Bonus-Strecke

Priwall - Boltenhagen (26 km)


Mein Weg auf dem Grünen Band ist zu Ende - und doch nicht so ganz. Am Priwall traf seinerzeit zwar der Grenzstreifen auf die Ostseeküste, aber damit war der Zaun noch nicht zu Ende. Aus Sorge, Menschen könnten noch versuchen, nach Travemünde oder zu den Schifffahrtsrouten der Skandinavienfähren zu schwimmen, wurde ein 20 Kilometer langer Abschnitt vom Priwall über die Kliffs und Strände des Klützer Winkels bis kurz vor das Seebad Boltenhagen ebenfalls mit einem Grenzzaun abgeriegelt. Die Orte zwischen Travemünde und Boltenhagen waren also vom Strand abgeschnitten und dementsprechend ruhig war es an der Küste. Während östlich und westlich die touristische Entwicklung - je nach systemeigener Ausformung - die Strände förmlich überrollte, entstand hier ein Natur-Refugium. Und weil ich dies alles ebenfalls sehen will, gehört für mich die Etappe Priwall - Boltenhagen noch ausdrücklich mit zu meiner Grenzwanderung.


Beim Frühstück dann ein kleiner Schrecken: Carola, die Bewirtschafterin des Naturfreundehauses, teilt mir trocken mit, dass der Bus von Boltenhagen bis Pötenitz, den ich mir im Internet als perfekte Rückfahrgelegenheit ausgeguckt hatte, seit November letzten Jahres gar nicht mehr führe. Peng! Und jetzt? Wie komme ich nach 26 Kilometern Wanderung wieder zurück auf den Priwall? Zurückgehen? Ha,ha! Taxi? Mal eben so mindestens 50 Euro dafür abdrücken? Nochmal: Ha, ha! Ganz auf die Etappe verzichten? Nix, kommt gar nicht in die Tüte! Ich habe mich so auf diese Küstenwanderung gefreut. Auch wenn ich sie mit meiner Wandergruppe im Rahmen unserer Ostseewanderung schon einmal gegangen bin bzw. gerade weil ich sie schon mal gegangen bin und weiß wie schön sie ist, will ich das nochmal haben. Also werde ich mich an den Straßenrand stellen und den Daumen hochhalten, wie in alten Zeiten. Ich bin sicher, es wird sich mal wieder alles fügen und gehe los.


Nach Verlassen des Naturfreundehauses gehe ich so, wie ich gestern gekommen bin - nur ohne Wheelie. Schnurgerade führt die Mecklenburger Landstraße über den Priwall. Früher endete sie direkt hinter dem Campingplatz, der auch zum Naturfreunde-Gelände gehört, heute steht dort ein Schild "Mecklenburg-Vorpommer" und ein Gedenkstein mit der Aufschrift "Nie wieder geteilt - 3. Februar 1990" (Tag der Grenzöffnung). Direkt vor dem Stein verlief früher der westdeutsche Grenzweg zum Strand, heute heißt er "Waldweg". 


Ein paar Meter weiter zweigt in der Straßenkurve der Bohlengang zum Strand ab, den ich gestern, bei meinen letzten Metern zur Ostsee, so emotional aufgekratzt gegangen bin. Genau an seinem Beginn stand der Beobachtungsturm der Grenzwächter, der in den freudigen Tagen der Grenzöffnung zum Schnellimbiss umfunktioniert worden war. Heute ist von ihm nichts mehr zu sehen. Nur eine Stele steht dort, auf der ich u.a. folgendes lese: "Seit dem Mauerbau 1961 wagten über 5.600 Menschen eine Flucht über die Seegrenze. Mehr als 4.500 scheiterten und wurden inhaftiert. 900 waren erfolgreich, 174 kamen ums Leben. Am 3. Februar 1990 öffneten Grenzer das Tor am Strand."


Der heutige Teil des schön asphaltierten Radweges bis Steinbeck ist nichts anderes als der frühere Kolonnenweg. Ich glaube, dass kaum einer von denen, die hier entlangradeln, davon wissen. Dort, wo der Zaun damals endete, hört heute auch der offizielle Radweg auf. Schade nur, dass man auf dem Radweg nicht viel von der Ostsee sieht, denn ein schmaler Waldstreifen zwischen Steilküste und Weg versperrt die Sicht. Wer aber ans Wasser will, kann das immer wieder tun. Obwohl der gesamte Küstenstreifen unter strengstem Naturschutz steht, zweigen immer wieder Strandzugänge ab. Den zweiten nehme ich direkt, ich will ans Wasser.


Herrlich ist es da, Naturstrand eben. Sand und Steine, Baumwurzeln und Felsblöcke, gestrandete glattgeschliffene Baumstämme und von Menschen aus Ästen und Zweigen gebaute "Strandhütten", Muscheln und Krebse, Algen und Möwen, Schwäne und anderes Vogelgetier. Ein großer Trupp Uferschwalben schwirrt mir auf einmal um den Kopf herum. Nach einer lang gezogenen Schleife über der See kehrt der Schwarm zum Kliff zurück. Jetzt sehe ich die Eingänge zu den Nisthöhlen, die die Schwalben in die senkrechte Wand gegraben haben. Einige verschwinden in den Röhren, die meisten docken nur kurz an und drehen eine weitere Runde. Menschen vielleicht zehn pro gelaufenen Kilometer: Spaziergänger, Bernsteinsammler, Sonnenanbeter, Nackte. Auf der See kreuzen Segelboote und riesige Fähren steuern auf Finnland und Schweden zu. Doch die Sonne saugt mir - trotz Hut - so langsam das Gehirn aus. 


Nach 15 Kilometern "Strandspaziergang" gehe ich hoch auf den Radweg, der immer mal wieder ein Stück im Schatten verläuft. Dort bin ich als einziger fußläufig unterwegs. Fast ängstlich dränge ich mich an den Rand, denn sie kommen von vorne und von hinten: Die vollbepackten Tourenradler, die Hightech-Sportraser, die Tagesausflügler mit den Leihrädern und die Seniorenriege auf ihren E-Bikes. Viele bestaunen mich wie einen Außerirdischen: Zu Fuß geht hier auch? Ist ja irre! 


Die Strandläufer wissen die sportliche Leistung der Radler gar nicht zu schätzen. Da die Landschaft hier in Küstennähe sehr hügelig ist (und bei den Klippen nahezu senkrecht zur See hin abstürzt), gleicht der Radweg einer Achterbahn. So mancher hat damit wohl nicht gerechnet, denn ich sehe hochrote Gesichter und höre kräftiges Keuchen.


Diesen Umstand haben sich zwei Frauen am Ortsrand von Steinbeck, dort wo der offizielle Radweg endet, zu Nutze gemacht und direkt am Endpunkt des Radweges einen Imbiss aufgebaut. Kaum ein Radler fährt vorbei - und ein Wanderer hält auch an. Die zwei Frauen sind bester Laune und lassen die Finger fliegen. Das Naturschutzgebiet endet genau hier, da ja auch der Grenzzaun hier unten am Strand endete. In einem Naturschutzgebiet wäre solch ein Imbiss nicht genehmigungsfähig, doch so sind die Frauen zwei von den Gewinnerinnen der wiedererlangten Einheit.


Nach einer Frikadelle mit Kartoffelsalat und einer eiskalten Apfelschorle nehme ich die letzten fünf Kilometer meiner diesjährigen Wanderreise in Angriff. Der Weg wird für den Wanderer schöner, für den Radler schwieriger. Nur noch als schmaler Pfad zieht er sich nun am Rand der goldgelben Getreidefelder dahin, die bis unmittelbar an die Abbruchkante der Steilküste heranreichen. Gräser und Brennnesseln überwuchern teilweise den Pfad und erfreuen die Radler in ihren kurzen Hosen oder im kurzen Rock. Wenn die Pedalritter mir entgegenkommen, muss ich großmütig sein. Für sie gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder sie fahren gefährlich nahe an der senkrecht abfallenden Wand oder durchs Korn. Für mich trifft zwar im Prinzip dasselbe zu, aber ich bewege mich nicht auf einem wackeligen Zweirad, sondern auf zwei stabilen Füßen. Also gehe ich ins Korn und werde von dankbaren Radlern gefeiert. Sehr gerne, meine Herrschaften!


Nach einer Stunde bin ich in Boltenhagen. Erinnerungen werden wach: Etwa zehn Jahre müssten es her sein, dass ich mit meiner Wandergruppe hier durchgezogen bin. Noch zwei Jahre vorher war ich mit meinen zwei Jüngsten, Julian und Yannik, hier. Meck-Pomm-Rundreise mit Baden in der Ostsee. Beim ersten Bad im Boltenhagener Ostseewasser machte Klein-Yannik Bekanntschaft mit harmlosen kleinen Quallen. Seitdem gab es nur noch eine Rundreise OHNE Baden in der Ostsee.


In Boltenhagen ist der Teufel los. Gar nicht mal am Strand, das Wasser ist wohl noch nicht badetauglich. Aber an der Seebrücke, im Kurpark, in den Cafés, vor den Softeis-Ständen, in den Läden, die trotz Sonntag geöffnet haben, überall drängen sich die Menschen. Hier kriege ich Platzangst! Raus hier, das ist nichts für mich. Erst recht nicht nach den vielen einsamen Tagen auf meinem Weg. Außerdem will ich jetzt wissen, ob das mit der Rückfahrt klappt.


Auf der Karte habe ich mittlerweile gesehen, wie ich mich wohl Richtung Priwall zurücktasten muss. Dabei ist wohl nicht der kürzeste Weg der schnellste, sondern der, der am meisten Verkehr hat. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich schaffe es, drei Autos zu stoppen, die mich nacheinander über Klütz, Dassow und Pötenitz meinem Ziel Priwall näher bringen. Der letzte Fahrer, ein Hamburger, der als Ruheständler nun in Pötenitz lebt, lädt mich sogar noch zu Kaffee und Kuchen zu sich nach Hause ein, wo ich mich im Kreise seiner Großfamilie zur Sonntagsnachmittagsattraktion mausere. Nach einem netten Plauderstündchen auf der Terrasse bringt er mich sogar noch bis zum Naturfreundehaus, genau pünktlich zum Abendessen. Wer sagt's denn! 


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Kommentare: 1
  • #1

    Renate (Montag, 29 Juni 2015 07:39)

    Auch auf der Bonusstrecke wieder alles richtig gemacht!
    Einschließlich der Kaffeerunde - ihr zwei Ruheständler :)

    LG
    Renate