Zum Schluss ...

"Was ist 1393 Kilometer lang, 'liegt rum' - wie kleine Kinder sagen würden - und ist die meiste Zeit grün? Die Antwort auf meine Frage liegt nahe: Es ist das Grüne Band." So begann eine SPD-Abgeordnete in der Bundestagssitzung vom 17. Dezember 2004 ihre Rede. Und sie fuhr fort: "Wir kennen es noch als den unmenschlichen Grenzstreifen zwischen Ost und West, den Todesstreifen, der lebensgefährlich war und deutsche Familien und Freunde trennte. Es ist Teil unserer deutschen Geschichte; schon deshalb gebührt ihm eine besondere Beachtung ... Es muss erhalten werden als Mahnmal; das ist das eine. Aber es sollte auch erhalten werden, weil es eine einmalige, unwiederbringliche Chance für den Natur- und Artenschutz in Deutschland bietet."


Ich habe diesem Grünen Band in Deutschland - und mit ihm der ehemaligen innerdeutschen Grenze - Beachtung geschenkt: mit großem Interesse an seiner Geschichte, mit viel Freude an seiner Natur, mit besonderer Betroffenheit für die Schicksale der Menschen, die damals an und mit dieser Grenze leben und in vielen Fällen auch ihr Leben lassen mussten, und mit viel, viel Schweiß und brennenden Füßen, die es mich gekostet hat, um dieses Grüne Band, diese Grenze für mich zu entdecken.


Ich bin berührt von dieser Reise. Sie ist mir Erinnerung und Mahnung zugleich. Bei vielen Wanderungen zuvor hatte ich gelernt, bestimmte Dinge auszublenden, loszulassen. Gedanken flogen vorbei, aber sie beschäftigten mich nicht oder "verfolgten" mich gar. Diesmal war das irgendwie anders. Jeden Tag war es ein Wechselbad: die Freude über einzigartige Landschaften, ihre Tier- und Pflanzenwelt, nette Begegnungen oder lustige Situationen auf der einen und die ständige Auseinandersetzung mit den immer noch sichtbaren oder auch unterschwelligen Resten jener Grenze, die über 40 Jahre hinweg Menschen in Angst versetzte, auseinanderriss oder sogar tötete; meine Fassungslosigkeit und sehr oft auch aufsteigende Wut über ein System, das zum Scheitern verurteilt war, aber seinen Bürgern die Freiheit nahm, selbst zu entscheiden, ob sie in diesem System leben wollten oder nicht. 


Der damals bekannte Bürgerrechtler Pastor Schorlemmer sagte mal: "Mit dem Mauerbau lebte die große Mehrheit in der DDR gebückt. Das Widersprechen und Widerstehen wurde zu einem viel höheren Risiko, weil man sich dem Staat nicht mehr entziehen konnte. Die Schizophrenie hat nach dem Mauerbau zugenommen: Wer etwas werden wollte, passte sich ein und führte eine Art Doppelexistenz. Allabendlich begingen die DDR-Bürger Republikflucht, indem sie Westradio hörten und später Westfernsehen sahen. Ansonsten funktionierten sie im Lügensystem, um zu überleben". Diese Sätze fassen sehr treffend zusammen, was mir viele Menschen von ihrem Leben in der damaligen DDR erzählten. Und sie erzählten mir von den "Fettaugen", die es immer vermochten, vor und nach der Wende, oben zu schwimmen und sich zu helfen wussten, wenn die Brühe drunter dünner wurde. Niemand, dem ich im "Grenzland" begegnet bin und mit dem ich gesprochen habe, weint der DDR auch nur eine Träne nach. Der ein oder andere mag das Leben nach der Wende kritisch erlebt haben im Bezug auf die Umstellung des eigenen Lebens hin zu mehr Eigenverantwortung und Initiative. Gravierende Veränderungen machten sich für die meisten Familien bemerkbar, waren nicht mit leichter Hand zu meistern. Dennoch überwiegt bei all meinen Begegnungen der Freiheitswert, der in der Wiedervereinigung Deutschlands liegt, auch wenn man einiges noch hätte besser machen können. Das habe ich hautnah erfahren und bin froh darüber.


Ich glaube, es verging kein Tag, an dem ich nicht darauf aufmerksam gemacht wurde, dass ich nicht auf einem "normalen" Wanderweg unterwegs war. In den Wochen und Monaten nach den Grenzöffnungen, die sich nach dem 9. November 1989 über Monate versetzt in den verschiedenen Regionen hinzogen, wurde das Allermeiste abgerissen, demontiert, gesprengt, zugeschüttet. Man musste so lange damit leben, man konnte es einfach nicht mehr sehen. Nur sehr wenig Reste der Grenzanlage, die damals zwei poltische Weltsysteme, zwei Länder und Menschen trennte, sind erhalten geblieben, am Originalstandort oder zur Erinnerung und zum Gedenken an anderer Stelle wieder aufgebaut. Vieles davon sieht man schon von Weitem und ist Anlaufstation auch für viele Touristen, die sich "das mal eben ansehen wollen": alte Kasernen, Wacht- und Beobachtungstürme, Grenzlandmuseen und Gedenkstätten, Mahnmale und Gedenksteine oder -kreuze zu Grenzöffnungen, geschleiften Dörfern oder Grenzopfern. Andere Reste entdeckt man nur, wer langsam, auch abseits der Straßen unterwegs ist: kleine Abschnitte übriggebliebener Mauer- oder Zaunelemente oder des Kfz-Sperrgrabens, Grenzsteine und die schwarz-rot-goldenen Grenzpfosten mit oder ohne DDR-Staatsemblem, versteckte "Agentenschleusen" und Bachsperren, alte Trafohäuschen als einzige Zeugnisse geschleifter Dörfer, rostige große Lautsprecher in manchen Dörfern oder heruntergekommene Anlagen früherer LPGs, vergessene einzelne Betonpfosten des Hinterlandzauns, Streckmetallreste als Gartenzaun oder Fußmatte - und natürlich mein "geliebter" Kolonnenweg.


Die Mitte Deutschlands war für mich bis vor zwei Monaten ein noch weitgehend unbekanntes Terrain. Ich weiß jetzt, dass es Landschaften gibt, in die ich nochmal kommen würde - wenn ich noch Zeit genug hätte: die weiten offenen Höhen der Rhön mit ihren großen Bergwiesen, der Harz mit Brocken und Eckertalsperre, der Drömling mit seinen Kanälen, Feuchtwiesen und Ottern, die Altmark und das Wendland mit den prachtvollen alten Gehöften und Rundlingsdörfern, die Elbe mit ihren Deichen, Marschen, reetgedeckten Häusern und Storchennestern, Arendsee, Schaalsee und Ratzeburgersee mit ihren Schilfufern und Wasservögeln, die Wakenitz als der "Amazonas des Nordens" und nicht zuletzt die Ostseeküste mit ihrem Naturstrand und den Klippen.


Während ich hier in der Abendsonne auf der Terrasse des Naturfreundehauses sitze, denke ich auch nochmal an Menschen, Orte und Situationen, die mir im Gedächtnis bleiben werden: Christa, die Dieter und mir in Berlin eine so wunderbare Gastgeberin war, Kerstin und Jürgen, die mich überraschend in Berlin besuchten, genauso wie Anke und Thomas in Oebisfelde und meine Nichte Heike mit ihrer Familie in Asbach. Nicht zu vergessen die gemeinsamen Kilometer mit Hanny aus Holland und meinen langjährigen Freunden Dieter und Wolfgang. Ich denke an die besonderen Stationen auf dem Berliner Mauerweg: Bornholmer Straße, Bernauer Straße, Reichstag, Brandenburger Tor, Potsdamer Platz, Checkpoint Charly, East-Side-Gallery, Grenzübergangsstelle Dreilinden, Glienicker Brücke. Ich denke an den Tag in Leipzig mit den besonderen Schauplätzen der Montagsdemonstrationen: Stadtring, Stasi-Zentrale, Augustusplatz, Nikolaikirche. Ich denke an Mödlareuth, dem mauergeteilten Dorf im Vogtland, an Lauchröden an der Werra, wo der Grenzzaun direkt unter dem Wohnzimmerfenster meiner Gastgeber herging und zwanzig Meter weiter die Freiheit lag. Ich denke an Dietmar, den Altkommunarden aus Frankfurt, der seit Jahrzehnten mit seiner Frau den Wildberghof bei Tettau betreibt, an den ehemaligen Grenzer und jetzigen Linken vom "Volkseigenen Hof" in Eisfeld, an die fleißige Gärtnerin Frau Euring in Eußenhausen, an den Pensionsgast in der Pension Hartmann in Brix, der sich nachts selbst aus seinem Zimmer ausgesperrt hat und mit mir im Doppelbett die Nacht verbringen muss, an die Erzählungen von Herrn Wassermann im Wassermannshof im kleinen Grenzdorf Reinhards, an die monströsen Kalihalden zwischen Vacha und Berka, an die munteren Mönche vom Kloster Hülfensberg, an die Brüder Mike und Walter Meder, die mich in Asbach beherbergen und mit ihrem Trabbi durch die Gegend fahren, an die Tagesmutter Frau Weller, mit der ich mich morgens beim Frühstück über Kindererziehung unterhalte, an Margrit Schmidt und ihren Lebenspartner Heinz in Ilseburg, denen ich nicht nur ein schönes Quartier, sondern auch noch eine schöne Stadtführung durch Wernigerode zu verdanken habe, an das Ehepaar Göde, die mich in ihrer Pension "Alter Bahnhof" in Söllingen wie ein Familienmitglied aufnehmen, an Frau Koll in Harpe, wo ich auf ihrem Hof einen wunderschönen Ruhetag verbringe, an die Naturfreunde Traudi und Jürgen Starck auf dem Haselnusshof in Binde mit ihrem herrlichen Naturgarten und ihrem Engagement für das Grüne Band, an die schönen Jugendherbergen in Lauenburg und Ratzeburg, die immer nochmal eine Adresse für ein Wiedersehen wären, an die nette Frau in Leisterförde, die Wolfgang und mir nach einigen langen und nassen Wanderstunden eine trockene Bank und eine heiße Tasse Kaffee spendiert und an den Rest des Sauerfleischs, den Wolfgang beim Hafenrestaurant in Lauenburg nicht mehr schafft, ihn zwei Tage im Rucksack transportiert und dann beim Abschied an der Bushaltestelle von Zarrentin noch brüderlich mit mir teilt. Und dann noch der ganz große Moment, als ich im Brockenhotel von meinem Sohn Daniel erfahre, dass ich mal wieder Opa geworden bin. Es waren besondere Tage!


Ich war fast genau 1300 Kilometer entlang dieser Grenze auf meinem Weg, dazu kommen 170 Kilometer auf dem Berliner Mauerweg. Zweieinhalb Monate weg von zuhause, auf den Tag genau zwei Monate auf dem Grünen Band. Zwei Paar Wanderschuhe sind ziemlich abgelaufen, ich werde sie zum Besohlen beim Schuster vorbeibringen. Zwei Paar Socken und mein in die Jahre gekommener Anorak sind nicht mehr zu retten, sie werden - mit einer anerkennenden Bemerkung - in der Schwarzen Tonne verschwinden. Ich habe abgenommen, an Gewicht und auf meinem Bankkonto. Ich musste nicht über das kleinste Wehwehchen klagen, bis auf meinen bösen Brüllhusten in Berlin, der sich aber frühzeitig genug im Vogtland wieder von mir verabschiedete. Wiedermal fühlte ich mich mit jedem gelaufenen Kilometer gesünder, richtig "down" war ich selbst nach dreißig und mehr Kilometern nie. Deshalb lasse man/frau mich gehen, solange ich das kann.


Für dieses Jahr ist es mal wieder vorbei! Vorbei das Gehen, vorbei das Auftanken, vorbei das Staunen. Doch wie alle anderen Orte, an denen ich mal angekommen war, so ist auch der Priwall nur eine "Zwischenstation". Ich werde weitergehen, auf neuen Wegen und zu neuen Zielen. Ich werde weitergehen, um neu aufzutanken und das Staunen immer wieder aufs Neue zu erleben.


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Kommentare: 5
  • #1

    Sebastian (Dienstag, 30 Juni 2015 08:06)

    Ich wünsche eine angenehme Rückreise!! Eine sonnige Heimat und dein erster Enkel erwarten dich. Bis bald!

  • #2

    Lore (Dienstag, 30 Juni 2015 10:29)

    >Für dieses Jahr ist es mal wieder vorbei!< Ja, hier im Blog - schade!
    Aber Du hast doch noch die Entspannungs-Wanderwoche Anfang August und das neuer-Steig-Beginn-Wochenende im Herbst!
    Grüße von Lore

  • #3

    Guido (Dienstag, 30 Juni 2015 12:07)

    Und ausserdem hast du doch noch uns, Deine Theatergruppe! ;-)
    Wir freuen uns schon auf Deine Rückkehr und darauf, mit Dir "Charleys Tante" zu proben!

  • #4

    Jürgen (Dienstag, 30 Juni 2015 21:25)

    Hallo Reinhard,
    seit ich dich unterwegs getroffen habe,(Ich bin der schwäbische Radler, der das grüne Band in der anderen Richtung fuhr, der sich mit dir 30 min. so toll unterhalten hatte) habe ich mich jeden Abend gefreut deine neuesten Erlebnisse zu lesen. Du verstehst es, deine täglichen Berichte sehr kurzweilig und informativ uns Leser an daran teilhaben zu lassen.
    Solche intensive Begegnungen wie du hatte ich mit dem Rad leider nicht, aber es war für mich trotzdem ein tolles Erlebnis.
    Es hat mich gefreut dich kennenzulernen.
    Mache weiter deine Wanderungen und genieße das Leben.
    Grüsse aus dem Schwabenlande.
    Jürgen

  • #5

    Der kronprinz (Donnerstag, 06 August 2015 18:01)

    Respekt und Glückwunsch nachträglich!!