Sehr geil!!!!!