Zum Schluss ...

"Was ist 1393 Kilometer lang, 'liegt rum' - wie kleine Kinder sagen würden - und ist die meiste Zeit grün? Die Antwort auf meine Frage liegt nahe: Es ist das Grüne Band." So begann eine SPD-Abgeordnete in der Bundestagssitzung vom 17. Dezember 2004 ihre Rede. Und sie fuhr fort: "Wir kennen es noch als den unmenschlichen Grenzstreifen zwischen Ost und West, den Todesstreifen, der lebensgefährlich war und deutsche Familien und Freunde trennte. Es ist Teil unserer deutschen Geschichte; schon deshalb gebührt ihm eine besondere Beachtung ... Es muss erhalten werden als Mahnmal; das ist das eine. Aber es sollte auch erhalten werden, weil es eine einmalige, unwiederbringliche Chance für den Natur- und Artenschutz in Deutschland bietet."


Ich habe diesem Grünen Band in Deutschland - und mit ihm der ehemaligen innerdeutschen Grenze - Beachtung geschenkt: mit großem Interesse an seiner Geschichte, mit viel Freude an seiner Natur, mit besonderer Betroffenheit für die Schicksale der Menschen, die damals an und mit dieser Grenze leben und in vielen Fällen auch ihr Leben lassen mussten, und mit viel, viel Schweiß und brennenden Füßen, die es mich gekostet hat, um dieses Grüne Band, diese Grenze für mich zu entdecken.


Ich bin berührt von dieser Reise. Sie ist mir Erinnerung und Mahnung zugleich. Bei vielen Wanderungen zuvor hatte ich gelernt, bestimmte Dinge auszublenden, loszulassen. Gedanken flogen vorbei, aber sie beschäftigten mich nicht oder "verfolgten" mich gar. Diesmal war das irgendwie anders. Jeden Tag war es ein Wechselbad: die Freude über einzigartige Landschaften, ihre Tier- und Pflanzenwelt, nette Begegnungen oder lustige Situationen auf der einen und die ständige Auseinandersetzung mit den immer noch sichtbaren oder auch unterschwelligen Resten jener Grenze, die über 40 Jahre hinweg Menschen in Angst versetzte, auseinanderriss oder sogar tötete; meine Fassungslosigkeit und sehr oft auch aufsteigende Wut über ein System, das zum Scheitern verurteilt war, aber seinen Bürgern die Freiheit nahm, selbst zu entscheiden, ob sie in diesem System leben wollten oder nicht. 


Der damals bekannte Bürgerrechtler Pastor Schorlemmer sagte mal: "Mit dem Mauerbau lebte die große Mehrheit in der DDR gebückt. Das Widersprechen und Widerstehen wurde zu einem viel höheren Risiko, weil man sich dem Staat nicht mehr entziehen konnte. Die Schizophrenie hat nach dem Mauerbau zugenommen: Wer etwas werden wollte, passte sich ein und führte eine Art Doppelexistenz. Allabendlich begingen die DDR-Bürger Republikflucht, indem sie Westradio hörten und später Westfernsehen sahen. Ansonsten funktionierten sie im Lügensystem, um zu überleben". Diese Sätze fassen sehr treffend zusammen, was mir viele Menschen von ihrem Leben in der damaligen DDR erzählten. Und sie erzählten mir von den "Fettaugen", die es immer vermochten, vor und nach der Wende, oben zu schwimmen und sich zu helfen wussten, wenn die Brühe drunter dünner wurde. Niemand, dem ich im "Grenzland" begegnet bin und mit dem ich gesprochen habe, weint der DDR auch nur eine Träne nach. Der ein oder andere mag das Leben nach der Wende kritisch erlebt haben im Bezug auf die Umstellung des eigenen Lebens hin zu mehr Eigenverantwortung und Initiative. Gravierende Veränderungen machten sich für die meisten Familien bemerkbar, waren nicht mit leichter Hand zu meistern. Dennoch überwiegt bei all meinen Begegnungen der Freiheitswert, der in der Wiedervereinigung Deutschlands liegt, auch wenn man einiges noch hätte besser machen können. Das habe ich hautnah erfahren und bin froh darüber.


Ich glaube, es verging kein Tag, an dem ich nicht darauf aufmerksam gemacht wurde, dass ich nicht auf einem "normalen" Wanderweg unterwegs war. In den Wochen und Monaten nach den Grenzöffnungen, die sich nach dem 9. November 1989 über Monate versetzt in den verschiedenen Regionen hinzogen, wurde das Allermeiste abgerissen, demontiert, gesprengt, zugeschüttet. Man musste so lange damit leben, man konnte es einfach nicht mehr sehen. Nur sehr wenig Reste der Grenzanlage, die damals zwei poltische Weltsysteme, zwei Länder und Menschen trennte, sind erhalten geblieben, am Originalstandort oder zur Erinnerung und zum Gedenken an anderer Stelle wieder aufgebaut. Vieles davon sieht man schon von Weitem und ist Anlaufstation auch für viele Touristen, die sich "das mal eben ansehen wollen": alte Kasernen, Wacht- und Beobachtungstürme, Grenzlandmuseen und Gedenkstätten, Mahnmale und Gedenksteine oder -kreuze zu Grenzöffnungen, geschleiften Dörfern oder Grenzopfern. Andere Reste entdeckt man nur, wer langsam, auch abseits der Straßen unterwegs ist: kleine Abschnitte übriggebliebener Mauer- oder Zaunelemente oder des Kfz-Sperrgrabens, Grenzsteine und die schwarz-rot-goldenen Grenzpfosten mit oder ohne DDR-Staatsemblem, versteckte "Agentenschleusen" und Bachsperren, alte Trafohäuschen als einzige Zeugnisse geschleifter Dörfer, rostige große Lautsprecher in manchen Dörfern oder heruntergekommene Anlagen früherer LPGs, vergessene einzelne Betonpfosten des Hinterlandzauns, Streckmetallreste als Gartenzaun oder Fußmatte - und natürlich mein "geliebter" Kolonnenweg.


Die Mitte Deutschlands war für mich bis vor zwei Monaten ein noch weitgehend unbekanntes Terrain. Ich weiß jetzt, dass es Landschaften gibt, in die ich nochmal kommen würde - wenn ich noch Zeit genug hätte: die weiten offenen Höhen der Rhön mit ihren großen Bergwiesen, der Harz mit Brocken und Eckertalsperre, der Drömling mit seinen Kanälen, Feuchtwiesen und Ottern, die Altmark und das Wendland mit den prachtvollen alten Gehöften und Rundlingsdörfern, die Elbe mit ihren Deichen, Marschen, reetgedeckten Häusern und Storchennestern, Arendsee, Schaalsee und Ratzeburgersee mit ihren Schilfufern und Wasservögeln, die Wakenitz als der "Amazonas des Nordens" und nicht zuletzt die Ostseeküste mit ihrem Naturstrand und den Klippen.


Während ich hier in der Abendsonne auf der Terrasse des Naturfreundehauses sitze, denke ich auch nochmal an Menschen, Orte und Situationen, die mir im Gedächtnis bleiben werden: Christa, die Dieter und mir in Berlin eine so wunderbare Gastgeberin war, Kerstin und Jürgen, die mich überraschend in Berlin besuchten, genauso wie Anke und Thomas in Oebisfelde und meine Nichte Heike mit ihrer Familie in Asbach. Nicht zu vergessen die gemeinsamen Kilometer mit Hanny aus Holland und meinen langjährigen Freunden Dieter und Wolfgang. Ich denke an die besonderen Stationen auf dem Berliner Mauerweg: Bornholmer Straße, Bernauer Straße, Reichstag, Brandenburger Tor, Potsdamer Platz, Checkpoint Charly, East-Side-Gallery, Grenzübergangsstelle Dreilinden, Glienicker Brücke. Ich denke an den Tag in Leipzig mit den besonderen Schauplätzen der Montagsdemonstrationen: Stadtring, Stasi-Zentrale, Augustusplatz, Nikolaikirche. Ich denke an Mödlareuth, dem mauergeteilten Dorf im Vogtland, an Lauchröden an der Werra, wo der Grenzzaun direkt unter dem Wohnzimmerfenster meiner Gastgeber herging und zwanzig Meter weiter die Freiheit lag. Ich denke an Dietmar, den Altkommunarden aus Frankfurt, der seit Jahrzehnten mit seiner Frau den Wildberghof bei Tettau betreibt, an den ehemaligen Grenzer und jetzigen Linken vom "Volkseigenen Hof" in Eisfeld, an die fleißige Gärtnerin Frau Euring in Eußenhausen, an den Pensionsgast in der Pension Hartmann in Brix, der sich nachts selbst aus seinem Zimmer ausgesperrt hat und mit mir im Doppelbett die Nacht verbringen muss, an die Erzählungen von Herrn Wassermann im Wassermannshof im kleinen Grenzdorf Reinhards, an die monströsen Kalihalden zwischen Vacha und Berka, an die munteren Mönche vom Kloster Hülfensberg, an die Brüder Mike und Walter Meder, die mich in Asbach beherbergen und mit ihrem Trabbi durch die Gegend fahren, an die Tagesmutter Frau Weller, mit der ich mich morgens beim Frühstück über Kindererziehung unterhalte, an Margrit Schmidt und ihren Lebenspartner Heinz in Ilseburg, denen ich nicht nur ein schönes Quartier, sondern auch noch eine schöne Stadtführung durch Wernigerode zu verdanken habe, an das Ehepaar Göde, die mich in ihrer Pension "Alter Bahnhof" in Söllingen wie ein Familienmitglied aufnehmen, an Frau Koll in Harpe, wo ich auf ihrem Hof einen wunderschönen Ruhetag verbringe, an die Naturfreunde Traudi und Jürgen Starck auf dem Haselnusshof in Binde mit ihrem herrlichen Naturgarten und ihrem Engagement für das Grüne Band, an die schönen Jugendherbergen in Lauenburg und Ratzeburg, die immer nochmal eine Adresse für ein Wiedersehen wären, an die nette Frau in Leisterförde, die Wolfgang und mir nach einigen langen und nassen Wanderstunden eine trockene Bank und eine heiße Tasse Kaffee spendiert und an den Rest des Sauerfleischs, den Wolfgang beim Hafenrestaurant in Lauenburg nicht mehr schafft, ihn zwei Tage im Rucksack transportiert und dann beim Abschied an der Bushaltestelle von Zarrentin noch brüderlich mit mir teilt. Und dann noch der ganz große Moment, als ich im Brockenhotel von meinem Sohn Daniel erfahre, dass ich mal wieder Opa geworden bin. Es waren besondere Tage!


Ich war fast genau 1300 Kilometer entlang dieser Grenze auf meinem Weg, dazu kommen 170 Kilometer auf dem Berliner Mauerweg. Zweieinhalb Monate weg von zuhause, auf den Tag genau zwei Monate auf dem Grünen Band. Zwei Paar Wanderschuhe sind ziemlich abgelaufen, ich werde sie zum Besohlen beim Schuster vorbeibringen. Zwei Paar Socken und mein in die Jahre gekommener Anorak sind nicht mehr zu retten, sie werden - mit einer anerkennenden Bemerkung - in der Schwarzen Tonne verschwinden. Ich habe abgenommen, an Gewicht und auf meinem Bankkonto. Ich musste nicht über das kleinste Wehwehchen klagen, bis auf meinen bösen Brüllhusten in Berlin, der sich aber frühzeitig genug im Vogtland wieder von mir verabschiedete. Wiedermal fühlte ich mich mit jedem gelaufenen Kilometer gesünder, richtig "down" war ich selbst nach dreißig und mehr Kilometern nie. Deshalb lasse man/frau mich gehen, solange ich das kann.


Für dieses Jahr ist es mal wieder vorbei! Vorbei das Gehen, vorbei das Auftanken, vorbei das Staunen. Doch wie alle anderen Orte, an denen ich mal angekommen war, so ist auch der Priwall nur eine "Zwischenstation". Ich werde weitergehen, auf neuen Wegen und zu neuen Zielen. Ich werde weitergehen, um neu aufzutanken und das Staunen immer wieder aufs Neue zu erleben.


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Bonus-Strecke

Priwall - Boltenhagen (26 km)


Mein Weg auf dem Grünen Band ist zu Ende - und doch nicht so ganz. Am Priwall traf seinerzeit zwar der Grenzstreifen auf die Ostseeküste, aber damit war der Zaun noch nicht zu Ende. Aus Sorge, Menschen könnten noch versuchen, nach Travemünde oder zu den Schifffahrtsrouten der Skandinavienfähren zu schwimmen, wurde ein 20 Kilometer langer Abschnitt vom Priwall über die Kliffs und Strände des Klützer Winkels bis kurz vor das Seebad Boltenhagen ebenfalls mit einem Grenzzaun abgeriegelt. Die Orte zwischen Travemünde und Boltenhagen waren also vom Strand abgeschnitten und dementsprechend ruhig war es an der Küste. Während östlich und westlich die touristische Entwicklung - je nach systemeigener Ausformung - die Strände förmlich überrollte, entstand hier ein Natur-Refugium. Und weil ich dies alles ebenfalls sehen will, gehört für mich die Etappe Priwall - Boltenhagen noch ausdrücklich mit zu meiner Grenzwanderung.


Beim Frühstück dann ein kleiner Schrecken: Carola, die Bewirtschafterin des Naturfreundehauses, teilt mir trocken mit, dass der Bus von Boltenhagen bis Pötenitz, den ich mir im Internet als perfekte Rückfahrgelegenheit ausgeguckt hatte, seit November letzten Jahres gar nicht mehr führe. Peng! Und jetzt? Wie komme ich nach 26 Kilometern Wanderung wieder zurück auf den Priwall? Zurückgehen? Ha,ha! Taxi? Mal eben so mindestens 50 Euro dafür abdrücken? Nochmal: Ha, ha! Ganz auf die Etappe verzichten? Nix, kommt gar nicht in die Tüte! Ich habe mich so auf diese Küstenwanderung gefreut. Auch wenn ich sie mit meiner Wandergruppe im Rahmen unserer Ostseewanderung schon einmal gegangen bin bzw. gerade weil ich sie schon mal gegangen bin und weiß wie schön sie ist, will ich das nochmal haben. Also werde ich mich an den Straßenrand stellen und den Daumen hochhalten, wie in alten Zeiten. Ich bin sicher, es wird sich mal wieder alles fügen und gehe los.


Nach Verlassen des Naturfreundehauses gehe ich so, wie ich gestern gekommen bin - nur ohne Wheelie. Schnurgerade führt die Mecklenburger Landstraße über den Priwall. Früher endete sie direkt hinter dem Campingplatz, der auch zum Naturfreunde-Gelände gehört, heute steht dort ein Schild "Mecklenburg-Vorpommer" und ein Gedenkstein mit der Aufschrift "Nie wieder geteilt - 3. Februar 1990" (Tag der Grenzöffnung). Direkt vor dem Stein verlief früher der westdeutsche Grenzweg zum Strand, heute heißt er "Waldweg". 


Ein paar Meter weiter zweigt in der Straßenkurve der Bohlengang zum Strand ab, den ich gestern, bei meinen letzten Metern zur Ostsee, so emotional aufgekratzt gegangen bin. Genau an seinem Beginn stand der Beobachtungsturm der Grenzwächter, der in den freudigen Tagen der Grenzöffnung zum Schnellimbiss umfunktioniert worden war. Heute ist von ihm nichts mehr zu sehen. Nur eine Stele steht dort, auf der ich u.a. folgendes lese: "Seit dem Mauerbau 1961 wagten über 5.600 Menschen eine Flucht über die Seegrenze. Mehr als 4.500 scheiterten und wurden inhaftiert. 900 waren erfolgreich, 174 kamen ums Leben. Am 3. Februar 1990 öffneten Grenzer das Tor am Strand."


Der heutige Teil des schön asphaltierten Radweges bis Steinbeck ist nichts anderes als der frühere Kolonnenweg. Ich glaube, dass kaum einer von denen, die hier entlangradeln, davon wissen. Dort, wo der Zaun damals endete, hört heute auch der offizielle Radweg auf. Schade nur, dass man auf dem Radweg nicht viel von der Ostsee sieht, denn ein schmaler Waldstreifen zwischen Steilküste und Weg versperrt die Sicht. Wer aber ans Wasser will, kann das immer wieder tun. Obwohl der gesamte Küstenstreifen unter strengstem Naturschutz steht, zweigen immer wieder Strandzugänge ab. Den zweiten nehme ich direkt, ich will ans Wasser.


Herrlich ist es da, Naturstrand eben. Sand und Steine, Baumwurzeln und Felsblöcke, gestrandete glattgeschliffene Baumstämme und von Menschen aus Ästen und Zweigen gebaute "Strandhütten", Muscheln und Krebse, Algen und Möwen, Schwäne und anderes Vogelgetier. Ein großer Trupp Uferschwalben schwirrt mir auf einmal um den Kopf herum. Nach einer lang gezogenen Schleife über der See kehrt der Schwarm zum Kliff zurück. Jetzt sehe ich die Eingänge zu den Nisthöhlen, die die Schwalben in die senkrechte Wand gegraben haben. Einige verschwinden in den Röhren, die meisten docken nur kurz an und drehen eine weitere Runde. Menschen vielleicht zehn pro gelaufenen Kilometer: Spaziergänger, Bernsteinsammler, Sonnenanbeter, Nackte. Auf der See kreuzen Segelboote und riesige Fähren steuern auf Finnland und Schweden zu. Doch die Sonne saugt mir - trotz Hut - so langsam das Gehirn aus. 


Nach 15 Kilometern "Strandspaziergang" gehe ich hoch auf den Radweg, der immer mal wieder ein Stück im Schatten verläuft. Dort bin ich als einziger fußläufig unterwegs. Fast ängstlich dränge ich mich an den Rand, denn sie kommen von vorne und von hinten: Die vollbepackten Tourenradler, die Hightech-Sportraser, die Tagesausflügler mit den Leihrädern und die Seniorenriege auf ihren E-Bikes. Viele bestaunen mich wie einen Außerirdischen: Zu Fuß geht hier auch? Ist ja irre! 


Die Strandläufer wissen die sportliche Leistung der Radler gar nicht zu schätzen. Da die Landschaft hier in Küstennähe sehr hügelig ist (und bei den Klippen nahezu senkrecht zur See hin abstürzt), gleicht der Radweg einer Achterbahn. So mancher hat damit wohl nicht gerechnet, denn ich sehe hochrote Gesichter und höre kräftiges Keuchen.


Diesen Umstand haben sich zwei Frauen am Ortsrand von Steinbeck, dort wo der offizielle Radweg endet, zu Nutze gemacht und direkt am Endpunkt des Radweges einen Imbiss aufgebaut. Kaum ein Radler fährt vorbei - und ein Wanderer hält auch an. Die zwei Frauen sind bester Laune und lassen die Finger fliegen. Das Naturschutzgebiet endet genau hier, da ja auch der Grenzzaun hier unten am Strand endete. In einem Naturschutzgebiet wäre solch ein Imbiss nicht genehmigungsfähig, doch so sind die Frauen zwei von den Gewinnerinnen der wiedererlangten Einheit.


Nach einer Frikadelle mit Kartoffelsalat und einer eiskalten Apfelschorle nehme ich die letzten fünf Kilometer meiner diesjährigen Wanderreise in Angriff. Der Weg wird für den Wanderer schöner, für den Radler schwieriger. Nur noch als schmaler Pfad zieht er sich nun am Rand der goldgelben Getreidefelder dahin, die bis unmittelbar an die Abbruchkante der Steilküste heranreichen. Gräser und Brennnesseln überwuchern teilweise den Pfad und erfreuen die Radler in ihren kurzen Hosen oder im kurzen Rock. Wenn die Pedalritter mir entgegenkommen, muss ich großmütig sein. Für sie gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder sie fahren gefährlich nahe an der senkrecht abfallenden Wand oder durchs Korn. Für mich trifft zwar im Prinzip dasselbe zu, aber ich bewege mich nicht auf einem wackeligen Zweirad, sondern auf zwei stabilen Füßen. Also gehe ich ins Korn und werde von dankbaren Radlern gefeiert. Sehr gerne, meine Herrschaften!


Nach einer Stunde bin ich in Boltenhagen. Erinnerungen werden wach: Etwa zehn Jahre müssten es her sein, dass ich mit meiner Wandergruppe hier durchgezogen bin. Noch zwei Jahre vorher war ich mit meinen zwei Jüngsten, Julian und Yannik, hier. Meck-Pomm-Rundreise mit Baden in der Ostsee. Beim ersten Bad im Boltenhagener Ostseewasser machte Klein-Yannik Bekanntschaft mit harmlosen kleinen Quallen. Seitdem gab es nur noch eine Rundreise OHNE Baden in der Ostsee.


In Boltenhagen ist der Teufel los. Gar nicht mal am Strand, das Wasser ist wohl noch nicht badetauglich. Aber an der Seebrücke, im Kurpark, in den Cafés, vor den Softeis-Ständen, in den Läden, die trotz Sonntag geöffnet haben, überall drängen sich die Menschen. Hier kriege ich Platzangst! Raus hier, das ist nichts für mich. Erst recht nicht nach den vielen einsamen Tagen auf meinem Weg. Außerdem will ich jetzt wissen, ob das mit der Rückfahrt klappt.


Auf der Karte habe ich mittlerweile gesehen, wie ich mich wohl Richtung Priwall zurücktasten muss. Dabei ist wohl nicht der kürzeste Weg der schnellste, sondern der, der am meisten Verkehr hat. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich schaffe es, drei Autos zu stoppen, die mich nacheinander über Klütz, Dassow und Pötenitz meinem Ziel Priwall näher bringen. Der letzte Fahrer, ein Hamburger, der als Ruheständler nun in Pötenitz lebt, lädt mich sogar noch zu Kaffee und Kuchen zu sich nach Hause ein, wo ich mich im Kreise seiner Großfamilie zur Sonntagsnachmittagsattraktion mausere. Nach einem netten Plauderstündchen auf der Terrasse bringt er mich sogar noch bis zum Naturfreundehaus, genau pünktlich zum Abendessen. Wer sagt's denn! 


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Ostsee erreicht!

Lübeck / Herrnburg - Priwall (32 km)


Ich muss ans Grüne Band zurück, raus aus dem Gewühl von Lübeck. Dazu muss ich zum Hauptbahnhof, der glücklicherweise nicht weit von der Altstadt-Jugendherberge entfernt ist. In den Straßen ist es noch relativ ruhig. Heute ist Samstag. Selbst im Bahnhofsgebäude geht es noch relativ entspannt zu. Für meinen Wheelie muss ich mal wieder eine Fahrrad-Gebühr bezahlen. Stinkt mir ein wenig. Die Ostsee-Urlauberin, die vollbepackt in Travemünde aus dem Zug steigt, musste bestimmt auch nichts für ihren Monster-Trollee zusätzlich bezahlen. Und der hat auch Räder ...!


Mein Zugziel ist aber nicht Travemünde, sondern Herrnburg, der erste Ort südöstlich von Lübeck in Mecklenburg-Vorpommern. Hier ist es wieder grün. Aber nicht mehr so grün, wie noch auf meiner Wanderkarte dargestellt, denn inzwischen haben neue Wohngebiete Wald und Wiesen vereinnahmt und ich stehe wegmäßig kurzfristig auf dem Schlauch. Kommt ja gut, denke ich mir, bei einem verspäteten Abmarsch und mehr als 30 Kilometern vor der Brust genau richtig. Doch Google-Maps ist wieder mein Freund und schickt mich zügig auf den rechten Weg. 


Die Bezeichnung "Pahlinger Heide" ließ es schon vermuten: Kiefernforste und Sandwege. Ich gehe hart am Rand, wo der Sand nicht ganz so weich ist und komme einigermaßen gut voran. Schnurgerade verläuft mal wieder der Weg, ohne viel Kurven immer nach Osten. Ab Palingen habe ich dann die Chance, weitere Sandwege zu vermeiden. Konsequenz: eine Landstraße, Problem: Null. Es rollt und das ist heute die Hauptsache. Nach zwei Stunden Weg erreiche ich Selmsdorf. Beim Feuerwehrhaus ist Feststimmung. Alle Feuerwehrzüge, die Alten und die Jungen, stehen stramm in Reih' und Glied und lauschen den Worten des Bürgermeisters, der ohne Punkt und Komma die Einsätze des letzten Jahres herunterbetet und zum Dank dafür einen neuen Einsatzwagen präsentiert. Alle sind begeistert, ein Tusch der Feuerwehrkapelle, alle Einwohner von Selmsdorf klatschen, nur den Kindern ist das herzlich egal, sie toben auf der Hüpfburg. Immerhin habe ich Unterhaltung bei meiner Rast. 


Dann die erwartete Prüfung für Körper und Geist: Acht Kilometer B 105 liegen vor mir, auf der Karte mit leichten Schlenkern, gefühlt stur geradeaus. Mein Wanderführer empfiehlt sogar, dieses Stück auszulassen und die Distanz lieber mit einem Bus (und das auch noch mit einem Umweg) zu überbrücken. Aber das geht ja wohl gar nicht! Wer auf der großen Ausfallstraße "Cassia" nach Rom hineinmarschiert ist, den kann doch wohl so eine Straße in Mecklenburg-Vorpommern nicht kratzen. Aber es wird wirklich nicht ganz einfach: Die Straße entpuppt sich zwar als eine Allee, die dem schwitzenden Wanderer bei der heutigen schwül-warmen Sonnenbestrahlung etwas Schatten bietet, aber die Leitplanken nerven. Die sind ohne Unterbrechung über Kilometer hinweg durchgezogen, um den Baumbestand der alten Allee zu schützen. Oder die Fahrer vor den Bäumen. Jedenfalls nicht den Grüne-Band-Wanderer vor den Fahrern. Solange sich nicht zwei Autos auf meiner Höhe begegnen, geht es ja, wenn aber doch, wird es eng. Doch ich habe meine Erfahrungen mit diesen Situationen und bin recht entspannt. 


Bald sehe ich links den Dassower See vor mir liegen, der mit seinem Ufer immer näher an die Straße heranrückt. Als er sie fast berührt, steht da ein alter Wachturm, einer von den dicken Viereckigen, ein früherer Führungsturm. Mit dickem, rotem Pinselstrich ist auf seine Wand ein Herz gemalt. Ein "P" liebt seine "E". Auf der Tür ein resolutes "Nie wieder". Mit beidem kann ich leben. Doch wie konnten die Menschen, nur ein paar Kilometer von der Großstadt Lübeck entfernt, mit dieser Grenze leben? Jeder Eigenwilligkeit der Uferlinie folgten Zaun und Kolonnenweg. Alles war Sperrgebiet, in das man nur mit Passierschein kam. Das Südufer des Dessower Sees war ein vergessenes, aber peinlichst kontrolliertes Land.


Dann endlich Dassow. Dassow war ebenfalls Sperrgebiet, der Dassower See war Bundesrepublik, das Ufer die Grenze. Vor dem Mauerbau in Berlin durften auch die Dassower Kinder noch im See baden, obwohl die Grenzlinie der Hochwasserlinie entsprach und bei niedrigerem Wasserstand ein Küstenstreifen zur BRD gehörte. Da durften auch noch drei Fischkutter durch Westwasser in die Ostsee fahren. Dann war das vorbei. Die drei Fischkutter wurden auf Tiefladern nach Wismar verbracht, bevor da ein Fischer jemand in den Westen geschleust hätte; und zwischen Haustür und See wurde auch in Dessow eine Mauer hochgezogen. Wer in den 60er-Jahren aufwuchs, der hatte den See nicht gesehen. Der kam hier auch nicht ans Meer, das die Touristen heute in zehn Minuten erreichen. 


Wo heute der Penny-Markt steht, zog damals die Mauer von Dessow weg und ans Ufer des Dessower Sees. Wo ich also kalte Getränke einkaufe, weil die Schwüle des Tages meine Flüssigvorräte schnell hat schwinden lassen, war damals meist höchste Alarmstufe verordnet, denn immer wieder versuchten DDR-Bürger über den Dessower See zu flüchten. 


Von einem dieser Fluchtversuche lese ich in der Nähe der wenigen Häuser des fast vollständig geschleiften Dorfes Volksdorf, dem letzten Dorf, bevor ich den Priwall erreiche: Von der anderen Seite des Dessower Sees schafft es ein junger Mann, den Zaun am Ufer zu überwinden. Er will durch den See Richtung Travemünde schwimmen. Er schafft es, in den See zu gelangen, und schwimmt zu der kleinen vorgelagerten Insel Buchhorst. Hier entdecken ihn die Grenzer eines nahegelegenen Wachtturms und nehmen ihn unter Feuer. Vollkommen in Panik schwimmt er orientierungslos weiter und gelangt, meist tauchend, schließlich vollkommen erschöpft zu einem aus dem Wasser ragenden Stein nahe am nördlichen Ufer des Sees zwischen den Dörfern Benckendorf und Volkstorf. Auf dem Stein sich erholend, wird er von Grenztruppen auf einem Wachtturm bei Volkstorf in Visier genommen. Bald peitschen Schüsse über den See. Fischer aus Lübeck, die im See ihrem Beruf nachgehen, haben inzwischen die Schüsse gehört, eilen zu dem Flüchtenden und geben ihm mit ihren Booten Schutz, bis ein Schiff des BGS auftaucht und den Flüchtling aufnimmt.


Wolken haben sich zusammengebraut, es donnert, starker Wind kommt auf und eine kurze Schauer geht nieder, vor der ich mich unter hohen Büschen in Sicherheit bringe. Eine Viertelstunde dauert das Ganze, dann ist die Schwüle weg, in kürzester Zeit wie weggeblasen. Wie ein Zeichen für mich, jetzt mit Volldampf die letzten Kilometer anzugehen. Ich renne nochmal durch die Kornfelder, bestaune weite Flächen mit Mohnblumen und sehe und rieche Kamille. Ich sehe die mächtige "Bettenburg" von Travemünde über einem Wald emporragen und etwas abwärts der Trave die dicken Pötte der Skandinavienfähren. Nochmal ein Stück Wald direkt am Ufer der Pötenitzer Wiek, die genau wie der Dessower See nichts anderes ist wie ein Teilstück der Lübecker Bucht, die nur durch das angeschwemmte Küstenmaterial des Priwalls fast zu selbstständigen Binnengewässern geworden sind. Auch hier zog sich der Zaun entlang, der Kolonnenweg. Im Wald nochmal Grünes Band pur: Alles schießt mächtig ins Kraut, Gras hüfthoch, Brombeeren, Brennnesseln, dschungelartig, dicht, vor allem grün - ein schöner Abschied. Dann plötzlich die Landstraße, die mich nochmal für 500 Meter aufnimmt.


Es kribbelt im Bauch. Immer wieder denke ich: Jetzt muss die Kurve der Straße doch kommen, wo du nur noch 150 m geradeaus zu gehen brauchst und dann bist du da, bist angekommen an der Ostsee. Auf einer kleinen Radweg-Markierung neben der Straße hat jemand "DDR - unser Vaterland" geschrieben. Komisch, das gerade jetzt in diesem Moment zu lesen. Dann bin ich endlich an der Kurve, und tatsächlich, direkt dort beginnt ein Bohlengang. Gleich dahinter die Düne. Das Wellenrauschen höre ich schon. Die letzten Schritte. So langsam wie noch nie.


Wie wird es sein? Ein Triumphzug! Kaiserwetter, Möwenlachen, Frühsommerglück. Die letzten Meter am Strand sind festlich geschmückt, Girlanden, Birkengrün mit bunten Bändern. Fähnchen schwenkende Schulkinder und Vivat rufende Landfrauen in Festtagstracht stehen Spalier. Feuerwehrkapellen schmettern Begrüßungsfanfaren, und Bürgermeister der umliegenden Gemeinden und Städte stehen zu Ansprachen bereit. Würste wälzen sich im Fett, Fässer fiebern ihrem Anstich entgegen, Lavendel liegt in der Luft, daneben Sekt und Fischbrötchen. Und jedermann erwartet ein Fest. So etwa hatte ich mir das vorgestellt.


Quatsch! In Wahrheit: Schritt für Schritt gehe ich auf dem Bohlenweg vor, ganz allein, wie auf den allermeisten Kilometern zuvor. So will ich es. Und dann ... Wo die Priwall-Halbinsel am schmalsten ist. Wo eine einfach und engmaschig gestrickte Wochenendhaussiedlung direkt an das Naturschutzgebiet anschließt. Wo bis 1990 Ost-Grenzer auf West-Nackte stießen. Wo seit 1226 ein Lübecker Strand Mecklenburg berührt. Wo im Westen die zugebaute Ferienküste Ostholsteins liegt, und im Osten nichts, nichts als Naturstrand, Bäume bis ans Wasser, bis Boltenhagen segensreiche Leere. Wo ein Bohlengang die letzten Meter durch die Dünen führt - da geht das Meer auf. Ich bin angekommen. Mir ist ein wenig zum Heulen.


Es ist schon relativ spät. Bis auf ein junges Ehepaar mit Kind ist niemand mehr da. Sie kommen gerade an mir vorbei, wollen auf dem Bohlengang zurück zu ihrem Auto. Ich bitte sie, ein Foto von mir zu machen. Wie hätte sonst dieser Moment dokumentiert werden sollen? Sie tun es gerne und gehen. Ich bin alleine am Strand. So wollte ich es. So passt es im Moment zu mir. Das Naturfreundehaus kann noch etwas warten. Ich setze mich in den Sand und bin zufrieden.


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Auf dem "Amazonas des Nordens"

Ratzeburg - Rothenhusen (10 km) - Lübeck


Es ist angenem ruhig beim Frühstück, obwohl genauso viel Menschen im Speisesaal sitzen wie gestern beim abendlichen Grillessen. So gut wie alle Kids kämpfen noch gegen ihre Müdigkeit an. Ein Jugendherbergsaufenthalt ist eben keine Kindererholungsmaßnahme. Als ich mein schmutziges Geschirr in die Spülküche bringe, sitzen die meisten noch an ihrer ersten Brötchenhälfte oder haben sicherheitshalber noch gar nicht mit kauen angefangen. Frühstück wird eben von Erwachsenen überbewertet.


Der heutige Tag wird irgendwie ganz anders: eine Mischform aus Wanderung und Bootspartie. Und dennoch so hart an der ehemaligen Grenze wie selten in den letzten Tagen. In aller Gemütsruhe schlendere ich zum Schiffsanleger an der Schlosswiese. Um 10 Uhr legt von dort ein Rundfahrtboot zum Bootshaus Rothenhusen am Nordende des Ratzeburger Sees ab. Auch mein Grünes Band berührt diesen Punkt, aber bis dahin mitfahren will ich nicht. Ja was denn nun? Also: Das Boot soll mich über die Römnitzer Enge direkt zum ehemaligen kleinen Fischerdorf Römnitz bringen und mir damit die zeitraubende nochmalige Umrundung des Domsees, praktisch einer Ausbuchtung des Großen Sees, ersparen. Die Strecke kenne ich von gestern, muss ich also nicht nochmal haben. So geschieht es dann auch und ich bin mit dem ersten Teil des Tages zufrieden. 


An der Anlegestelle in Römnitz wartet schon eine Frau auf das Boot, dreißig Meter dahinter steht ein junger Mann mit einer kleinen Gruppe behinderter Kinder. Als das Boot anlegt, bekomme ich ungewollt die kurze Unterhaltung der Frau, wahrscheinlich der Chefbetreuerin der Kindergruppe, mit dem Bootskapitän mit. Sie seien zufällig hier vorbeigekommen und hätten das Boot ankommen sehen. Die Kinder würden nun sooooo gerne eine Bootsfahrt bis Rothenhusen machen, aber sie wisse nicht, ob das Geld reicht. Ich verzögere meinen Schritt, will wissen, was da jetzt bei rauskommt, während die Kinder bei ihrem männlichen Betreuer vor Aufregung und Gespanntheit mit ihren Körpern hin und her wiegen und mit weit aufgerissenen Augen herüberschauen. Für einen Gruppentarif reiche es bei der geringen Anzahl von Kindern noch nicht, aber eine Begleitperson wäre frei. Den geforderten Betrag verstehe ich nicht genau, nur die resignierte Stimme der Betreuerin: "Schade, dann haben wir zehn Euro zu wenig! Na dann ... vielleicht beim nächstenmal ...!" Das darf doch jetzt nicht wahr sein! Zwei Euro fehlen jedem Kind zur Erfüllung eines sehnlichen Wunsches. Ich rufe zum Kapitän hinüber, ob man in diesem Fall nicht mal eine Ausnahme machen könne. Er zuckt nur mit den Schultern. "Das dürfen wir gar nicht erst anfangen. Sowas spricht sich rum." - "Na und?", erwidere ich. "Vielleicht gibt das ja 'ne gute Presse für ihr Unternehmen." Der Bootslenker schüttelt nur mit dem Kopf. Die Kinder haben an der Körpersprache ihrer Betreuerin mittlerweile wohl gemerkt, dass anscheinend nichts aus ihrer schönen Schiffsfahrt wird und haben bereits abgedreht. Ich kann das jetzt nicht so stehen lassen. Ich greife in meine Hosentasche, krame zehn Euro raus und drücke sie dem Kapitän in die Hand. "Und jetzt lassen Sie die Kinder bitte an Bord gehen! ", sage ich und meine Stimme zittert vor Erregung ein wenig. Drei Ehepaare hinter mir, die offensichtich miteinander bekannt oder befreundet sind, hatten wohl die gleichen Gedanken wie ich und inzwischen Geld gesammelt. Jetzt gehen sie zur Betreuerin, drücken ihr ebenfalls Geld in die Hand und sagen: "Und von diesem Geld kaufen Sie bitte jedem Kind im Fährhaus Rothenhusen ein Eis!" Die Frau bedankt sich überschwänglich bei uns allen und winkt zu ihren Kindern hinüber. Ich weiß nicht, ob die Kinder genau mitbekommen haben, was da vor sich ging, aber als sie an mir vorbeistürmen, haben alle ein großes Glänzen in den Augen. 


Die zehn Kilometer lange Strecke am Ostufer des Ratzeburger Sees entlang ist einfach nur schön. Ein Hochwald nimmt mich auf, der See blitzt nur selten durch die Büsche. Der Weg steigt an, senkt sich wieder, immer im Wechsel. Das Ausflugslokal Kalkhütte erscheint, sieht aber geschlossen aus. Ist es noch zu früh oder Ruhetag oder hat es den Betrieb ganz eingestellt? Der Waldpfad mündet auf einen asphaltierten Forstweg, wieder rauf, runter. Fast am Ufer des Sees dann der Moment, wo die ehemalige Grenze ebenfalls auf den See trifft und von nun an am Fuß seines Steilufers entlangläuft. Der Zaun verlief oben, kein DDR-Bürger konnte den See sehen, geschweige denn drin schwimmen. Die Menschen der nun folgenden kleinen Dörfer Campow und Utecht mussten zum Baden weit ins Landesinnere, dabei lagen die schönsten Badestellen nur wenige hundert Meter entfernt. 


Hinter Campow dann eine Begegnung der besonderen Art: Auf einer etwas höher gelegenen Wiese stolziert ein Nandu, genauer gesagt, eine Nandu-Mutter, denn um ihre Füße herum tummeln sich fünf bis sechs Küken. Heißen die jungen Nandus so? Küken? Die sind doch in jungen Jahren schon größer als die größten Hühner. Wenn ich nicht gelesen hätte, dass hier Nandus rumlaufen, würde ich jetzt grübeln: Hat hier einer 'ne Straußenzucht? Irgendwie sieht ein Strauß aber anders aus ... Und außerdem läuft dieser Nicht-Strauß doch frei rum ... Aber ich weiß Bescheid: Nandus, deren Heimat eigentlich die Pampa in Argentinien, Uruguay und Brasilien ist, dürften die seltenste Großtierart sein, die hierzulande in freier Wildbahn herumläuft. Und das auch nur, weil vor Jahren einige Nandupärchen, die auf einer Farm in Groß Grönau, einem Dorf südlich von Lübeck, gehalten wurden, nach Mecklenburg rübergemacht haben. Dabei sind sie murmaßlich durch die Wakenitz gewatet oder geschwommen, denn fliegen können Nandus nicht. Dort haben sie Familien gegründet, sind inzwischen zu hundertst, und jetzt mischen sie als geschützte Natur das Naturschutzgebiet auf. Balzende Nanduhähne haben immerhin schon Gallowaykälber in Panik versetzt und den Hund des wandernden Dokumentarfilmers Andreas Kieling fast zu Tode gehetzt. Eine Bejagung ist nicht erlaubt, das verbietet das Bundesnaturschutzgesetz. Ganz zu schweigen vom Artenschutzabkommen. Wenn nun aber dieser eingewanderte geschützte Neubürger sich an der ebenfalls geschützten blauflügeligen Ödlandschrecke vergreift, weil er in der Brutzeit einfach mehr Eiweiß braucht? Dann haben wir den Salat. Deutschland uneinig Einwanderland.


Nach Campow kommt Utecht, nach Utecht Rothenhusen. Rothenhusen ist das alte Fährhaus, das auf einer kleinen Insel an der Nordspitze des Ratzeburger Sees liegt. Hier drehen die Ausflugsschiffe von Ratzeburg, bevor sie wieder zu der Domstadt auf der Insel zurückfahren, hier starten aber auch die kleinen Boote der Wakenitz-Schifffahrt des alten Familienunternehmens Quandt. Fast zwei Stunden benötigen sie, um von hier ihre Fahrgäste bis Lübeck zu bringen. Das gönne ich mir!


Nach meiner Ankunft am Fährhaus reicht es so gerade zu einem Kaffee auf der Außenterrasse des Fährhaus-Restaurants, als das Motorschiff "Melanie" an der Anlegestelle festmacht. Zunächst bin ich der einzige Fahrgast. Mag sein, dass unterwegs an den zwei Stationen noch weitere zusteigen. "Willkommen an Bord zu einer Fahrt auf dem 'Amazonas des Nordens'!" So begrüßt mich Raimund Quandt, der bereits seit fast 40 Jahren im Kielwasser seines Vaters Manfred auf der Wakenitz schippert. Den Begriff des "Amazonas des Nordens" hatte vor Jahren ein Lübecker Journalist geprägt. "Seitdem sitzt der Name und steht auch auf meinem Flyer", sagt der Kapitän. Ganz so mächtig wie der südamerikanische Strom sei die knapp 15 km lange Wakenitz zwar nicht, räumt er schmunzelnd ein, doch die Artenvielfalt könne sich auch hier sehen lassen. 


Raimund Quandt berichtet von Schwänen, Eisvögeln, Zwergtauchern, Löffelenten, dem Wachtelkönig und dem Fischadlerpaar. Auch Fischotter seien am Fluss wieder zu Hause. Am Anfang ist die Wakenitz noch so schmal, dass die Erlenkronen und Weiden sie wie einen Baldachin beschirmen. "Sagte ich's nicht ..." - der Kapitän blickt stolz über "seinen" Fluss, "... wie auf dem Amazonas ...!" Lauschig und romantisch geht es weiter. Schilf wiegt hin und her, Graugänse und Enten schwimmen zwischen Seerosen, ein versteinerter Graureiher wartet geduldig auf einen leichtsinnigen Frosch.


"Die Wakenitz war Grenzfluss. Früher sah man auf der gegenüberliegenden Seite Schilder mit der Aufschrift 'Halt! Hier Grenze!' Dort stand auch ein schwarz-rot-goldener Betonpfahl mit DDR-Emblem." Die Grenze entlang der Wakenitz war eine flexible Grenze. Sie führte am Ostufer entlang, der aktuelle Wasserstand markierte den genauen Verlauf. "Auf dem Wasser selbst konnten wir uns mit unseren Booten frei bewegen. Es gab allerdings immer mal den ein oder anderen vorwitzigen Paddler, der meinte, 'drüben' ein Päuschen einlegen zu können. Mancher wachte dann am nächsten Morgen in einem DDR-Gefängnis auf, wo er bei einer sechswöchigen 'Kartoffelschäl-Kur' über die 'Grenzverletzung' nachdenken konnte."


Beim Restaurant Absalonshorst legen wir an, andere Gäste steigen zu, ebenfalls beim Restaurant Müggenbusch. Die Wakenitz ist inzwischen breiter geworden, immer wieder liegen jetzt auch Wiesen am Ufer, Kleingärten, feudale Grundstücke mit stattlichen Kaufmanns- und Senatorenvillen. Dann ist die Lübecker Moltkebrücke erreicht, das Ziel meiner Fahrt auf dem "Amazonas des Nordens". 


Mitten in der Altstadt Lübecks, nicht weit von der Marienkirche, dem Rathaus und dem Buddenbrookhaus, liegt eine der zwei Lübecker Jugendherbergen, meine Unterkunft für heute. Auch nicht weit weg vom Hauptbahnhof. Und da muss ich morgen früh hin. Ein Zug bringt mich dann wieder ans Grüne Band, vor die Tore Lübecks. Noch ein Tag bis zur Ostsee!




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Langsam dem Ende entgegen

Mustin - Ratzeburg (24 km)


Als ich beim Frühstück sitze und auf den Kleinen See von Mustin hinausblicke, wird mir auf einmal bewusst, dass die vergangene Nacht die letzte war, die ich in einer Unterkunft der Kategorie Gasthof/Pension/Privatzimmer zugebracht habe. Die letzten werden Jugendherbergen und ein Naturfreundehaus sein. Allerdings habe ich auch dort Einzelzimmer gebucht, denn in meinem Alter steht man immer mehr auf das, was man wohl "Privatsphäre" nennt. 


Schon in den letzten Tagen kam das Gefühl immer mehr hoch, jetzt ist es voll da: der Zwiespalt von Freude und Wehmut. Nur vier Wandertage liegen noch vor mir, wohl keine hundert Kilometer mehr. Mein kleines Abenteuer Grünes Band geht dem Ende entgegen. Keine körperliche Anstrengung mehr, keine brennenden Füße, keine Auseinandersetzung mehr mit der jüngeren deutschen Geschichte und mit menschlichen Schicksalen, keine wechselnden Landschaften, kein Blick mehr auf die Wettervorhersage, keine freudigen oder weniger freudigen Überraschungen mehr bei den Unterkünften, kein Kolonnenweg, kein Grenzmuseum, keine Wachtürme. Keine Gespräche mehr mit Menschen, die an dieser Grenze damals lebten und es heute immer noch tun. Keine Beklemmung, keine Betroffenheit, keine Wut mehr über das , was damals "im Namen der Arbeiter und Bauern" hier geschah, vielleicht nur noch Verblüffung und Freude darüber, wie die Natur über all die Schändlichkeiten wieder ihren Mantel deckt.


Doch ich spüre auch Freude. Freude auf meine Lieben daheim, Freude auf meine Enkelkinder, von denen ich das jüngste noch nie auf dem Arm hatte, Freude darauf, mit meiner Theatergruppe bald wieder arbeiten zu können, die Zeitungen von zweieinhalb Monaten zu lesen, mit meiner Wandergruppe bald wieder loszuziehen, aus diesem Blog vielleicht wieder ein Buch zu machen oder mich einfach nur zurückzulehnen, um mit Hilfe meiner niedergeschriebenen Erinnerungen und den aufgenommenen Fotos alles nochmal Revue passieren zu lassen. Doch erstmal muss ich überhaupt ankommen.


Meine Unterkunft in Mustin liegt etwas abseits vom ehemaligen Grenzverlauf und ich muss erstmal wieder zu ihm zurück. Von einem Moränenhügel sehe ich das Wasser des Lankower Sees zu mir heraufblinken. Sein West- bzw. Südufer markieren die mecklenburgisch - schleswig-holsteinische Grenze, der Kolonnenweg verlief aber am Ostufer. Der Grenzzaun führte jedoch direkt durch den See hindurch und schnitt den größten Seitenarm ab. Um das bewerkstelligen zu können, hatten sich die Grenzkommandos der DDR etwas Besonderes ausgedacht. Vom Grenzstreifen zog man eine Reihe Streckmetallgitterplatten quer über den See, wobei die Zaunelemente in der Mitte der Seestrecke in das Wasser eintauchten. Damit nicht genug: Oberhalb und unterhalb des Metallgitters hatte man eine Rolle Stacheldraht gezogen, wobei die untere Rolle bis zu den Ufern hin tief in das Wasser eintauchte. Eine perfekte Sperre, die gleich einer Pontonbrücke durch Schwimmelemente stabilisiert wurde. 


Am Nordufer des Lankower Sees lag Lankow. "Auch dieses 800 Jahre alte Dorf musste weichen, weil es zu dicht an der Grenze lag und sich nicht lückenlos hätte überwachen lassen können", erzählt mir später eine Mitarbeiterin des Grenzmuseums in Schlagsdorf. "Nichts blieb von dem Dorf übrig. Bis auf die Reste ehemaliger Bauerngärten, in denen im Mai oder Juni noch Pfingstrosen und Gartenlupinen blühen." 

Am Südufer des Mechower Sees treffe ich wieder auf den Kolonnenweg. Fast verschämt taucht er neben der Straße, die es damals gar nicht mehr gab, aus hohem Grasbewuchs auf und stößt auf Asphalt. Als wolle sich die Straße ihm in den Weg stellen. 


Von Schlagbrügge gehe ich die Straße nach Schlagsdorf, einem Dorf im ehemaligen Sperrgebiet, fast malerisch auf einem Hügel oberhalb des Muchower Sees gelegen. Ein Ort mit uralter Geschichte, der gesichtslos wurde, nicht mehr zu existieren schien, als der Sicherheitsgürtel im innersten Grenzbereich immer dichter wurde. Das erste, was mir in den Blick fällt, sind die Kästen der ehemaligen Kasernengebäude, heute zu einer Wohnanlage "aufgehübscht". Wächter und Bewachte lebten in unmittelbarer Nachbarschaft. Wenn die Schlagsdorfer Alarm hörten und die Grenzer mit ihren Fahrzeugen in größter Hast ausrückten, wussten sie, dass es mal wieder jemand versucht hat.


Wie es sich für ein altes Dorf gehört, steht unweit der Kirche die alte Dorfschule. Inzwischen ist das Schulgebäude zum "Grenzhus" umfunktioniert worden, einem Museum zur Erinnerung an das Leben vor 1989. Einen Moment überlege ich mir, ob ich reingehen soll, denn ich habe schon einige von ihnen gesehen. Dann tue ich es doch - und bin froh darüber. Sehr eindrucksvoll, prägnant und nicht überladen, schildert das Museum mit Fotos, Interview- und Quellentexten das Leben der Menschen an der Grenze zwischen Schnackenburg, Lauenburg und Lübeck, berichtet von Zwangsaussiedlungen, Grenzabsicherungen, gelungenen oder gescheiterten Fluchtversuchen und von den Tagen des euphorischen Glücks nach der Maueröffnung in Berlin und den darauf folgenden Grenzöffnungen überall hier in der Region. Ich sehe Fotos von Örtlichkeiten entlang der nördlichen Grenze, die ich selbst auf meinem Weg gesehen habe. Fotos aus schlimmen Zeiten, die diese friedlichen Bilder, die ich im Kopf habe, verblassen lassen. Ich lese von Fluchten, die genau dort versucht und oft gescheitert sind, wo ich nichtsahnend und vielleicht singend oder pfeifend entlanggezogen bin. Als ich nach mehr als einer Stunde das Museum verlasse, kann ich nicht sofort weitergehen. Im Museumscafé, in dem ich der einzige Gast bin, trinke ich einen Kaffee, muss tief durchatmen, versuche den Kopf wieder aufzuräumen, ihn wieder frei zu machen von dieser verdammten Grenze hier. 


Doch sie lässt mich nicht los: Auf den nächsten Kilometern treffe ich immer wieder auf Hinweistafeln, dort, wo der Hinterlandzaun den Weg kreuzte, wo der Beobachtungsturm stand, wo ein Fluchtversuch gelang, wo der Hauptzaun verlief, wo von einem Holzturm aus der Blick über den ganzen Mechower See geht, an dessen Ostufer der Hauptzaun ein kaum zu überwindendes Hindernis darstellte, wo eine Eisenschiene quer über dem Schotterweg liegt und damit zeigt, wo die politische Grenze war und heute zwischen zwei Bundesländern immer noch ist. Für heute ist's genug!


Die Grenze verlässt am Nordende des Mechower Sees meinen Weg und strebt auf das Ostufer des Ratzeburger Sees zu. Morgen werde ich dort wieder auf sie stoßen. Ich marschiere weiter in Richtung auf die Stadt, die dem See seinen Namen gab: Ratzeburg. Mechow bleibt hinter mir zurück, dann Bäk. Durch das Kupfermühlental erreiche ich das Ufer des Sees, sehe drüben auf der Stadtinsel den Dom auf einer kleinen Anhöhe aufragen, daneben steht das Herrenhaus der Mecklenburger Herzöge. Über den Königsdamm komme ich in den alten Stadtbezirk, laufe auf den Dom zu, werfe einen Blick hinein. Viel Geschichte liegt rechts und links am Weg, viel gäbe es zu erzählen, doch dies ist kein Touristen-Stadtführer. Ratzeburg ist nur eine der letzten Etappenziele meiner Wanderung auf dem Grünen Band Deutschland und nicht Ziel einer Städtetour.


An der Ruderakademie vorbei erreiche ich die neue Ratzeburger Jugendherberge, direkt am Ufer des Sees. Ein Schulorchester absolviert gerade eine Probenwoche. Wie ich so höre, sind die Proben auch bitter nötig, denn der Beatles-Song "Let it be" klingt noch etwas schräg. Ein 7. Schuljahr tobt draußen am See herum und drei Jungs versuchen gerade, sich unter Anfeuerung von etwa zehn Mädchen von einer Holzplattform ins Wasser zu schubsen. Die abseits stehende Pädagogin ist verzweifelt und zetert und der daneben stehende Pädagoge grinst nur und telefoniert über sein Handy mit seiner Frau. Am Abend wird draußen gegrillt, der Lärm ist beträchtlich, alle haben gute Laune, nur in einer Ecke sitzt ein Mädchen inmitten einer Traube von Klassenkameradinnen und heult. Wahrscheinlich Liebeskummer oder Heimweh. Bei einer kleinen Rangelei landet ein Teller mit Würstchen und Katoffelsalat auf dem Boden und der aufgetragene Ketchup flattert durch die Luft. - Ich freue mich, Pensionär zu sein!


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Ansichten eines Anglers

Zarrentin - Mustin (28 km)


Als ich beim Frühstück erscheine - ich gehe jetzt auch durch die Küche - , sind die Monteure schon alle weg. Kalter Rauch hängt noch in der Luft, aber immerhin brauche ich keinen frischen einzuatmen. Das Frühstücksangebot ist überaus reichlich. Wer den ganzen Tag arbeiten muss wie die Monteure, der braucht auch richtig was hinter die Kiemen. Und sowas ähnliches wie arbeiten tue ich ja auch.


Die Sonne scheint noch, als ich die Gaststätte Steffen verlasse und durch den alten Teil von Zarrentin zum Schaalsee hinuntergehe. Die Grenze verlief, wie heute die Landesgrenze auch, genau durch die Länge des Sees. Dadurch war "der Luftkurort vor den Toren Hamburgs", wie sich in den 30er-Jahren Zarrentin selbst bezeichnete, zu DDR-Zeiten völlig abgeschnitten. Die Stadt lag im Sperrgebiet. Alle uralten Verbindungswege zum benachbarten Mölln, Ratzeburg oder Lauenburg waren unterbrochen, Landstraßen gesperrt oder durch Kontollposten besetzt, Eisenbahnlinien aufgehoben oder abgebaut. Reisende überkam bei der mechanisch kalten Abfertigung am Grenzübergang Gudow - Zarrentin auf der nahegelegenen Transitautobahn Hamburg - Berlin eisiges Schaudern. Vor allem nach dem Mauerbau 1961 war Zarrentin vollkommen isoliert. Eine Kette gleißender 2000-Watt-Lampen tauchte nachts Zarrentins Hinterland in schmerzhaft grelles Licht. Natürlich war auch der Badebetrieb verboten. Erst nach der Wende blühte der Ort wieder auf.


Auf einem schönen Uferweg gehe ich am Schaalsee entlang, der glatt wie ein Spiegel daliegt. Boote liegen an kleinen Stegen, bunte Häuschen auf Pfählen ("Pahlhüser") stehen daneben, Schwanenpaare mit ihren Jungen ziehen an mir vorbei. Auf der Liegewiese des Seefreibads ist natürlich noch nichts los, und ich glaube, so schnell wird sich daran heute auch nichts ändern. Zum einen habe ich noch vorhin im Ort eine Digitalanzeige mit 13°C gesehen, zum anderen verdeckt gerade eine dunkle Wolkenwand die Sonne und wird ihr wohl so bald keinen Vortritt mehr gewähren.


Gletscher der Weichseleiszeit haben vor fast 120.000 Jahren die Grund- und Endmoränenlandschaft zwischen Ratzeburg und Zarrentin modelliert. Beim Abtauen spülte ihr Schmelzwasser Löcher und Rinnen aus und veränderte das von der Gletscherzunge geformte Land noch einmal. So auch das Bett des Schaalsees mit seinen Buchten und Inseln. Aufgereiht wie die Perlen einer Kette ziehen sich Schaalsee und Goldensee, Lankower See und Mechower See von Zarrentin bis nach Ratzeburg. Zu DDR-Zeiten patrouillierten Tag und Nacht Boote der Grenztruppen auf dem Wasser. Die östliche Uferseite war Sperrgebiet, außer den Grenzern kam keiner hin. Die Natur blieb nahezu unberührt. Es wuchs, was wuchs, und starb, was starb, niemand griff ein, regulierte oder beseitigte irgendwas. Und so sieht es auch heute noch aus, fast wie im Dschungel. Im Jahr 2000 erfuhr die vier Jahrzehnte lang "weggeschlossene" Landschaft am Schaalsee internationale Aufwertung als UNESCO-Biosphärenreservat. 


Ich tauche ein in diese Wildnis, laufe eine Weile und komme an einen Bootssteg, der weit in den See hinausragt. Auf dem Steg steht ein Angler, mir zugewandt, als hätte er gewartet, dass ich komme. Sein Gesicht strahlt mir entgegen, so dass ich gar nicht vorbeikann, ohne nach seinem Fang zu fragen. Erst sagt er nichts, schaut nur hinunter auf den Boden und strahlt noch mehr. Vor seinen Gummistiefeln liegt ein kapitaler Hecht. Dann verkündet er: "Zehn Pfund bringt der auf die Waage, mindestens." Und ich höre seinen Stolz. "Das war vielleicht ein Kampf! Über hundert Meter Schnur musste ich ihm geben. Eine halbe Stunde hat es gedauert, bis ich den Burschen endlich aus dem Wasser kriegte."


Er legt den Hecht wie einen Schatz in einen großen Eimer und geht dann mit ihm und seinen Angelutensilien zu einer Bank ans Ufer, setzt sich hin und stopft sich eine Pfeife. Ich frage ihn, ob ich mich einen Moment zu ihm setzen dürfe und ohne eine Antwort zu geben, rutscht er auf der Bank etwas zur Seite. Wir kommen ins Gespräch, wie das war damals, hier an der Grenze. Irgendwann sind wir bei den Grenzern.


"Die Grenztruppen waren hier Teil des Gemeinschaftslebens", erinnert er sich. "Sie hatten Patenschaftsverträge mit Schulen und Kindergärten, und Vertreter der Grenztruppen saßen im Stadtparlament. Man lebte miteinander und die bei der Ein- und Ausreise nach Zarrentin geforderten Formalien empfanden die meisten Bürger nicht als starke Einschränkung. Wir hatten uns daran gewöhnt. Aber dass Freunde, Verwandte und andere DDR-Bürger nur mit einem lange im Voraus zu beantragenden Passierschein einreisen durften, dass Familien praktisch auseinandergerissen wurden, war schon schmerzlich."


Er blickt sehr nachdenklich und nichts ist mehr zu sehen von der Freude über seinen gefangenen Hecht. "Diese Zeit hatte hässliche, aber auch menschlich schöne Seiten. Wir machten das Beste aus unserem Leben; einer war für den anderen da, man half sich gegenseitig und man feierte gemeinsam. Wir hatten Organisationen, die sich für das kulturelle Leben einsetzten, und unser Schulsystem war gut. Sicher", räumte er ein, "immer war Politik im Spiel, aber der Unterricht selbst bewegte sich auf hohem Niveau. Glauben Sie mir, ich war Lehrer."


Und dann sagt er fast kämpferisch: "Wir haben hier gearbeitet und unser Leben gestaltet. Wir lassen uns unsere Vergangenheit nicht nehmen." Mit etwas düsterem Gesichtsausdruck schaut er über den See und ich habe das Gefühl, ich sollte jetzt gehen. Ich verabschiede mich, lasse ihn mit seinen Gedanken zurück und mache mir meine eigenen. Als ich mich nach einiger Zeit nochmal rumdrehe, sitzt er immer noch auf seiner Bank und rührt sich nicht.


Nach ein paar Kilometern auf einem Radweg und anschließendem Abzweig auf einen Wirtschaftsweg, führt mich mein Weg auf eine kleine Anhöhe, auf der das kleine Dorf Techin liegt. Zu DDR-Zeiten verlief der Grenzzaun unmittelbar hinter den Häusern. Um den Zustand der Häuser stand es nach vier Jahrzehnten Grenze nicht sonderlich gut. Nach der Wende wurden sie von Grund auf saniert, mit Reet gedeckt und von einem Investor zu Ferienhäusern ausgebaut. Ein romantisches "Dörfchen" für Städter. Aber warum nicht? Immer noch besser als der vollkommene Verfall.


Um mich herum wird es dunkel. Nicht nur weil die Wolken über mir inzwischen tiefgrau sind und mich immer mal wieder mit etwas Nieselregen benetzen, sondern auch weil der Waldpfad, auf dem ich kurz nach Techin unterwegs bin, immer mehr von einem Dschungelpfad annimmt. Mit Ranken und Efeu bewachsene Bäume stehen dicht an dicht, einige sind auch umgefallen und strecken ihre Wurzeln in die Luft. Sumpfwasser steht neben dem Trail und schickt mir die Mücken in Scharen auf den Hals. Bevor sie mich ganz auffressen, führt ein Hohlweg mich hoch nach Lassahn.


Bis 1945 gehörte das Dorf, wie einige Nachbardörfer auch, zum Herzogtum Lauenburg. Danach aber fiel es am 26. November 1945 im Rahmen einer englisch-russischen Grenzbegradigung an die Sowjetische Besatzungszone. Eine dramatische Evakuierungsaktion folgte. Den Einwohnern, die erst am 14. November von dem bevorstehenden Gebietstausch erfuhren, wurde freigestellt, in den "Westen" zu gehen. Doch die Umsiedlung musste bis zum 28. November abgeschlossen sein. Die große Mehrheit der Lassahner entschloss sich, die Heimat zu verlassen, nur 14 Familien blieben. Bereits am 16. November begann man damit, das Vieh und landwirtschaftliche Gerätschaften abzutransportieren. Die Fischerboote wurden ans westliche Ufer gebracht. Alle Lassahner wurden mit der Fähre ans westliche Ufer bei Groß Zecher übergesetzt. Die Bevölkerung in den lauenburgischen Grenzorten wuchs beträchtlich, die Gebiete östlich des Schaalsees waren nahezu entvölkert. Später zogen sudetendeutsche Flüchtlinge in die ausgeplünderten und teilweise zerstörten Häuser ein.


Mittlerweile hat sich Lassahn wieder herausgemacht. Das schönste Gebäude ist die Dorfkirche St. Abundus. Sie steht, von einer Feldsteinmauer umgeben, hoch über dem Ufer des Schaalsees und ist teils aus Feldsteinen gebaut (1250), teils als Fachwerk gefügt (17./18. Jahrhundert).


Von Lassahn bis Kneese ist wieder die Landstraße mein Revier. Ulkig sieht sie aus: Dem Gelände angepasst läuft sie wie aufeinanderfolgende Wellen vor sich hin. Ein Motorradfahrer, der mich überholt, schein auf ihr entlangzusurfen, verschwindet im Wellental, um wenig später wieder, anscheinend mühelos, auf den Wellenberg emporgetragen zu werden, rauf, runter, rauf, runter ...


Für Kneese verspricht mir der Wanderführer ein Café, nach zwanzig bisher absolvierten Kilometern eine verdiente Belohnung. Doch dann die Ernüchterung: "Wir haben den Café-Betrieb eingestellt. Wir danken für Ihr Verständnis!" Es ist ja nicht das erste Mal, das ich eine erhoffte Raststelle verschlossen vorfinde, aus den verschiedensten Gründen. Dann eben nicht!


Acht Kilometer noch! Bei Dutzow umkurve ich den Dutzower See, die nördlichste Ausbuchtung des Schaalsees. Auch Dutzow hatte unter seiner Lage unmittelbar an der Demarkationslinie schwer gelitten. Familien wurden zwangsausgesiedelt, Häuser abgerissen. Nur wenige alte Häuser stehen noch, der Rest ist neueren Datums. 


Nach 28 Kilometern, mit nur einer Unterbrechung relativ am Anfang der Etappe, komme ich um 14.30 Uhr in Mustin an. Und siehe da: Ganz im Gegensatz zu einer gewohnten Wandergesetzmäßigkeit liegt meine Unterkunft heute am Anfang des Ortes. Eine schöne Herberge: "Landgasthof am kleinen See", neu, gemütlich, eine freundliche Wirtin. Draußen zieht gerade verstärkter Regen auf. Ist mir jetzt herzlich egal!


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Bis zum nächsten Mal, Wolfgang!

Langenlehsten - Zarrentin (18 km)


Wolfgang hat sich in der Nacht gut erholt. Er brennt nahezu darauf, heute wieder wandern zu dürfen. Wenn unten in der Diele nicht eventuell ein großer Bernhardiner lauern würde, würde er die Treppe hinuntertänzeln. So ist er etwas in seinem Schritt gehemmt, flötet aber ein präventives "Bernhard! Beeernhaaard!" die Treppe hinunter und macht uns beiden damit den Weg frei. Frau Kohn steht in der Küche und putzt gerade die Fliesen hinter der Herdplatte. Ihr Mann wollte ihr beim Herstellen von Erdbeermarmelade helfen, zog nur leider den noch rotierenden  Pürrierstab zu früh aus dem Erdbeermus. Das Ergebnis kann man sich ausmalen.


Nach einem gepflegten Frühstücks-Smalltalk, bei dem hauptsächlich Frau Kohn spricht, machen wir uns auf den Weg nach Zarrentin. Schnurgerade geht es durch Getreidefelder auf einen Kiefernforst zu, der kaum näher kommen will. Die Natur hat Erbarmen und schickt etwas Abwechslung: Hasen stürmen schonmal auf dem Weg vor uns her und Rehe springen durchs Getreide. Das Wetter ist für diese Strecke genau richtig. Wo kein Baum steht, gibt es bei Sonnenschein keinen Schatten und bei Regen und Sturm keinen Schutz. Also sind wir zufrieden mit dem bedeckten Himmel und der Windstille. Wir sind ja so genügsam.


Nach dem schnurgeraden Stück durch die Feldflur schließt sich ein doppelt so langes schnurgerades Stück durch den Kiefernforst an. Außer Kiefern gibt es auch hier das ein oder andere Reh, das wir erspähen, das wäre es aber auch mit der Abwechslung. Es sei denn, man zählt das langsame Anschwellen der Geräuschkulisse von der Autobahn Hamburg - Berlin mit dazu, dann wird es schon interessanter. Von der Brücke aus, die die Autobahn überspannt, sehen wir links die Raststätte Gudow liegen. Da klar ist, dass es bis Zarrentin keine andere Rastmöglichkeit gibt, machen wir einen kleinen Umweg und laufen "durch die Hintertür" die Raststätte an. Eine bequeme Sitzgelegenheit und ein Kaffee sollen es dann doch sein.


An parkenden LKW vorbei erreichen wir die Raststätte mit der Überschrift "Burger King", dabei denke ich, hier müsse "Gudow" drüberstehen, aber so ändert sich eben alles. Der Clubsessel im Restaurantbereich ist sehr bequem, die Preise machen mich fast wütend. So bleibt es tatsächlich beim Kaffee, obwohl die Verlockung, auch anderes zu verkonsumieren, relativ groß ist. Außerdem kostet ein Toilettengang 70 Cent, das hätte ich draußen auch preiswerter haben können. Nach einer halben Stunde sind wir wieder auf der Piste.


Jenseits der Raststättenanlage queren wir wieder die Grenze, raus aus Schleswig-Holstein, rein nach Mecklenburg-Vorpommern. Eigentlich müssten wir jetzt für einen Kilometer einen Kolonnenweg gehen, aber den gibt es nicht mehr, aufgehoben. Wo sind jetzt wohl seine Platten geblieben? Zu Schotter verarbeitet, irgendwo wiederverwertet? Mich interessiert das wirklich. Wo ist der ganze Kram hin? Natur und Kulturland sehen "im Osten" mittlerweile nicht mehr wesentlich anders aus als "im Westen", aber den Dörfern sieht man ihre DDR-Vergangenheit irgendwo immer noch an. Valluhn und Schadeland sind solche Dörfer. Zu lange lagen sie hier in Grenznähe im Abseits. Es wird wohl noch eine Zeit lang dauern, bis auch diese Narben unkenntlich geworden sind. 


Auf den letzten Kilometer fällt mir auf, dass die Landschaft sich verändert. Vorbei ist es mit dem platten Land. Aus leichten Wellen werden Hügel, die letzten Kilometer des Weges schwingen sich auf und ab und Wolfgang sieht gewisse Parallelen zu den Elbbergen hinter Boizenburg. Das ist natürlich maßlos übertrieben, aber im Ansatz nicht falsch. Doch Wolfgang ist motiviert: Nach Zieleinlauf in Zarrentin ist für ihn die dreitägige Wandererfahrung Teil 2 beendet und ursprünglich war die Rückfahrt mit dem Bus von Zarrentin zu seinem Wagen nach Boizenburg für nach 17 Uhr angedacht. Ein zufälliger Blick aber auf einen Fahrplan an der Bushaltestelle von Valluhn, durch das der Bus ebenfalls fahren wird, hat gezeigt, dass bereits um 14.00 Uhr sich ein früherer Bus auf den Weg gen Boizenburg machen wird. Also schreitet er beflügelt voran, das müsste doch zu schaffen sein.


Mit der Uhr im Auge, aber letztlich ohne Stress, kommen wir tatsächlich frühzeitig genug in Zarrentin an. Sogar so frühzeitig, dass wir noch fürstlich speisen können. Seit Lauenburg schlummert in Wolfgangs Rucksack noch ein Rest Sauerfleisch vom abendlichen Essen. Zusammen mit den zwei Brötchen, die er sich gestern zusätzlich zum Bier in Büchen gekauft hat, ergibt dies eine hervorragende Abschiedsmahlzeit für zwei Personen. Nicht weit weg von der Bushaltestelle hocken wir uns auf eine Vorgartenmauer und verdrücken diese Reste mit Genuss.


Zwanzig Minuten später biegt der Bus um die Ecke. Drei schöne gemeinsame Tage mit 60 zusammen zurückgelegten Kilometern liegen hinter uns. Wolfgang steigt in den Bus, ein letztes Winken, die Bustüren schließen sich. Wenn du dich nochmal motivieren kannst, mich irgendwann mal ein Stück zu begleiten, Wolfgang, immer wieder gerne! Für die gute Laune unterwegs bist du immer eine Bereicherung.


Eine Woche noch habe ich jetzt wieder alleine vor mir. Dann war es das!


Meine Unterkunft in Zarrentin liegt keine hundert Meter von der Bushaltestelle entfernt. Eine Gaststätte mit drei Zimmern, die hauptsächlich "Monteurzimmer" sind. Das Zimmer ist ok, obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, ob meine Nase nicht doch leichten Zigarettenduft in den Gardinen wahrnimmt. Abends verblüfft mich, dass die anderen Zimmergäste, wohl alles Monteur-Stammkundschaft, direkt durch die Küche den Gastraum betreten. Als ich dann zu meinem Bedauern feststellen muss, dass auch noch kräftig geraucht wird, ist mir schnell klar, dass hier andere Gesetze herrschen. Dafür ist mein Schnitzel auf Toast gefällig groß, keine Fingerhutportion, sondern tellerdeckend. Man kann eben nicht alles haben ...


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Bitte eine Bank!

Lauenburg - Langenlehsten (25 km)


Man muss es einfach sagen: Die Jugendherberge "Zündholzfabrik" in Lauenburg ist einfach eine Top-Adresse: ihre Lage unmittelbar am Rand der Altstadt und am Ufer der Elbe, die schönen Zimmer mit Elbblick, die gemütliche Bar mit angeschlossener Bibliothek und heute Morgen dann das Frühstücksbuffet im freundlich hellen Speiseraum, ebenfalls mit Blick auf die friedlich dahinfließende Elbe. Und die Zeiten, als man noch selbst spülen musste, sind sowieso längst vorbei.


In Anbetracht der heutigen Etappenlänge verschaffen wir uns nach Verlassen der Jugendherberge etwas Erleichterung. Wir durchqueren nicht nochmal, wie bereits gestern, die gesamte Altstadt bis zur Brücke am Elbe-Lübeck-Kanal zu Fuß und verschwenden auf dem sperrigen Kopfsteinpflaster unsere Zeit, sondern nehmen den Bus.


Unmittelbar vor der Kanalbrücke verlassen wir ihn wieder und biegen direkt danach mit einem kräftigen Schwung nach Norden auf meine Zielgerade ein. Eine denkbar lange Zielgerade von etwa 160 Kilometern, aber auch eine unglaublich kurze, betrachtet man die Strecke, die hinter mir liegt. Das Wetter sieht nicht gerade nach einem Sommertag aus, tief hängen die Wolken, als wollten sie sich bald über uns ausschütten, aber noch geben sie Ruhe. 


Ruhe herrscht auch am Elbe-Lübeck-Kanal, dem wir uns auf einem breiten Weg nähern. Bei seiner Einweihung durch Kaiser Wilhelm 1896 war er noch ein hochmoderner Kanal. Immerhin können hier Schiffe von 80 m Länge verkehren, aber für einen wirtschaftlichen Containertransport, wie er heute üblich ist, reicht es nicht mehr. Bis auf kleinere Lastkähne tut sich hier nicht viel. Wolfgang und ich sehen nicht einen einzigen. 


Bei Dalldorf verlassen wir den Kanal und steuern auf einer kleinen Landstraße auf Zweedorf zu. Nach 500 m überqueren wir die durch die Niederung mäandrierende Delvenau, die für einige Kilometer die Grenze darstellte. Ich schaue mich nach dem Kolonnenweg um, auf den wir hier treffen müssten, aber Fehlanzeige. Wenn es ihn noch gibt, dann ist er total zugewachsen. Außerdem ist es mittlerweile passiert: Es hat angefangen zu regnen. Jetzt durch hohes Gras und wir wären bis zu den Knien total durchnässt. Ein Blick auf die Karte. Kein Problem, wir bleiben auf dem Sträßchen, gehen über Zweedorf und Schwanheide, verlassen damit zwar deutlich das Grüne Band, behalten aber trockene Füße und Hosen. Außerdem könnten wir mal eine Bank vertragen, es wäre Pausenzeit.


In Zweedorf kommt schonmal keine Bank. Und nur mit einer Bank wäre es jetzt auch nicht getan. Sie müsste schon überdacht sein. Banksitzen im Regen ist nur suboptimal. Zweedorf hat zwar ein Buswartehäuschen, aber die Bank, die dort montiert war, hat ein böser Mensch auch wieder abmontiert. Also weiter! Kurz vor Schwanheide zweigt ein Weg zurück zum Grünen Band ab. Ich bin unsicher, ob wir den nehmen sollen. Wenn wir dort auf einen immer noch zugewachsenen Kolonnenweg stoßen, haben wir den Salat. Außerdem finden wir dort bestimmt keine Bank, geschweige denn eine trockene in einem Buswartehäuschen. Also weiter auf der Straße! 


Sie ist lang und gerade - und Wolfgangs Schritt wird spürbar langsamer. In Schwanheide, einem größeren Ort, die Hoffnung auf eine trockene Bank. Aber zunächst wieder nichts! Der Regen wird ergiebiger. Am Bahnhof sind wir sicher: An einer Art kleinem Busbahnhof steht ein Holzbauwerk. Das MUSS ein Buswartehäuschen MIT Bank sein. Wir kommen näher und es ist - ein Buswartehäuschen OHNE Bank. Wolfgang freut sich so gar nicht und sucht Schuldige für unser Unglück. Bänke gar nicht erst montiert wegen marodierender Jugendlicher, die sowieso auch schon die Wände beschmiert haben? Kann sein, muss nicht sein. Hilft nix, weiter! Inzwischen sind wir mehr als drei Stunden unterwegs.


Die Straße von Schwanheide in Richtung Langenlehsten geht durch einen Kiefernforst und ist noch länger und noch gerader. Wolfgang vermutet, dass "in 50 Kilometern" kein Ort kommt - und natürlich auch keine Bank. So ganz Recht hat er nicht, aber es zieht sich schon gewaltig. Zumal es keine schön glatt asphaltierte Straße ist, sondern mal wieder ein holpriges Pflaster. Nur gut, dass es links und rechts davon einen glatten Randstreifen gibt, auf dem mein Wheelie rollt. Am besten laufen wir uns in Trance, fahren alle Empfindungen runter, nehmen die Nässe, wie sie kommt, vermeiden jeden Gedanken, lassen die Umwelt verschwimmen und gehen einfach geradeaus. Aber das hebt die Stimmung nicht wirklich. So ziehen wir denn dahin, mäkeln genüsslich über die hiesige Ruhebanksituation und lassen den Regen unwidersprochen auf uns herabrinnen. 


Trotz all dieser Widrigkeiten muss ich aber auch an das Drama denken, was sich nicht weit von hier am 1. Mai 1976 ereignete: Der erst17-jährige systemkritische Michael Gartenschläger war 1961 von der DDR wegen "Propaganda" und "Hetze" zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt, jedoch nach zehn Jahren von der Bundesrepublik freigekauft worden. Unbeirrt in seinem Bemühen, die menschenverachtenden Praktiken der DDR-Führung zu entlarven, hatte er dann vom Westen aus Fluchthilfe betrieben. Im Frühjahr 1976 baute er am Grenzzaun nördlich von Boizenburg zwei Selbstschussanlagen ab, deren Existenz die DDR immer geleugnet hatte. Er legte sie dem SPIEGEL zur Berichterstattung vor, die Stasi, vor allem ihr Chef Erich Mielke, tobte.


In der Nacht zum 1. Mai 1976 machte sich Gartenschläger erneut am Grenzknick zwischen Böthen und Leistenförde zu schaffen, um eine dritte Selbstschussanlage abzubauen. Doch in dieser Nacht lagen Männer einer geheimen Eingreiftruppe der Stasi auf der Lauer, um ihn, den "Provokateur und Staatsfeind" zu liquidieren. Michael Gartenschläger wurde erschossen und als "unbekannte Wasserleiche" beerdigt. Der Knick in der Grenze, nur ein paar hundert Meter von der Straße entfernt, auf der Wolfgang und ich uns gerade entlangmühen, heißt im Gedenken an das Opfer noch heute Gartenschlägereck. Auch wenn ich jetzt nicht am Gedenkkreuz stehe, geht mir diese Geschichte doch wieder nahe. Sie ist wieder kaum fassbar, aber auch nicht auszublenden. So war es jedesmal an solchen Orten, und so ist es jetzt wieder. Es dauert seine Zeit.


Tatsächlich tauchen irgendwann mal Häuser auf, nicht mehr als drei oder vier: Leistenförde. Immer noch Regen, keine Bank, wir sind vier Stunden auf den Füßen. Vor dem Zaun eines Hauses dann eine große Kiste mit Deckel. Auf dem Deckel steht das Wasser, doch Wolfgang WILL JETZT SITZEN. Wir sind gerade dabei, mein Sitzkissen aus meinem Rucksack zu zerren, als sich bei dem Haus die Tür öffnet. "Kann ich Ihnen helfen?", ruft eine Frauenstimme zu uns herüber. Ich registriere neben der Tür unter dem Hausvordach eine Bank und versuche es mit der Jammernummer: "Wir gehen jetzt schon über vier Stunden ohne Pause und finden einfach keine trockene Bank. Jetzt wollen wir uns hier auf die nasse Kiste setzen." Es funktioniert. "Kommen Sie, Sie können sich auch hier auf die Bank setzen." Bingo! Das ist Musik in unseren Ohren! Eine trockene Bank unter einem Vordach mit Sitzkissen. Als dann nach kurzer Zeit sogar noch Kaffee gereicht wird, sind wir mit unserem Schicksal wieder versöhnt.


Nach einer halben Stunde gemütlicher Rast machen wir uns an die letzten vier Restkilometer. Der Regen hat aufgehört, es klart sogar auf. Zaghaft bilden sich Löcher in der Wolkendecke und ab und zu kommt die Sonne durch. Je näher wir Langenlehsten kommen, desto langsamer wird Wolfgang. Er hat genug für heute, wir müssen ankommen. Noch nie hat er solch eine Strecke zu Fuß zurückgelegt, aber die letzten Meter werden jetzt bitter. 


Dann kommt das, was in solchen Situationen oft vorkommt. Langenlehsten ist ein langgezogenes Straßendorf. Die Pension liegt an der Dorfstraße Nummer 22. Nummer 2 ... 6 ... 10 ... 14a ... 14b ... 14c ... das darf doch jetzt nicht wahr sein! ... 16 ... 18a ... 18b ...neiiiin!!! ...20 ...22 ... endlich! Die Unterkunft liegt am Ende des Dorfes. Das letzte Haus! Wolfgang wirft sich auf die Bank neben der Haustür, ich drücke die Klingel. Frau Kohn, die Pensionswirtin, öffnet und schaut irritiert. "Haben Sie gebucht?" Jetzt wird aber der  Hund in der Pfanne verrückt. Dann scheint es der lieben Frau zu dämmern. "Ich glaube, ich habe mich um eine Woche vertan. Aber keine Angst, ich habe ein Zimmer frei. Ich muss nur noch die Betten beziehen." Erleichterung! 


Jetzt muss noch die Verpflegungssituation geklärt werden. Wolfgang hat zwar noch Sauerfleisch vom Abendessen in Lauenburg im Rucksack, aber dazu brauchen wir wenigstens noch Brot. Wir bitten Frau Kohn darum und erhalten sogar ersatzweise eine Packung Kartoffelsalat. "Haben Sie denn auch etwas Bier da?", folgt Wolfgangs hoffnungsvolle Frage. Als Frau Kohn aus ihren letzten Beständen zwei kleine Flaschen hervorkramt, wird das Gesicht von Wolfgang sichtlich länger. Doch dann fügt sich mal wieder alles. Ein nettes Ehepaar, als Dauergast vorübergehend bei Kohns einquartiert, spendiert uns zum Kartoffelsalat jeweils zwei Bratwürste, die man uns sogar noch brät, und als der Mann des Paares sich noch bereiterklärt, mit Wolfgang ins zehn Kilometer entfernte Büchen zu fahren, um ein wenig Flüssignahrung zu besorgen, ist für Wolfgang die Welt wieder absolut in Ordnung. Sein härtester Wandertag hat ein glückliches Ende gefunden.


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Wandermotiv: Grenz-Nostalgie

Boizenburg - Lauenburg (15 km)


Wenn ein Freund zu Besuch ist, es viel zu erzählen gibt und in der Bar der Jugendherberge (!) von Lauenburg ein leckeres Bier gezapft wird, dann bleibt keine Zeit zum Bloggen. Meine Beiträge für die Zeit während Wolfgangs Anwesenheit kommen also etwas zeitversetzt.


Einen Frühstücksraum gibt es in der "Pension am Hafen" in Boizenburg nicht, dafür aber "Zimmerservice". Das Tablett, das uns unser Pensionswirt aufs Zimmer bringt, ist reich gefüllt, draußen lacht mal wieder die  Sonne - der Tag fängt gut an. Um 9 Uhr startet für Wolfgang - nach den drei Tagen auf dem Mauerweg in Berlin - der zweite Teil der Selbstprüfung nach dem Motto "Mal sehen, ob ich das schaffe. Wenn es keinen Spaß macht, verliere ich aber vielleicht ein paar Kilo Bauchspeck". Nein, Spaß beiseite, eine große Motivation für ihn, gerade hier nach Boizenburg zu kommen und ein Stück mit mir zu gehen, hat etwas mit Nostalgie zu tun. Mehr als dreißig Jahre lang hat er den deutsch-deutschen Grenzübergang bei Lauenburg/Boizenburg genutzt, nutzen müssen, um nach Siedenbollentin, einem kleinen Ort im tiefsten Meck-Pomm-Land zu gelangen, wo verwandschaftliche Wurzeln von ihm liegen und er seit seiner Kindheit Ferientage verbracht hat. Er will diesen Grenzübergang nochmal sehen, schauen, was von ihm noch übrig ist, sich erinnern, wie das damals war bei den entwürdigenden Kontrollen. Verbunden mit einer einfachen Strecke durch flaches Gelände stellt er sich diese drei Tage als eine schöne Abwechslung vom Alltagsleben im Ruhrgebiet vor. 


Direkt hinter der Pension geht es für ein paar hundert Meter am Hafengelände mit den alten Werftanlagen vorbei. Schiffsbau war einst hier angesagt, besonders für den "großen Bruder" Sowjetunion wurden Fahrgastschiffe gebaut. Im Hafen landeten aber auch Frachtschiffe mit Unmengen an hochwertigem Ton an, der von dort mit einer etwas mehr als zwei Kilometer langen Güterbahn an den östlichen Stadtrand zur Fliesenbabrik gebracht wurde. Boizenburg war die "Stadt der Fliesen", mit einem traditionsreichen Werk, das zu DDR-Zeiten halb Europa mit Keramikfliesen versorgte, vor allem den westlichen Teil, sodass es für die eigene Bevölkerung nicht reichte. Boizenburger Fliesen erster Wahl aufzutreiben, war für Normalbürger ungefähr so kompliziert, wie einen fabrikneuen Trabi vor Ablauf der üblichen Wartezeit zu ergattern, und das waren zwölf bis 14 Jahre.


Hinter Boizenburg marschieren wir anhaltend die Straße bergauf. Jawohl, bergauf! Es geht die Elbberge hoch. Ich war darauf vorbereitet, Wolfgang so gar nicht. Er ging von einer flachen Strecke an der Elbe entlang aus, so wie ich sie während der letzten Tage genießen konnte. Stattdessen wird es "bergig". Als wir an der Straße entlang die Höhe erreichen, sehen wir ein Bauwerk vor uns, das wie ein ehemaliger kleiner, abgebrochener Beobachtungsturm der Grenztruppen aussieht. "Checkpoint Harry" steht drauf. Gegenüber am Straßenrand ein ehemaliges Kontrollgebäude, Fenster vergittert. Neben dem Schild "Checkpoint Harry" der Zusatz "Restaurant", Werbung lockt mit Radeberger Bier. Hier war bis 1989 der "Vorgrenzposten Vier" zur Abfertigung Reisender von und nach Boizenburg. 


In Vier zweigen wir von der Straße ab und gehen wieder Richtung Elbe. Nur die liegt inzwischen tief unter uns. Vom "Elwkieker", einem hölzernen Aussichtsturm, der heute am Standort eines ehemaligen Wachturms am Steilabfall zur Elbe steht, schauen wir auf den Fluss hinab. Ich sehe einen großen Abschnitt meiner Strecke von gestern dort unten liegen, die Deiche links und rechts der ausladenden Elbe, die Marschwiesen, die Häuser von Gothmann und ganz weit hinten die von Stiepelse, ganz viel Niedersachsen, ein wenig Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein.


Dann geht es los! Wie auf einer Achterbahn verläuft unser Waldpfad durch die Elbberge. Hinunter geht es in kleine Schluchten und Siefen, um direkt auf der anderen Seite wieder ordentlich steil bergauf zu gehen. Ich selbst bin überrascht von der Berg- und Talfahrt und fühle mich an beste Kolonnenwegzeiten im südlicheren Teil des Grünen Bandes erinnert. Wolfgang stöhnt, schnauft und schwitzt und wähnt sich im falschen Film. "Ich dachte, hier an der Elbe entlang wäre alles flach. Was ist das denn jetzt? Das macht ja überhaupt keinen Spaß, hier bergab zu laufen, weil es danach sowieso wieder bergauf geht ...!" Er schimpft wie ein Rohrspatz und ich amüsiere mich köstlich. Doch der Schweiß fließt mir genauso wie ihm.


Direkt neben dem Pfad tauchen auf einmal alte Betonpfosten auf, traurige Reste des alten Grenzsignalzauns, der sich hier durch den Wald zog, genauso wie unser Pfad jeder Schlucht und jedem Siefen folgend. Was muss das für die Bautrupps damal eine Schinderei gewesen sein, hier diesen Zaun zu errichten ...


Irgendwann hat die Achterbahnfahrt ein Ende und wir treffen auf ein Stück Kolonnenweg, der uns stetig bergab wieder an die B 5 bringt. Wir haben die Elbberge geschafft und sind wieder auf Höhe der Elbe. Der Straße entlang folgen wir für einen Kilometer einem neu asphaltierten Radweg - und Wolfgang fällt sofort auf: "Genau hier liefen damals immer die Hunde her und links und rechts der Straße war der Zaun."


Wir kommen an die Stelle, wo die B 5 an dem kleinen Ort Horst vorbeiführt. Hier lag der Hauptgrenzdurchgang zwischen Lauenburg (West) und Boizenburg (Ost). Zunächst war er von der Roten Armee bewacht, ab Mai 1952 hatten ihn ostdeutsche Grenzpolizisten übernommen. Danach wurde Schlag auf Schlag die Grenze dichtgemacht, ein Abfertigungsgebäude entstand, der Horster Damm, heute gleichbedeutend mit der Straße bis Boizenburg, wurde beidseitig eingezäunt, Hundelaufanlagen wurden installiert. Bis auf eine große geteerte Fläche ist vom ehemaligen Abfertigungsgelände nichts mehr zu erkennen, doch ich denke, es reicht, Wolfgang noch den einen oder anderen Schauer über den Rücken zu treiben. Wie oft hat er hier mit Teilen seiner Familie im Auto gesessen und war den Schikanen der Grenzer ausgesetzt. Er ist der Meinung, dass man nach der Wende mehr von dieser Anlage hätte zur Erinnerung und Mahnung erhalten sollen. Etwas abseits der Straße steht nur noch die renovierte ehemalige Wohnanlage der Grenztruppen und Stasimitarbeiter von einem hohen Zaun umgeben im Kiefernwald. Heute dient sie als Asylbewerberheim.


Hinter Horst geht es endlich nochmal wieder auf einen Deich, für Wolfgang zum ersten, für mich zum letzten Mal während meiner Tage an der Elbe. Bald schon sehen wir die ersten Gebäude von Lauenburg vor uns, eine große Werfthalle, die große Auto- und Eisenbahnbrücke über die Elbe, eine kleinere über den Elbe-Lübeck-Kanal. Und schneller als gedacht sind wir in der Altstadt unten am Elbufer. Eine enge Straße mit grobem Pflaster, kleine und große Fachwerk-Backsteinhäuser, gepflegt, urig. 


Handel hatte immer Wohlstand in das Elbestädtchen gebracht. Dabei spielte der Salzhandel eine bedeutende Rolle, besonders nachdem die Alte Salzstraße als Haupthandelsroute durch den Elbe-Lübeck-Kanal abgelöst wurde. Doch dann kam die "Zonengrenze" und mit ihr wurden alte menschliche und wirtschaftliche Verbindungen gekappt und die Region Lauenburg bis zum Mauerfall ins wirtschaftliche Abseits geschoben. Lange Zeit war man im toten Winkel der Elbe. Schlecht fürs Geschäft, es fehlte das Hinterland. Dann ging die Grenze auf, alles boomte, expandierte. Doch nach und nach bekamen die Mecklenburger ihre eigenen modernen Läden, und man versank wieder in den Dornröschenschlaf. Bis zur Grenzöffnung bekam man wenigstens Zuschüsse im Rahmen der Zonenrandförderung. Damit war jetzt Schluss. Jetzt setzt man stark auf touristisches Potenzial.


Einiges an Menschen sitzt in den Gastronomien oder spaziert fotografierend durch die enge Elbstraße. Ausflugsschiffe liegen am kleinen Kai und verlassen es Richtung Hitzacker oder Hamburg. Wolfgang und ich lassen uns ebenfalls durch die Altstadt treiben und stehen irgendwann vor der neuen Jugendherberge "Zündholzfabrik", unmittelbar am Elbufer. Gebucht habe ich nur leider in der alten Jugendherberge "Am Sportplatz", etwas außerhalb der Stadt. Wir haben keine Lust mehr, den Weg bis dorthin zu Fuß zurückzulegen und fragen in der "Zündholzfabrik" nach Möglichkeiten, eventuell mit einem Bus dorthin zu gelangen. Doch ganz unerwartet ergibt sich eine viel bessere Alternative. Da beide Jugendherberge über dieselbe Geschäftsführung laufen und hier noch Zimmer frei sind, bucht die nette Dame an der Rezeption um und wir sind unerwartet bereits am Ziel - in einer modernen Jugendherberge, in schönen Zimmern und abends in einer gemütlichen Bar bei einem leckeren Bier. 


Und draußen, an der Herberge vorbei, fließt die Elbe, Hamburg entgegen.


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Der Elbe mehr Raum

Stiepelse - Boizenburg (15 km)


Beim Frühstück sitze ich mit einem Mann zusammen, der noch was vor sich hat. Er ist vor ein paar Tagen mit dem Zug von Freiburg nach Flensburg gefahren und ist jetzt auf dem Weg mit dem Fahrrad zurück. Dazu nimmt er nicht unbedingt die direkteste Linie, sonst wäre er nicht jetzt in Stiepelse. Im Prinzip folgt er dem Grenzverlauf der ehemaligen innerdeutschen Grenze bis auf die Höhe von Fulda, ohne aber unmittelbar am Grünen Band entlangzufahren. Ab Fulda schwenkt er dann Richtung Südwesten auf seine Heimatstadt zu und will auf seinem Weg viele Flusstäler nutzen. 


Vor mir liegen erstmal noch zwei Tage Elbe. Weiterhin ist es der Elberadweg, weiterhin sind es die Deiche, die meinen Weg bestimmen. Wirklich endlos liegen nach Norden hin die Marschwiesen, und wenn ich dort Bäume sehe, dann sind es diejenigen entlang der Straße, die sich in einiger Entfernung zum Deich parallel entlangzieht, die Deutsche Storchenstraße. 


Selbst menschliche Besiedlungen gibt es heute am Deich kaum. Nur Neu-Bleckede kommt bald hinter Stiepelse und das sind nur wenige Häuser. Und doch bleibe ich einen Moment stehen. Drüben, am anderen Elbufer liegt Bleckede, ein Städtchen, mindestens so groß wie Hitzacker. Neu-Bleckede ist praktisch nichts anderes als die Fähranlegestelle am gegenüberliegenden Ufer. Doch mehr als 45 Jahre setzte diese Fähre nicht mehr über. Jetzt kommt sie gerade wieder mit drei Autos an Bord über den Fluss geschippert. Dafür aber hatte Neu-Bleckede über Jahrzehnte einen Führungsturm, direkt am Deich, direkt an der Stelle, wo es zur Anlegestelle runter geht und von wo aus gleich die Autos hochgefahren kommen, um weiter in die Marschen zu fahren. Was würden dazu die Grenzer sagen, die dort oben auf der Beobachtungskanzel einst ihren "Dienst am Sozialismus" getan haben? Kaum zu begreifen auch, dass dieser Turm nur wenige Meter entfernt von den Häusern am Deich steht. Was musste das für ein Gefühl gewesen sein, unter ständiger Beobachtung zu leben. Mit ihren Ferngläsern konnten die Grenzposten in die Fenster hineinsehen. War es erlaubt, diese immer mit einem Vorhang gegen Einblicke zu schützen? Wie hat man im Garten gearbeitet, wenn man sicher sein konnte, dass jeder Handgriff beobachtet wurde?


Der nächste Deichabschnitt ist noch neuer, als die der letzten drei Tage. Unter dem Eindruck des Jahrhunderthochwassers von 2002, aber auch von Hochwasserständen in den folgenden Jahren, wurden hier ebenfalls unter dem Motto "Der Elbe mehr Raum" die Deiche bis zu 250 m rückverlegt und gleichzeitig erhöht und verstärkt. Eine existentiell wichtige Investition in die Zukunft, denn der Klimawandel ist nicht aufzuhalten. Diese neuen Deiche haben für den Radwanderer (und dadurch natürlich auch für den Wanderer) zwei Auswirkungen. Entweder verläuft der Radweg oben auf der Deichkrone auf wunderbar platter Platte oder er führt "landeinwärts", am Fuße des Deichs, entlang. Warum er nicht durchgehend auf der Krone verläuft, hat sich mir noch nicht so ganz erschlossen. Denn den "Deichverteidigungsweg" unten entlang gibt es sowieso immer. Ich denke mal, man hat sich was dabei gedacht.


Wieder erfreut mich die Tierwelt: Der Hase hoppelt, die Störche schweben heran und lassen sich auf den Wiesen nieder, in Eintracht mit ihren Gevattern, den Reihern, Wildgänseformationen kommen laut schreiend angerauscht und landen wie die Wasserskifahrer auf den im Deichvorland neu geschaffenen Flutrinnen, und Kuhherden liegen träge widerkäuend im Gras und dösen vor sich hin. Jedenfalls solange Radfahrer an ihnen vorbeiziehen. Wenn ich aber mit meinem Wheelie an ihnen vorbeirolle, stehen sie hektisch auf, laufen zusammen - und schauen mich unglaublich blöde an. Was habe ich an mir, das Radler nicht haben? Ist es die rote Farbe meines Anoraks oder die neongelbe meines Wheelie-Regenschutzes? Oder kennen Sie einfach nur die Spezies Mensch, die auf einem Rad mit den Füßen strampelnd an ihnen vorüberzieht? Teilweise verfolgen sie mich sogar etliche Meter und kommen anscheinend aus dem Staunen gar nicht mehr raus.


Kurz vor Gothmann komme ich wieder an eine Grenze, die es vor 25 Jahren so hier nicht gab. Für mich endet die Durchquerung des Amtes Neuhaus und damit des Stücks Niedersachsen und ich wechsel wieder nach Mecklenburg-Vorpommern. Genau dort, an der unmarkierten Grenze, steht ein hoher hölzerner Aussichtsturm. Natürlich klettere ich die Stufen hoch - und bin beeindruckt von dem, was ich sehe. Ungeheuer weit geht mein Blick: Ganz dahinten müsste Stiepelse sein, dazwischen der teils gradlinige, teils geschwungene neue Deich, auf dem ich entlangmarschiert bin, die Marschen, die Flutrinnen, eine Schafherde, die sich auf einer riesigen Marschwiese ausmacht wie ein heller Farbfleck auf grünem Grund und gar nicht mehr so weit, vor den Elbbergen, erkenne ich die blauen Kräne der alten Werft des Hafens von Boizenburg.


Eine Stunde später bin ich da. Am Stadtrand treffe ich auf einen Teich, dessen Zulauf Teil eines Wallgrabensystems ist, das die Altstadt umgibt. Unmittelbar darauf bin ich in der Altstadt, eine heimelige Atmosphäre aus Fachwerk, Backsteingemäuer und Kopfsteinpflaster. Das Rathaus steht frei auf einem großen gepflasterten Marktplatz, sein Fachwerk ist mit Backsteinen ausgemauert, unter den Arkaden der Vorderfront hängen die Waagschalen der Justitia. Im Hintergrund erhebt sich der Backsteinbau der dreischiffigen St.-Marien-Kirche.


Viel ist nicht los im Städtchen. Ab und zu rumpelt ein Auto über den Asphalt, ein älteres Ehepaar sitzt vor der Eisdiele am Marktplatz an einem kleinen Bistrotisch und ein Imker, der bis jetzt seinen Honig auf dem Marktplatz verkauft hat, verstaut gerade seinen Stand in seinem Autoanhänger. In wenigen Minuten habe ich die Altstadt durchkreuzt, erreiche den Hafen. Einst recht geschäftig, verlor er noch zu DDR-Zeiten an Bedeutung, ein Zustand, an dem auch die Wende nichts geändert hat. Nur noch Sportboote machen am Kai fest. 2001 wurde der Hafen aufwendig modernisiert, doch das Hafenbecken wirkt überdimensioniert und man hat den Eindruck als warte es darauf, zu neuem Leben erweckt zu werden.


Direkt am Hafen liegt auch meine kleine Pension. Hier warte ich auf Wolfgang, der irgendwann am Nachmittag auftauchen wird. Ich überbrücke die Zeit mit einem kleinen Schönheitsschlaf und kurz nach 17 Uhr steht er tatsächlich auf der Matte. Ich bin begeistert. Besuch von einem lieben Freund, es werden drei schöne Tage werden. Für mich. Wie Wolfgang als Ungeübter die kommenden Kilometer wegstecken wird, bleibt abzuwarten. Morgen geht es nur über 15 Kilometer bis nach Lauenburg, übermorgen aber sind es 26 Kilometer und das ist schon eine andere Hausnummer. Aber wir werden sehen, bangemachen gilt nicht!


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Geschundenes Vockfey

Hitzacker - Stiepelse (26 km)


Um Punkt 9 Uhr bin ich an der Fähre, die mich zurück ans andere Elbufer bringen soll. Früher wäre auch sinnlos gewesen, denn um diese Zeit erst legt die Fähre das erstemal von der Anlegestelle Hitzackers ab. Damit ist sie mehr als drei Stumden später in Dienstbereitschaft als die in Schnackenburg. Großer Unterschied: Der Fährmann in Schnackenburg transportiert auch Autos, d.h. wohl auch Berufstätige, die irgendwo jenseits der Elbe ihre Arbeitsstelle haben. Dagegen ist die Fähre von Hitzacker nur eine Personenfähre, d.h. hauptsächlich für Radler, die in Hitzacker Quartier bezogen haben und morgens wieder zurück zum jenseitigen Elberadweg wollen. Nur von dieser Spezies ist noch keiner zu sehen. Sind wohl etwas spät dran, die Herrschaften.


"Wenn jetzt die Sonne scheinen würde, wäre das wohl anders", meint der Fährmann. "Und Sie wandern? Hat man hier nicht so oft. Hier fährt alles mit dem Rad. Von wo kommen Sie denn?" Als ich ihm die Tschechische Grenze nenne, meint er anerkennend: "Dann haben Sie ja schon 500 Kilometer geschafft!" Ich wundere mich kurz, dann wird mir sein Irrtum klar. Der Elberadweg beginnt (oder endet) ebenfalls an der Tschechischen Grenze und er denkt wohl, dass ich den Radweg erwandere. Als ich ihm mitteile, dass ich auf dem Grünen Band unterwegs bin und mittlerweile bereits über 1100 Kilometer hinter mehr habe, zeigt er sich einigermaßen fassungslos? "Und jetzt geht's weiter bis Cuxhaven?" Gedanklich ist er schon wieder beim Elberadweg. Ich muss innerlich grinsen. Dann hätte Hamburg ja auch 45 Jahre lang in der DDR gelegen. "Nee, bis an die Ostsee, bis zum Priwall bei Lübeck", versuche ich ihm klarzumachen. "Boah, das ist aber noch ein Stück!", stellt er fest und schaut mich mit großen Augen an. "Ja schon, aber nicht mehr so weit wie bis nach Cuxhaven."


Von der Sonne ist in der Tat nichts zu sehen. Noch nicht. Es sind die Wolken, die dem Ganzen eine besondere Note verleihen. Wie mit reichlich Farbe hingetuscht. Sattes Grau in unterschiedlichen Schattierungen. Tief hängen sie und schwer wirken sie, als würden sie die Landschaft breit drücken. Auch das ist schön. Schön ist auch, dass meine Kopfschmerzen von gestern verschwunden sind. Heute sehe ich klar, gestern wirkte alles lange Zeit irgendwie dumpf. Heute bin ich richtig gut drauf, heute geht was. 


Kaum bin ich einen Kilometer unterwegs, stoße ich auf etwas, das mich immer wieder erfreut: ein kleines Metallregal steht auf dem Deich: kleine Gläser mit selbstgemachtem Apfelgelee, Flaschen mit Apfelschorle und Wasser, Äpfel, Müsliriegel - und natürlich die obligatorische Spendendose. Getränke brauche ich nicht, aber ich nehme einen Apfel und einen Müsliriegel und versenke einen Euro in der Box.


Meine Laune ist prächtig und so bedingt eins das andere: Links feuern mich mindestens drei Kuckucks aus dem ufernahen Auenwäldchen an, rechts schreien förmlich ganze Hundertschaften von Fröschen aus einem Brackwasser ihre Lebensfreude hinaus und über mir öffnet sich mehr und mehr die Wolkendecke, um der Sonne Platz zu machen. Der Deich ist wie ein großer Aussichtsbalkon, ich schaue auf unendlich weite Wiesen, knorrige, uralte Bäume, die bisher noch jedem Hochwasser standgehalten haben, auf alte, ehrwürdige Häuser, auf bunte Gärten, Storchennester, stocksteif stehende Reiher, segelnde Milane und natürlich auf den Fluss, auf dem ich heute in der Tat mal drei kleine Kajütboote mit der Strömung ziehen sehe. Immer mal wieder Bänke, auf die ich mich zu großer Ruhe setzen könnte, aber mich zieht es weiter.


Etwas beleidigt bin ich manchmal, wenn man mich von der Deichkrone "wegzerrt", d.h. wenn der Weg dort oben einfach endet und ich am Deichfuß entlang muss. Rechts geht dann zwar der Blick immer noch weit ins Marschland, aber auf dem linken Auge habe ich das Gefühl, ich hätte eine Scheuklappe auf. Verständnis habe ich natürlich, wenn sich ein rot-weißes Flatterband über den Weg spannt mit dem Hinweis "Umleitung - Schafsbeweidung". Dann ist da oben kein Durchkommen, denn die Pullovertiere stehen nämlich nicht nur an den Hängen des Deichs, sondern bevölkern in Fresspausen oder während des Mittagsnickerchens die ebene Fläche des Weges. Ich würde mich ja auch nicht in ein schräg gestelltes Bett legen.


Aber wehe, die Schafe bekommen ein neues Fressrevier zugewiesen! Dann ist der Weg übersät mit Schafskacke. Ich wäge des öfteren ab: Schafskacke oder Scheuklappe. Schafskacke gewinnt. Anfangs sind meine Versuche, der Schafskacke auszuweichen, verzweifelt, nahezu lächerlich. Keine Chance, entweder trete ich rein oder mein Wheelie rollt rüber. Also, was soll's!? Eigentlich ist die Schafskacke auch schon ganz schön getrocknet. Außerdem muss man die Sache auch mal positiv sehen: Hier oben könnten ja auch mal ganze Tierheime mit Hunden und Katzen ausgeführt werden, dann hätte ich ein größeres Problem.


Irgendwie geht heute die Zeit schneller vorbei als an manch anderem Tag. Ich stehe viel und schaue mich um, ich lese viel auf erklärenden Hinweistafeln, die am Wegesrand stehen und ich staune viel, wie schön die Welt sein kann, hier, jetzt, in dieser Minute.


Dass das auch mal anders war, erlebe ich, als ich zur "Gedenkstätte Vockfey" komme. Sie steht direkt am Ortseingang, nicht am Deich, sondern an der "Deutschen Storchenstraße". Sie erinnert an die Zwangsaussiedlungen im Zuge der Aktionen "Ungeziefer" und "Kornblume", unter denen nicht nur Vockfey, sondern alle Dörfer des Amtes Neuhaus zu leiden hatten. 


Zu lesen sind die Gründe, die für die Aussiedlung genannt wurden: "Feind der Sowjetunion", "Feind der DDR", "bewohnt fünf Zimmer, verweigert Aufnahme von Mietern", "Ausbeuter von Landarbeitern", "Gastwirt, beeinflusst Gäste", "laufende Verbindung mit Verwandten im Westen", "Schwarzschlachtung", "hört RIAS und NWDR", "Buntmetallhortung", usw., usw. Morgens, zwischen 4 und 6 Uhr, rückten Kampfgruppeneinheiten mit offenen LKW an, die das Mobiliar der völlig überraschten Menschen aufluden und abtransportierten. Das Ganze dauerte 4 bis 6 Stunden, dann waren die Häuser leer. Hier in Vockfey wurden 13 Familien bzw. 43 Personen deportiert. 


"Schutz vor westdeutschen Aggressionen" lautete in den 60er-Jahren die Sprachregelung zur Rechtfertigung. In Wirklichkeit ging es der Stasi darum, im Bereich des Schutzstreifens und des Sperrgebietes ein Klima von Unsicherheit, Angst und Misstrauen zu schaffen. Die historischen Hofanlagen blieben zunächst stehen, waren willkommener Wohnraum für Kriegsflüchtlinge. Dann aber setzte sich der politische Wille durch, das Grenzgebiet nach und nach zu entvölkern, welches zur Republikflucht durch die Elbe einlud. Mit Sonderprämien wurden Betriebskampfgruppen und andere Arbeiter gewonnen, die den Bauten zu Leibe rückten. Der Abbruch dauerte tagelang, über Vockfey hing eine Staubwolke. Was nicht außerhalb für Neubau oder Reparaturen gebraucht wurde, wanderte in den Karpfenteich. Dies war ein Brackgewässer, ein durch einen Dammbruch entstandenes 16 m tiefes Wasserloch in der Größe eines kleinen Sees. Beim Neubau des Deiches 2004 kam alles wieder zu Tage: Backsteine, Balken, Torpfosten, Fensterbögen und stählerne Überreste wie Schaufeln, Hufeisen, Schlösser, usw. Vieles davon ist bei der Gedenkstätte zu einer mannshohen Pyramide aufgeschichtet.


Dieser Stopp raubt mir die Leichtigkeit. Gedanken setzen sich fest und ziehen mich etwas runter. Dabei höre und lese ich davon ja nicht zum ersten Mal. Das Thema werde ich heute auch nicht mehr los: Kurz vor Darchau wiedermal ein alter Grenzwachturm, auf den Resten eines alten Deiches unmittelbar am Elbufer, kurz dahinter bei Popelau ein zweiter, ein schlanker BT 11 (Beobachtungsturm, 11 m hoch). Beide zur ständigen Erinnerung und Mahnung stehengelassen. Selbst bei einer Rast in einem schönen Hofcafé in Konau treffe ich in einem kleinen Nebengebäude auf eine weitere Gedenkstätte, die sich mit der Zwangsaussiedlung beschäftigt.


Andererseits ist es fast ein Wunder, dass das kleine Dorf Konau die "Grenzsäuberungen" halbwegs überstanden hat. Nur zwischen zwei Deichen, dem vorderen neuen und dem älteren, hinter dem sich die Häuser und prächtigen Hofanlagen verstecken, stehen alte Obstbäume. Sie markieren die Stelle, an der damals weitere Häuser standen, die in diesem früheren Deichvorland auf Warften den Hochwassern getrotzt haben. Wenn die Flut kam, waren die Häuser nur mit dem Kahn zu erreichen. Die Bewohner hat das nicht weiter gestört. Den DDR-Grenztruppen war das Kahnfahren im Deichvorland jedoch ein Dorn im Auge und so siedelten sie die Vordeich-Bewohner 1976 kurzerhand um, obwohl das Vorland seit 1971 bereits durch einen 3,20 m hohen Stahlgitterzaun zum Elbufer hin abgeriegelt war. Die Häuser der Vertriebenen wurden dem Erdboden gleich gemacht. 


Heute liegt das Marschhufendörfchen mit den fein herausgeputzten niedersächsischen Bauernhäusern und reetgedeckten Gehöften, wie sie in dieser Anordnung und Geschlossenheit einmalig sein sollen, so schmuck und einladend hinter dem Elbdeich wie vor Jahrhunderten. Ein architektonisches Juwel, das Teil eines Projekts der Expo 2000 in Hannover gewesen war. 


Die letzten Kilometer bis zu meinem Tagesziel Stiepelse gehe ich mehr oder weniger wie Hans-guck-in-die-Luft über den Deich. Gewaltige Wolkenformationen ziehen mich in ihren Bann. Ein scharfer Nordwestwind treibt sie eilig über mich hinweg, dunkle, fast schwarze, bedrohlich wirkende Wolken, gefolgt von den dicken, weißen. Ein bald hypnotisierendes Schauspiel. Ohne Anfang, ohne Ende. Ständig ändern sie ihre Formationen, wie im Zeitraffer.


So spät wie lange nicht erreiche ich Stiepelse, finde direkt am Deich meine Unterkunft, unheimlich schön, mit einem netten Wirt und einem guten Koch. Morgen erwarte ich Besuch: Wolfgang kommt nochmal zu mir hoch und begleitet mich drei Tage lang bis Zarrentin. Ich freu mich drauf!


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Dorfrepublìk Rüterberg

Dömitz - Hitzacker (22 km)


In meinem Dachgeschosszimmer in der Dömitzer Radlerherberge "Alte Brauerei" wache ich morgens mit Kopfschmerzen auf. Ich weiß auch warum. Immer wieder vergesse ich, unterwegs bei Sonne meinen Hut aufzusetzen. Wenn der Wind geht und es eigentlich gar nicht übermäßig heiß ist, verdödel ich das einfach. Sonnenbrand auf der Kopfhaut ist für mich schon fast ein Normalzustand. Ja, ja, ist gar nicht gut, ich weiß. Wahrscheinlich sind die Kopfschmerzen so eine kleine Vorstufe von Sonnenstich. Wie heißt es so schön: Jeder ist seines Glückes Schmied.


Mit einem dicken Kopf marschiere ich also aus Dömitz hinaus. Direkt am Weg am Stadtausgang liegt die Dömitzer Festung, ein recht imposantes Bauwerk. Ein Pentagon, immer noch von Wasser an allen Seiten umgeben. Zwischen 1559 und 1560 wurde sie an einer strategisch günstigen Stelle gebaut. Sie war Mecklenburgs mächtigste Bastion und sollte das Elbland sichern, aber auch die Einziehung von Zolleinnahmen gewährleisten. Doch der Belagerung durch Heerführer Wallenstein während des Dreißigjährigen Krieges war sie nicht gewachsen und kapitulierte. So gilt Wallenstein als der prominenteste Festungsbewohner. Neben dem niederdeutschen Literaten Fritz Reuter, der ab 1839 wegen "hochverräterischer burschenschaftlicher Verbindungen und Majestätsbeleidigung" hier ein Jahr seiner siebenjährigen Haft verbüßte und danach den autobiografischen Roman "Ut mine Festungstid" verfasste.


Schnell bin ich wieder auf einem Deich, kreuze dann die Straße, die über die neue Elbbrücke führt, und gehe weiter auf einem Deich. Aber von der Elbe ist nichts zu sehen. In einer weiten, S-förmigen Schleife hat sie sich von mir entfernt und wird sich erst in Rüterberg wieder mit mir treffen. Ich nähere mich einem Geesthang, der einen Deich unnötig macht. Sandig trocken wird es um mich herum, hügelig, mit Kiefern bewachsen. Auf einem Kolonnenweg geht es an einem Waldrand den Hang hinauf - und plötzlich höre ich Flügelschlagen. Ein großer, schwarzer Vogel mit langem, rotem Schnabel fliegt aus dem Wald hinaus und landet etwas weiter auf einer Wiese. Ein Schwarzstorch! Während der Weißstorch die große Furcht vor den Menschen verloren hat und sogar in seiner Nähe brütet, sieht das bei den Schwarzstörchen ganz anders aus. Sie sind nach wie vor äußerst scheu und nisten mit Abstand zum Menschen vorzugsweise an Waldrändern. Da hatte ich doch mal Glück ...


Jenseits des Geesthügels liegt Rüterberg, ein Dorf, welches zur Wendezeit Berühmtheit erlangte. Rüterberg hieß eigentlich Wendisch Wehningen-Broda und ist wie alle Dörfer an der Elbe ein sehr alter Ort. Schon im 14. Jahrhundert benutzten Kaufleute diese günstige Stelle, um über die Elbe zu gelangen. 1938 wurde das Dorf von den Nazis im Rahmen der "Arisierung von Ortsnamen" in Rüterberg unbenannt. Den Krieg überstand Rüterberg fast unbeschadet. Dann kamen die Besatzungstruppen: Erst die Amerikaner, denen folgten die Briten. Im Juli 1945 marschierten die Russen ein, da die Briten keine Möglichkeit sahen, die Bevölkerung der rechten Elbeseite ohne vorhandene Brücken ausreichend zu versorgen. Sofort begann die Abschottung. Nur war die in Rüterberg noch gründlicher und spürbarer als anderswo. Denn Absperrungen verliefen nicht nur westlich des Dorfes in Form des "Antifaschistischen Schutzwalls", sondern verhinderten auch im Osten den freien Zugang seiner Bewohner zum eigenen Land, der DDR. Eingesperrt zwischen zwei Zäunen lebten die Rüterberger das Leben von Häftlingen. 


Während der Hauptgrenzzaun mehr oder weniger dem Elbdamm folgte, wurde der zweite Metallgitterzaun entlang der heutigen B 195 errichtet, um Fluchtwilligen nicht den Hauch einer Chance zu lassen, das Grenzgebiet überhaupt zu erreichen. Nach Rüterberg blieb ein Eingang offen, abgesichert mit einem Eisengittertor und 24 Stunden bewacht von den Grenztruppen. Jeder, der nach Rüterberg wollte, musste durch diese Tür. Dort hörten sogar die Einwohner selbst die Aufforderungen der Posten, die sonst weltweit nur an Landesgrenzen ergeht: "Die Einreisepapiere bitte". Und wer Rüterberg verließ, musste "Ausreisepapiere" vorweisen. Der Irrwitz ging so weit, dass Grenzposten Dorfbewohner festnahmen, wenn sie ohne Papiere oder nach der Sperrstunde um 22 Uhr zurück zu ihren Häusern wollten. Durch radikale Aussiedlung von "unzuverlässigen Personen" war die Bevölkerung auf 150 Leute zusammengeschmolzen. Das Wohnrecht in der Heimat musste alle drei Monate erneut beantragt werden und wurde durch einen Stempel im Personalausweis dokumentiert. Das gesellschaftliche und soziale Leben wurde auf ein Minimum reduziert. Im Jahre 1988, kurz vor dem Fall der Mauer, wurde der Zaun noch einmal "grunderneuert". Das war genug.


Zu Beginn der Wende machten die Rüterberger ihrem Unmut Luft. Hans Rasenberger, ein Schneidermeister und der Leiter des Dorfklubs, beantragte am 24. Oktober 1989 bei den Behörden in Ost-Berlin die Genehmigung für eine Einwohnerversammlung. Angesichts der Unruhen im Land wurde die Versammlung genehmigt, was für einen Schutzstreifenort eine außerordentliche Sache war. Am 8. November 1989 trafen 90 Rüterberger mit dem Leiter des Volkspolizeikreisamtes Ludwigslust, einem Vertreter vom Rat des Kreises und einem Offizier der Grenztruppen zusammen und berieten über die Öffnung bzw. Beseitigung des zweiten Zaunes. Nicht den nach Westen, sondern den zum eigenen Land, der DDR. Die Obrigkeit war unbeweglich, stur und verstockt, nicht bereit zur allerkleinsten Veränderung. Nach Abreise der offiziellen Organe blieb man zusammen. Rasenberger schlug vor, die Urform der schweizerischen Demokratie zum Vorbild für Rüterberg zu wählen, um sich eigene Gesetze für das Dorf schaffen zu können. Alle 90 Rüterberger stimmten dem Vorschlag zu und erklärten ihren Ort zur "Dorfrepublik". 


Die Stasi reagierte auf die "Provokation" der Rüterberger sofort: Am nächsten Tag standen in Ludwigslust fünf Lastwagen bereit, um die abtrünnige Republik notfalls mit Gewalt wieder in Besitz zu nehmen. Ein historischer Glücksfall kam den mutigen Dorfbewohnern zu Hilfe: Der nächste Tag war der 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls. Doch davon merkten die Rüterberger erst einmal wenig. Die Kontrollen in Rüterberg wurden aufrechterhalten - was zu der absurden Situation führte, dass DDR-Bürger nun in den Westen, aber nicht nach Rüterberg reisen durften.


Rüterberg ist heute ein schmuckes Dörfchen. Viele neue Eigenheime sind entstanden, hübsche Häuser mit gepflegten Vorgärten. Von den Grenzanlagen stehen heute noch das einstige Zauntor als Gedenkort am Ortsausgang unten an der Elbe und ein ehemaliger Grenzturm. Der ist inzwischen in Privatbesitz, umgeben von einem gepflegten Garten, inzwischen größtenteils mit Efeu überwachsen und als Ferienhaus zu vermieten. Und an vielen Häusern flattert die bunte Fahne der Republik.


Bald hinter Rüterberg überquere ich die Grenze zu Niedersachsen. Mecklenburg ist plötzlich wieder weg und hat sein Elbufer weitergereicht. Wie?! Ich dachte, Meck-Pomm würde nun eigentlich bis zur Küste mein Grenz-Ostufer bleiben. Pustekuchen. Obwohl doch die innerdeutsche Grenze damals durch die Elbmitte verlief? Alles richtig, aber: Bis Ende des Krieges gehörte das Amt Neuhaus zu Lüneburg und Lüneburg zu Niedersachsen. Nach dem Krieg kam das Gebiet zur russischen Besatzungszone. Doch nach der Wende wählte sich das Amt Neuhaus wieder nach Niedersachsen zurück. 1993 gab es einen Staatsvertrag zwischen Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern: Hannover empfing, Schwerin ließ ziehen, gut 6500 Bürger wurden Andere.


Der Weg am Deich entlang verläuft nun kilometerlang parallel zur "Deutschen Storchenstraße", wie bereits gestern. Wieder reiht sich ein Storchennest an das andere, fliegen die Adebare durch die Lüfte oder stolzieren in Scharen durch die Elbwiesen. Ohne jede Scheu marschieren sie sogar unmittelbar hinter dem Trecker her, der gerade eine Wiese mäht. Frisch angerichtet, schmeckt es eben am besten. 


Bohnenburg, Wilkensdorf, Raffatz, Strachau und Laake heißen heute die Örtchen, die hinter dem Deich stehen und manchmal nur drei, vier Häuser haben. In Herrendorf zweigt dann der Kopfsteinpflasterweg zur Personenfähre nach Hitzacker ab. Außschließlich Radwanderer finden sich außer mir an der Anlegestelle ein. Unmittelbar nach der Maueröffnung fuhr hier bereits wieder eine Fähre von Hitzacker ans Ufer der DDR. Über 100 Personen sollen es damals freudetrunken gewesen sein. Doch auch eine menschliche Tragödie war dabei. Nur wenige Minuten nachdem er seinen Fuß an Land gesetzt hatte, versagte bei einem Mann das Herz und er verstarb. Vielleicht wäre er noch zu retten gewesen, aber so kurz nach dem Mauerfall konnten sich beide Länder noch nicht über die Zuständigkeiten für den Einsatz eines Rettungshubschraubers verständigen.


Mit Hitzacker verbinde ich zweierlei: wiederholtes "Land unter!" bei Hochwasser und Claus von Amsberg, Sohn der Stadt und ehemaliger Prinzgemahl von Königin Beatrix der Niederlande. Jetzt weiß ich auch, dass Hitzacker eine wunderschöne kleine Altstadt hat. In aller Ruhe schlendere ich hindurch und erfahre dann bei der Touristen-Information, dass meine Unterkunft noch etwa einen Kilometer außerhalb der Altstadt auf einem der Elbhügel liegt. Das hat man davon, wenn man sich nach preiswerten Quartieren umgesehen hat.


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Deichidylle

Lenzen - Dömitz (26 km)


Gepolter im Gästehausflur weckt mich. Zwei Radler aus dem Nachbarzimmer machen sich schon auf den Weg. Ohne Frühstück. Das gibt es im Wintergarten von Burg Lenzen erst ab 8 Uhr. Aber ist das ein Grund, die Unterkunft mit solch einem Getöse zu verlassen? Damit stehlen sie mir eine halbe Stunde Schlaf! Stimmt eigentlich gar nicht. Bisher war ich immer wach, bevor der Handywecker sich meldete. Auch heute. Also noch ein wenig rumdrömeln, sich an einiges zurückerinnern, was war, in Vorfreude dran denken, was noch kommt. Doch dann die Erkenntnis: Huch, genau in zwei Wochen wirst du gerade zu Hause das erstemal wieder in deinem eigenen Bett aufgewacht sein. Ein schlechter Gedanke? Ein guter Gedanke? Ich weiß es noch nicht so recht. Zumindest ein Gedanke, an den ich mich so langsam gewöhnen muss.


Von Lenzen geht es zurück an den Elbdeich. Wieder ein sonniger Tag, ein frischer Morgen. Wieder brauche ich mich nur auf die Natur zu konzentrieren und nicht auf den Weg. Meine Karte kann ich eigentlich verstauen. Die Strecke entlang der Elbe ist perfekt ausgebaut. Vom Kolonnenweg mit seinen Lochbetonplatten gibt es nur noch kurze Abschnitte, der größte Teil wurde für Radwanderer durch asphaltierte oder betonierte Wege ersetzt. Keine Schlaglöcher, noch nicht mal Unebenheiten, dann der Blick aufs Wasser, Laufluxus pur. Ich muss nicht befürchten, einen Abzweig zu verpassen, es geht eben immer nur auf dem Deich entlang, heute und noch drei weitere Tage.


Ich stoße wieder auf den Deich, wo auch die Personenfähre nach Pevesdorf hinüberfährt. Fahren sollte, aber der Betrieb ist eingestellt. Die Elbe führt aufgrund der langen Trockenheit zu wenig Wasser. Wenige Meter weiter steht ein ehemaliger Grenzturm direkt am Deich. Damals mussten die Grenzer praktisch über Leitern von innen ihre Beobachtungsplattform erklettern, heute führt eine bequeme Außentreppe aus Stahl nach oben und dient den Elbtouristen als Aussichtspunkt.


Obwohl es heute genauso eine Deichwanderung ist wie gestern, ist die heutige doch etwas anders. Gestern führte der Deich wegen der vor einigen Jahren erfolgten Deichrückverlegung weiter ab von der Elbe, heute verläuft er viel näher dran am Strom. Gestern sah ich auf der Strecke keine menschliche Besiedlung, heute reihen sich einige kleine Dörfer am Fluss entlang. Mödlich, Wootz, Kietz heißen sie, Unbesanden, Besanden, Baarz und Gaarz. Zu sehen bekomme ich ja eigentlich nur die Häuser und Höfe dieser Dörfer, die sich unmittelbar hinter dem Deich ducken. Viele edel restauriert, die meisten wunderschöne große Hallenhäuser, Fachwerk, das Gefache mit rotem Backstein ausgemauert, oft mit Stroh gedeckt. Jedes Haus mit einem großen Grundstück, nur ein Teil davon als Garten genutzt, viel auch gemähter Rasen, Obstbäume, Außensitzplätze und jede Menge Blumen. Und fast zu jedem dritten Grundstück gehört ein Storchennest, nicht auf den Hausdächern, sondern auf großen Holz- oder Betonmasten, die etwas abseits am Rand des Grundstücks stehen.


Obwohl ich diese Idylle auf mich wirken lassen kann, muss ich immer wieder daran denken, wie es einst hier war. Der Grenzzaun erhob sich 3,60 m hoch auf dem Deich, kaum jemand in den Häusern konnte darüber hinwegsehen, auch aus den oberen Stockwerken nicht. Ein Aufenthalt zwischen dem Flussufer und dem Deich war unmöglich. Man wohnte an der Elbe, aber man sah sie nicht. Und die Häuser drüben auf der anderen Seite, in Niedersachsen, erst recht nicht. So sollte es sein! Die Grenzer patrouillierten oben auf dem Kolonnenweg entlang und hatten alles im Blick, sowohl "feindwärts" als auch "freundwärts". Heute sind an ihrer Stelle Radler und Wanderer unterwegs, der Kolonnenweg heißt jetzt "Internationaler Elbe-Radweg" und viele der Häuser sind nun Pensionen, Ferienwohnungen und Raststätten für Urlauber und Freizeit-Aktive oder zumindest gern gewählte Fotomotive.


Nahezu jedes dieser Häuser besitzt eine eigene Bank, die oben auf dem Deich steht, für die stillen Momente, zum Rüberschauen, jetzt, wo es wieder geht. Nur bei den wenigsten steht "Privat" drauf, die meisten kann auch der Rad-Wanderer benutzen für die kleine Pause zwischendurch. In Wootz nehme ich auch mal die Gelegenheit dafür wahr. Bei einem flüchtigen Blick auf meine Karte stelle ich fest, dass die Häuser auf der anderen Elbseite zu Gorleben gehören, einem der wohl bekanntesten Dörfer Deutschlands. Mit ihm assoziiert man Castor-Transporte und Nuklearmüll, oberirdische Zwischenlager und unterirdisches Endlager-Erkundungsbergwerk. Welch ein harmloses Wort, als handele es sich um einen Abenteuerspielplatz. Auch tief unter der Elbe verlaufen Schächte, in einen Salzstock getrieben von West nach Ost. Fast jährlich bewegt dort eine Kontroverse die Nation und sorgt für Schlagzeilen wie "Stoppt Castor! Gorleben soll leben!"


Von diesem Vorhaben mit unkalkulierbarem Risiko weiß ich nur so viel: 1980 beginnt die Erforschung des Salzstocks Gorleben hinsichtlich einer Eignung als Atommüll-Endlager. Der Widerstand der Wendländer Bauern, unterstützt durch angereiste Sympathisanten, erreicht seinen Höhepunkt, als im Mai 1980 an der "Bohrstelle 1004" 5000 Demonstranten die "Freie Republik Wendland" ausrufen. Ein pasr Wochen später wird die "Freie Republik Wendland" gewaltsam durch Polizeieinsatzkräfte aufgelöst. Seitdem erreichen immer wieder Atommülltransporte aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague das Wendland, trotz erbitterter Blockadeversuche der wendländer Bauern und ihrer solidarischen Sympathisanten. Eine zeitlang hatte ich mir immer eingebildet, die strahlenden Castoren stünden tief im Salz, unterirdisch, und warteten darauf, dass dieses Atommüllzwischenlager zum Endlager erklärt werden würde. Aber ich glaube, man weiß heute noch nicht einmal, wie man die Abfälle aus den Castoren umpacken müsste, bevor man ihn im Salz versenken könnte. Was aber ohnehin keine Endlagerlösung ist, was man nun endgültig seit der Entdeckung des radioaktiven Salztunkengebräus in der Schachtanlage Asse wissen müsste. Es gibt keine Lösung. Es gibt nur strahlenden Dreck. Der strahlt auch noch in ein paar tausend Jahren. Und der steht in einer Halle in einem Wald nicht weit vom Dorf Gorleben entfernt, nicht im Salz, nicht unterirdisch. Und um die Halle herum stehen Zäune, Erdwälle, Stacheldraht, Verbotsschilder, Metalltorschleusen, Flutlichtmasten, Videoüberwachungsanlagen. Muss ich mich da wundern, dass auch hier, auf der anderen Seite der Elbe, an vielen Hauswänden oder Zäunen das gelbe Kreuz steht, als Zeichen des Sich-Querstellens, oder die gelbe Fahne mit dem Aufdruck "AKW - NEIN DANKE!" flattert?


Während mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, höre ich hinter mir das Gartentor quietschen und sehe dann, wie ein junges Mädchen mit einer Flasche Wasser zu mir auf den Deich geklettert kommt. "Hallo, ich habe Sie gerade von meinem Zimmer aus hier sitzen sehen. Haben Sie Durst? Die Flasche ist aus dem Kühlschrank. Ich bin im vorigen Jahr hier von unserem Gartentor aus auf dem Elbe-Radweg bis Cuxhaven gewandert. Schön war das! Da hat mir auch mal jemand Wasser gebracht und deshalb dachte ich, tue ich das jetzt auch." Ich bin gerührt über diese nette Geste. Sie setzt sich zu mir und wir unterhalten uns eine Weile.


Nele ist 16, macht im nächsten Jahr Abitur. Vor fünf Jahren sind sie aus Hamburg hierher gezogen. Eigentlich sei es ganz schön hier, aber ..., na ja ... Problem sei das Ländliche, die schlechte Anbindung an Wowaslosist, die Tothösigkeit. Eine gute Schulfreundin zu besuchen hieße eine Stunde Fahrrad fahren, eine Strecke. Wenn sie das Abitur hat, will sie ein Jahr in den Freiwilligendienst und dann in Hamburg studieren. Und dann mal sehen was wird ...


Nach etwa zwanzig gemeinsamen Bankminuten schütte ich mir den Rest des Wassers in meine Flasche, bedanke mich bei Nele, wünsche ihr alles Gute für eine Zukunft in Wowaslosist und ziehe weiter. "Ok", ruft sie hinter mir her, "ich muss jetzt noch für eine Klausur lernen. Und dann können die Ferien kommen!" Als ich wieder unterwegs bin, kommt mir der Gedanke: "Warum war das Mädchen denn nicht in der Schule? Ist doch gerade mal Mittagszeit? - Na ja, vielleicht hat sie ihre Sommergrippe genommen. Für eine Klausur lernt man wirklich am besten zu Hause."


Auf dem Weg bemerke ich die zahlreichen Störche, die unten im Deichvorland über die frisch gemähten Wiesen stolzieren. Im Gegensatz zu den Reihern, die zwar noch zahlreicher an den Rändern der mit Wasser gefüllten Flutrinnen und -mulden stehen und wegfliegen, sobald ich mich nähere, lassen sich die Störche bei ihrer Suche nach Nahrung überhaupt nicht stören. Sie kennen die Nähe zu den Menschen, leben sie doch in ihren Nestern nahezu "Tür an Tür" mit ihnen und ziehen sogar in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ihre Jungen auf.


In Unbesanden dann eine Überraschung: Drei Jungen, vielleicht 18 Jahre alt, drängen sich auf einer kleinen Bank zusammen. Rucksäcke stehen zu ihren Füßen, trotzdem schaue ich mich nach ihren Fahrrädern um. Sie bemerken das und lachen: "Nein, nein, wir wandern! Auf dem Grünen Band! Bis zur Ostsee" Das ich das noch erleben darf ...! Als ich ihnen antworte, dass sie damit die ersten seit fast zwei Monaten wären, die ich treffe, liegt das Erstaunen auf ihrer Seite. Auch auf dem Grünen Band? Wie lange denn schon? Wo angefangen? Wie viele Kilometer so am Tag? Sie hätten in Arendsee angefangen, wären jetzt zweimal dreißig Kilometer marschiert. Ich empfehle, es mit den Tageskilometern nicht zu übertreiben, das würde sich irgendwann wahrscheinlich rächen. Darauf lachen alle drei etwas verkniffen:"Das rächt sich jetzt schon!" Immer diese Anfängerfehler! Was sagt man beim Abschied in der Annahme, dass man sich irgendwann nochmal begegnet? "Wir seh'n uns! Bis dann!"


Am Schluss der Etappe erreiche ich Dömitz und bin damit bereits in Mecklenburg-Vorpommern. Bundesland Nummer 8 in meiner Sammlung. Schon von Weitem sehe ich die große, inzwischen auch nicht mehr ganz neue Spannbogenbrücke, die heutzutage immer noch die einzige Straßenbrücke ist, das einzige west-östliche Bindeglied in dieser Region. Seit Ende 1992 steht sie jetzt dort an Stelle der alten, im Krieg zerstörten. Die 800 m lange Elbbrücke war zwischen 1934 und 1936 erbaut worden und damals eine der längsten Straßenbrücken Deutschlands. Ihr Ende kam mit dem Bombardement im April 1945. 


Noch davor, auf niedersächsischer Seite , sehe ich das Torso der alten, fast noch eindrucksvolleren Eisenbahnbrücke von 1872. Es war für Kraniche, Reiher, Störche, Gänse, Schwäne und andere Elbanrainer wohl ein Schock, als ab September 1870 Arbeiterkolonnen drei Jahte lang hier eine etwa 1000 m lange Eisenbahnbrücke bauten: vier kleinere Bögen auf östlicher Seite bei Dömitz, daran anschließend eine Drehbrücke, vier große Brückenbögen und dann nochmal 16 jener kleineren Bögen auf westlicher Seite. Es bedurfte am 20. April 1945 nur weniger Minuten, um sie zu zerstören.


An Stellplätzen für Wohnmobilisten vorbei komme ich zum Dömitzer Hafen. Der alte Hafenspeicher glänzt dort als große Hotelanlage, mit Panoramacafé im obersten Stockwerk, Strandbar mit extra aufgeschüttetem Sand und unechten Palmen, Swimmingpool und Hafenbar. Ein edler Geschäftsmann und Millionär aus Düsseldorf hat investiert, um für die Region Arbeitsplätze zu schaffen. Sagte er. 


Vielleicht sollte er sein Engagement für die Region fortsetzen oder auch speziell für Dömitz. Viel ist dort schon an Restaurierungen gemacht worden, manches müsste aber noch getan werden. Mein Dachgeschoss-Zimmer in der Unterkunft ist aber schon fertig renoviert. Mir reicht das jetzt erstmal.


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Deichbau tut not

Schnackenburg - Lenzen (12 km)


Frühstück gibt es nicht im Hafencafé, sondern ein paar Häuser weiter in der Alten Schule. Die Schiffergesellschaft von Schnackenburg hat hier auch ihr Hauptquartier, seit in dem Gebäude keine Kinder mehr unterrichtet werden. Doch allzu lange kann das nicht her sein, denn oberhalb der immer noch präsenten Wandtafel hängt noch ein Kasten an der Decke mit vier Landkarten, die bei Bedarf nur herunterzurollen waren. Irgendwann hat wohl auch an dieser Schule der technische Fortschritt brutal zugeschlagen. Ein Beamer der Gründergeneration, so groß wie kleiner Koffer, klebt an der Decke. Vielleicht nutzt ihn ja noch die Schiffergesellschaft.


Das Wetter sieht an meinem ersten Elbetag steigerungsfähig, aber nicht unbedingt nach Regen aus. Ob ich es mir allerdings leisten kann, den ganzen Tag über im T-Shirt zu gehen, wird sich noch zeigen. Bis zur Fähre sind es vom Hafencafé kaum zwei Minuten. Die "Ilka" liegt noch am gegenüberliegenden Ufer, und bevor ich mich mit einem "Hol über!" lächerlich mache, wirft der Fährmann seine Maschine an und arbeitet sich zu mir herüber. Seit 5.45 Uhr ist die Fähre schon in Betrieb und fährt seitdem immer "bei Bedarf" hin und her. "Bedarf" besteht bereits bei nur einem Fahrgast, und als nach mir ein Wagen mit Anhänger auf die Fähre rollt, sind die Aufnahmekapazitäten schon fast erschöpft. Leider spricht der Fährmann nur zwei Worte mit mir: "Ein Euro." Nimmt ihn und fährt sofort wieder "nach drüben", obwohl dort niemand auf ihn wartet. 


Auf der anderen Seite angekommen bin ich in Brandenburg, das auch mal auf ein Stückchen Ufer am Elbstrom vorbeischaut, eingekeilt zwischen Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, gegenüber Niedersachsen. Prompt redet man hier vom Vierländereck. Naja, wahrscheinlich für die Touristen. Direkt bei der Anlegestelle hat mich dann die Grenze mit ihren Grausamkeiten wieder: ein Stück Streckmetallzaun, daran befestigt drei vertrocknete Kränze und Fotos eines Grenzopfers. 1972 flüchtete der Grenzsoldat Jürgen Simon aus seiner Kaserne, zog sich bei einem Freund Zivilkleidung an und fuhr mit seinem Fahrrad bis in die Nähe dieser Fährstelle. Gegen 22 Uhr stieg er in die Elbe und begann hinüberzuschwimmen. Doch er wurde bereits erwartet. Irgendjemand muss ihn verraten haben. Ein Grenzboot legte ab und versuchte ihm den Weg abzuschneiden. Doch Simon schwamm weiter. Als er trotz Anruf nicht reagierte, wurde geschossen. Simon tauchte ab und blieb zunächst unverletzt. Dann aber fuhr das Grenzboot absichtlich mehrmals über ihn hinweg und verletzte ihn mit der Schiffsschraube tödlich. Tage später wurde sein zerfetzter Körper nördlich von Schnackenburg angeschwemmt.


So klar und unmissverständlich wie wohl sonst nirgendwo definierte die Elbe zwischen Schnackenburg und Lauenburg, fast hundert Kilometer der Nordsee entgegen, rund 40 Jahre lang die innerdeutsche Grenze. Der Zaun stand direkt auf dem Deich, bevor es zum Wasser hinuntergeht. Und direkt hinter dem Deich treffe ich als erstes Dorf nach meiner Fährüberfahrt auf Lütkenwisch, ein Dorf, dass die DDR auch beinahe nicht überstanden hätte. Leersterben lassen wollten es die Regierenden. Sobald der Besitzer eines der Bauerngehöfte das Zeitliche gesegnet hatte, wurde es abgerissen. Die Nachfahren durften ihr Erbe nicht antreten, weil es sich im Sperrgebiet befand. Der Plan wäre fast aufgegangen. Gerade noch dreizehn Menschen lebten hinter dem zum Grenzwall missbrauchten Deich, als die Elbe wieder ein gesamtdeutscher Strom wurde. Jetzt sind es ungefähr fünfunddreißig.


Schon bald hinter Lütkenwisch merke ich, dass mein guter, alter Kolonnenweg jetzt der Elbe-Radweg ist. Größtenteils nur rüstige Senioren rollen auf komfortablen Rennmaschinen oder E-Bikes vorbei, in Hightechfaser-Outfit, mit maßgeschneiderten Satteltaschen. Grundsätzlich alle kommen mir entgegen, flussaufwärts, mit der vorherrschenden Windrichtung aus Nordwest im Rücken. Nur ich armer Hansel stemme mich gegen einen mir ins Gesicht blasenden Wind. 


Trotzdem genieße ich es. Eine gesegnete Landschaft. Diese Auen! Diese alten knorrigen Bäume, die bisher jedes Hochwasser überlebt haben. Die wilden Gräser, die Weiden, saftig grün. Und dort hinten, jenseits des Deichvorlandes, eben Mutter Elbe. Mag ja sein, dass es bei Vater Rhein auch nicht anders aussieht, die Rinder, die Auen, vielleicht sogar mehr Pappeln am Niederrhein. Aber dort dröhnt der Verkehr zwischen Basel, Ruhrgebiet und Rotterdam. Und hier kommt alle paar Stunden mal ein Kahn vorbei. Und dann wieder keiner.


Nach kaum einer Stunde komme ich an eine Stelle, wo der Deich sich teilt: Nach links geht der alte Deich recht nah an den Strom heran, nach rechts zweigt ein neuer, noch mächtigerer Deich ins Hinterland ab. Ich befinde mich nahe am "Bösen Ort", einer berüchtigten Stelle der Elbe. Am "Bösen Ort" macht die Elbe eine 90 Grad scharfe Biegung. Und ausgerechnet in diesem Bereich verringerte sich in der Vergangenheit das dem Fluss bei Hochwasser zur Verfügung stehende Bett von 1200 m auf weniger als 500 m. Beides zusammen ein erhebliches Gefahrenpotential. Bei dem sog. "Jahrhunderthochwasser" 2002 konnte der Deich nur mit größter Kraftanstrengung gehalten werden. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts haben die Wasserbauer der königlichen Elbstromverwaltung auf diese Gefahr hingewiesen und auf Abhilfe gedrängt. 1963 wurde die Empfehlung zur Deichrückverlegung erneuert, ein Vorhaben, das aber aufgrund der Grenzsituation keine Chance hatte, realisiert zu werden. Erst nach der Wende, als der Deich saniert werden sollte, griff die Verwaltung des Biosphärenreservats Elbtalaue die Idee neu auf. Dabei ging es den Ökologen neben dem Hochwasserschutz mindestens genauso sehr um die Rückgewinnung eines Überflutungsraums, in dem sich mannigfaltige Naturschutzmaßnahmen verwirklichen ließen.


Dazu wurde zwischen 2005 und 2009 ein neuer Deich errichtet, der bis zu 1,3 km im Landesinneren liegt. Er ist 6,1 km lang und ersetzt damit den 7,2 km langen Altdeich. Er ist zwischen 5,70 m und 6,30 m hoch und hat eine Sohlenbreite von 45 m. Das entspricht 160 Kubikmetern Erdmaterial pro Deichmeter. Ein großer Anteil des erforderlichen Materials ist direkt vor Ort durch das Ausheben der Flutmulden und Flutrinnen im Rückdeichungsgebiet gewonnen und verwendet worden, war daher relativ kostensparend. Sechs Deichöffnungen im Altdeich von 200 bis 500 m Länge sorgen seit 2009 dafür, dass das mit ziemlicher Regelmäßigkeit auftretende Hochwasser wieder in die neu geschaffene, ca. 420 ha große Überflutungsaue einströmen kann. Deichbau tut not, zumal zu Zeiten, wo sich die Jahrhunderthochwasser die Klinke in die Hand geben.


Seit gerade mal sechs Jahren hat sich durch diese Deichrückverlegung die Landschaft zwischen dem neuen und dem alten Deich grundlegend gewandelt. Wo sich früher, wie jetzt immer noch rechts von mir, relativ eintönige landwirtschaftliche Flächen ausbreiten, befindet sich links eine Auenlandschaft in Entwicklung, die bereits in wenigen weiteren Jahren ihresgleichen suchen wird. Der Mensch wird diese Entwicklung mitverfolgen können, wenn er als Radfahrer auf dem Internationalen Elbe-Radweg unterwegs ist oder, wie ich, als Wanderer auf dem Grünen Band. Er wird sich an den Schafen erfreuen, die den Damm abgrasen oder an den Liebenthaler Wildlingen, einer aus norwegischen Fjordpferden und polnischen Koniks rückgekreuzten Wildpferdeart, die den Sommer über auf den Flächen um den aufwachsenden Auenwald weidet, um einen Teil der Fläche offenzuhalten. Kenner werden bedrohte Vogelarten oder gefährdete Pflanzen wiederentdecken.


Von dem Punkt an, wo heute der neue Deich wieder auf den alten trifft, ist es noch eine halbe Stunde bis nach Lenzen, meinem heutigen Tagesziel. Durch Wiesen und Felder gehe ich auf den Ort zu, wo sich Menschen schon vor Jahrhunderten in respektvollem Abstand zur Elbe ansiedelten. An der Seetorbrücke überquere ich die Löcknitz und schon bin ich in der Stadt, wenige Minuten später habe ich die Katharinenkirche erreicht, deren Türen einladend offen stehen. 


Ich bleibe nicht lang allein, weil eine ältere Dame heute ihren wöchentlichen Ehrenamtstag hat und den sich hier hinein verlierenden Menschen anbietet, die Geschichte der "Brezeltante" zu erzählen, der 1560 geborenen ehren- und tugendhaften Anna Götze, die alljährlich am Freitag vor Palmarum jedem Schulkind drei Brezeln und drei Bogen Schreibpapier stiftete. Und jedem Lehrer jeweils zwölf. Vor allem hinterließ sie ein Testament samt Vermögen, so dass Brezelspeisung und Papierversorgung bis ins 20. Jahrhundert Brauch bleiben konnten. Dann kam die Weltwirtschaftskrise und die Stiftung ging durch den Schornstein. Aber jetzt gibts wieder Brezeln für die Kinder, mit Sponsering vom Bäcker. Und eine sorgsam restaurierte Grabplatte in der Kirche, von der aus die Stifterin mich so ansieht, dass ich sofort selbst spenden muss.


Meine Unterkunft für heute ist das Burghotel von Burg Lenzen, allerdings die preiswerte Variante im Gästehaus, dem sanierten Gebäude der benachbarten alten Schule. Burg Lenzen existiert seit der Slawenzeit und steht auf einem Hügel am Ufer der Löcknitz. Zunächst war sie aus Holz gebaut. Es folgte die mittelalterliche Burg der Deutschen. Sie war finster, hatte hohe Mauern und war von einem Wassergraben umschlossen. Heute ist sie ein freundlicher Bau, der zu großen Teilen aus dem Barock stammt und während der letzten Jahre im Auftrag des BUND, dem jetzigen Eigentümer der Burg, saniert und als Zentrum für Auenschutz mit Hotel, Restaurant und Tagungsräumen eingerichtet wurde.


Die Preisvorstellungen im Restaurant sind mir allerdings etwas gewagt und so marschiere ich zum Abendessen ins nahegelegene "Marktcafé". Da tut es dann auch eine Bockwurst mit Kartoffelsalat für 4,20 €.


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Elbe erreicht!

Ziemendorf - Schnackenburg (21 km)


Als ich das "Ferien- und Freizeitparadies" verlasse, scheint nach zwei Tagen mal wieder richtig die Sonne. Ich stand schon voll auf Entzug! Die Luft ist frisch, ein leichter Wind - mein Wetter! Von der Grenzerkaserne bis an den Rand des großen Gartower Forstes, den ich von nun an für einige Kilometer von Süden nach Norden fast vollständig durchqueren werde, brauche ich eine halbe Stunde. Von dort bis an den ehemaligen Grenzstreifen noch einmal genauso lang. Segensreiche Platte! Ohne die Lochbeton-Rückkehrerin würde ich in tiefem Sand versinken und nicht die Hälfte an Kilometer schaffen pro Stunde.


Vom Flugzeug aus dürfte der ehemalige Grenzstreifen im Gartower Forst als breite Schneise zu erkennen sein, die in der Mitte des Waldes einen markanten spitzwinkligen Knick aufweist. Auf diesen Knick steuere ich zu. Es ist die Wirler Spitze, eine von Jürgen Starcks bevorzugten Aufenthalts- und Forschungsorten. Von hier stammt auch sein Erinnerungsgeschenk an mich, das Minenfragment. Als ich dort ankomme, lasse ich mein Wheelie auf dem Kolonnenweg stehen und laufe über den ehemaligen Todesstreifen auf den weiß-gelben Sand zu, der am gegenüberliegenden Waldrand in den letzten beiden Jahrzehnten zu Dünen zusammengeweht worden ist. Nur wenige Pflanzen haben sich hier im Sand etabliert; die Düne ist noch in Bewegung. Auf ihrer Spitze steht ein kleiner Grenzstein und ein schwarz-rot-goldener DDR-Grenzpfahl. Beide sind aber nicht echt. Den Stein hat Jürgen Starck irgendwo anders ausgegraben und den Pfahl selbst gegossen und von einem befreundeten Maler anstreichen lassen. Beide "Hoheitszeichen" wurden dann von ABM-Kräften hier "eingepflanzt", allerdings an den originalen Standorten. Früher standen sich genau an dieser Stelle DDR-Grenzer und BGS-Beamte auf kürzester Entfernung gegenüber, sich wachsam gegeneinander belauernd, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln.


Ab der Wirler Spitze ist der K-Weg wieder ganz der alte, führt schnurgerader als ich weit gucken kann durch Sand und Kiefernwälder, so wie die jahrzehnte währende Werbung der Volks- und Raiffeisenbanken, die uns den Weg freimachen möchten. Ich mag mittlerweile diese Gegenden, wo der am weitesten verbreitete Mobilfunkanbieter "Netzsuche" heißt.


Nach mehreren Kilometern Schneisenlaufen auf einem Kolonnenweg, der genauso klar und deutlich seine Spur zieht wie nur noch der im Harz, passiert es dann: Ein Wanderer läuft über Stunden von A nach B und muss während dieser Zeit einmal am Wegesrand pinkeln. Im selben Zeitraum reitet eine junge Wanderreiterin in entgegengesetzter Richtung entlang der Kolonnenweglandschaft. Natürlich begegnet die Wanderreiterin dem Wanderer nach einer etwas unübersichtlichen Kurve exakt im Augenblick dessen Pinkelns. Soll ich mich nun verfolgt fühlen oder auserwählt? Jedenfalls meistern sowohl Wanderreiterin als auch der Wanderer die Situation souverän.


Ich könnte den Kolonnenweg wohl auch noch sieben bis acht Kilometer weiter ziehen, aber mein Wanderführer meint es gut mit mir, will mir noch zwei Dörfer zeigen, die beiden letzten von Sachsen-Anhalt. Morgen werde ich, auf der anderen Elbeseite, in Brandenburg sein. So komme ich noch nach Drösede und Bömenzien, zwei menschliche Siedlungsformen der Kategorie Garnixlos.


Von Stresow gibt es auch nicht viel zu sehen, gibt es als Ort auch gar nicht mehr, nur noch als Gedenkstätte, mit einem Modell der Grenzanlagen, einem Findling, der die Erinnerung an das Dorf wachhalten soll, das einstmals hier stand und wie Billmuthausen und Jahrsau und all die anderen zwangsleergesiedelt und abgerissen wurde. 16 Bäumchen sind hier gepflanzt worden für 16 Familien, die einst hier wohnten.


Gleich hinter der Gedenkstätte dann der erste Deich. Auf einmal bin ich ganz unruhig und aufgedreht wie ein Kind an Weihnachten vor der Bescherung. Irgendwo da vorn muss die Elbe fließen, mein nächstes großes Zwischenziel. Bin ich ihr wirklich schon so nah? Der Deich schlängelt sich umständlich nach Norden. Der Weg führt mich an seinem Fuß entlang, nicht oben drauf, wo ich was sehen könnte. Jetzt, endlich, zieht er hoch auf die Dammkrone ... Da ist ein Fluss, aber er ist viel zu klein. Das kann doch nicht die Elbe sein ... Ein genauer Blick auf die Karte. Quatsch, das ist der Aland, ein Elbezufluss. Seine Niederung ist weiträumig eingedeicht und gegenüber der Elbe mit Sperrwerken versehen. Die Alandniederung wurde damit zu einem riesigen Polder, das das Elbehochwasser aufnimmt und kontrolliert wieder abgibt. 


Als ich den Kirchturm von Schnackenburg von der Deichkrone aus vor mir sehe, bin ich bereits wieder in Niedersachsen. Eine Viertelstunde später gehe ich durch die kleine Backsteinhäuserstadt bis zum Marktplatz und zum Alten Fischerhaus, in dem das Grenzlandmuseum untergebracht ist. Doch ich will mich jetzt nicht zum wiederholten Male mit der Grenze auseinandersetzen, ich will die Elbe sehen, mich für ein paar Minuten an ihr Ufer setzen.


Vom Markt zweigt eine unscheinbare Straße zum Fähranleger ab. Und wo der Fähranleger ist, muss auch der Fluss sein. Dann sehe ich sie: Mutter Elbe, in sich ruhend, abgeklärt und funkelnd, strahlend träge, behäbig und selbstbewusst, die weiß, was sie geleistet hat, die weiß, was sie drauf hat und dass sie deswegen manchmal gefürchtet ist. Kein Lastkahn ist auf ihr unterwegs, kein Vergnügungsdampfer. Nur eine kleine Fähre macht gerade beim Anleger die Leinen los und sich "auf die Reise" ans andere Ufer. Morgen früh werde ich mit ihr übersetzen ans brandenburgische Ufer. Ich sitze zehn Minuten auf einer Bank oben auf dem Deich und genieße diesen Blick.


Auch wenn es merkwürdig klingt: Die Wiedervereinigung hat Schnackenburg nicht nur Freude gebracht. Als das, was - natürlich - jeder wollte, woran allerdings kaum noch jemand geglaubt hatte, überraschend eingetreten war, entfiel die Zonengrenzbezirksbeihilfe, dann schloss die Zollstation, die Bediensteten und ihre Familien zogen weg, keine Binnenschiffer hielten mehr an, um im letzten Elbhafen vor der DDR nochmal einzukaufen. Inzwischen hat auch der letzte Laden geschlossen.


Doch am Hafen steht das kleine "Hafencafé Felicitas", Anlaufstation für Einheimische, Auto-Elbtouristen, Radfahrer und Wanderer. Doch von letzteren gibt es hier nur ein Exemplar: mich. Und ich mache hier Quartier.


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Versunkene Mühle und ein Unikum

Binde - Ziemendorf (15 km)

 

Der Abschied von Traudi und Jürgen Starck am Morgen berührt mich. Einfach nur schön war es hier und die Starcks sind überaus sympathische Menschen. Jeder, der mal in diese Gegend kommt, sollte sich (mindestens) eine Übernachtung in Binde gönnen - vorausgesetzt er liebt winzige, kuschelige Gartenhäuschen, Open-Air-Dusche und Kompost-(sprich: Plumps-) Klo. Als Andenken schenkt mir Jürgen einen Bestandteil einer ehemaligen Mine, den er an der Wirler Spitze, einem seiner Haupteinsatzgebiete, gefunden hat. Gleichzeitig hat dieses Teil aber zusätzlich die Form eines "x", welches ja auch stellvertretend steht für die Anti-Gorleben-Protestbewegung. "Sich erinnern und sich engagieren sind Lebensmaxime von Traudi und mir", sagt Jürgen, "dieses Teil soll dich ein wenig an uns erinnern." Taudi liest mir einen Irischen Segenswunsch vor und gibt ihn mir im übertragenen Sinn damit mit auf den Weg. Sie stehen an ihrem Haus und winken wiederholt hinter mir her, bis ich hinter der nächsten Straßenecke verschwunden bin. 


Der Himmel ist bedeckt, aber die Temperaturen gegenüber den letzten Tagen eine Wohltat. Ich schalte den Turbo ein und komme auf der kleinen Landstraße Richtung Kaulitz schnell voran. Dann zweigt mein Weg ab, führt in den Wald hinein, anschließend durch eine weite Feldflur. Meine anfänglichen Befürchtungen, mich gleich wieder über eine Sandpiste wühlen zu müssen, bleiben gottseidank unbegründet. Ehe ich mich versehe, erscheinen die Dächer von Schrampe vor mir und dann auch schon die riesige Spiegelfläche des Arendsees. Immerhin ist er mit mehr als fünf Quadratkilometern groß genug für einen kleinen Raddampfer, der darauf verkehrt. Die Entstehung des Sees hat nichts mit der Eiszeit zu tun, er ist kein ehemaliger Gletschersee, sondern ein Einsturzsee. Der Einsturz ereignete sich im frühen Mittelalter, genauer im Frühjahr 822 nach der Schneeschmelze, als der Boden aufgeweicht war. Im Untergrund des Arendsees befindet sich einAusläufer des Gorlebener Salzstocks. In jenem Frühjahr stürzten Hohlräume, die das Wasser im Salzstock geschaffen hatte, ein. Ein riesiges Becken entstand, das sich mit Wasser füllte. Doch mit dieser Katastrophe ist die Entstehungsgeschichte des Sees noch nicht zu Ende. Der mittelalterliche See umfasste erst 4/5 der Größe des heutigen Sees. Am 25. November 1685 folgte eine zweite Katastrophe. Mit riesigem Getöse stürzte das Ufer bei dem Dorf Arendsee ein, wobei die Windmühle, die nahe am Steilufer gestanden hatte, mit in die Tiefe gerissen wurde. Taucher haben 1982 die Mühlsteine 60 Meter vom Ufer entfernt und in 12 Meter Tiefe entdeckt. 1983 wurde der erste Mühlstein geborgen, im Jahr 2000 der zweite. Beide finde ich, nach einem idyllischen Uferpfad auf einem kleinen Platz hinter der alten Klosterkirche von Arendsee wieder. Der Platz könnte nicht besser gewählt sein. Steinerne Requisiten einer vom Erdboden verschluckten Mühle stehen vor der malerischen Kulisse der Ruine eines Nonnenklosters. Frühgotische Backsteinmauern mit einem Feldsteinkern stemmen sich in den zum See abfallenden Hang. Bäume überragen die Mauern des mehrgeschossigen Refektoriums. Spitzbogige Fensterreihen, von Efeu umrankt, geben den Blick auf den See frei. Ich lese, dass die Klostergebäude schon im 17. Jahrhundert im Verfall begriffen waren. Wahrscheinlich hat die Hanglage an dem instabilen Steilufer dazu beigetragen. Jedenfalls wurden 1826, mit der Begründung, dass ein Einsturz drohe, große Teile der Klostergebäude abgebrochen.


Hinter dem Kloster beginnt auch gleich das kleine Städtchen Arendsee, oft geschunden - besonders während des Dreißigjährigen Krieges und danach, 1831, beinahe vollständig vernichtet durch ein Großfeuer, das eintausend Menschen obdachlos machte - und doch stets wieder neu erblüht. Selbst zu DDR-Zeiten nicht vergessen, obwohl sie denkbar nah am Grenzgebiet lag. Im Gegenteil, jeden Sommer strömten Urlauber hierher, bevölkerten den Campingplatz und füllten alle Ferienheime. Doch es gab strenge Vorschriften: Der See durfte nur bis zur Mitte bepaddelt und beschwommen werden, sein Nordufer war gänzlich tabu. Dort standen zwar auch Urlaubsdomizile, doch die waren ausschließlich für Stasi-Mitarbeiter und Parteifunktionäre reserviert. "Bonzenufer" nannte man es. Heute wird hier immer noch Urlaub gemacht, aber im wesentlich bescheideneren Maße. Der Campingplatz, die alten Ferienheime und Datschen haben gewaltig Patina angesetzt.


Direkt am Seeufer komme ich an Hinterlassenschaften eines recht "bunten Vogels" vorbei. Zwei Säulen, eine Treppe, die zu einer Empore führt: die Reste des Gustav-Nagel-Tempels. An ihn erinnern sich noch heute viele in Arendsee und in der Region. Langhaarig im Jesus-Look, der nichts als einen Lendenschurz oder einen langen weißen Umhang trug, auch im Winter barfuß ging, Alkohol und Nikotin verschmähte und strenger Vegetarier war. Die Haare wallten über seine Schultern, der Bart spross zottelig bis auf die Brust. Ein Sonderling, der sich fanatisch der Naturheilkunde verschrieben hatte, seine eigene Rechtschreibung kreierte, 1924 eine "Deutsche kristliche Folkspartei" gründete, um in den Reichstag zu kommen, am Arendsee einen Tempel errichtete, drei Frauen und sechs Kinder hatte. Tausende strömten zu ihm, seine Anhänger, aber auch Neugierige, die das Reich des berühmten Sonderlings sehen wollten. Nazis wie auch später die DDR-Oberen steckten ihn in eine Nervenheilanstalt, in der er 1952 als alter Mann starb. "Hir rut in Got - gustaf nagel" lautet seine Grabinschrift.


Nach der nördlichen Stadtgrenze marschiere ich nahezu zwei Kilometer am Strandbad vorbei. Links hinter einem Maschendrahtzaun Liegewiesen, heller Sandstrand, Imbiss-Gebäude, eine Riesenrutsche, eine Seetribüne, rechts - im Kiefernwald, die angestaubten Bungalows, alte Betriebsferienheime und Datschen. Menschen sehe ich nur spazierengehen und ein paar, die die Imbisse ansteuern.


Auf einer Straße entlang komme ich am Ortsanfang des zu DDR-Zeiten von Grenzsicherungsanlagen umgebenen Dorfes Ziemendorf zu einer ehemaligen Grenzkaserne, heute ein "Pferde- und Freizeitparadies" mit Zimmervermietung, mein Tagesziel. Das Ding ist richtig groß, der Anstrich relativ neu, nicht gerade leuchtend, sondern zart pastelliert. Das hätte mir früher mal einer sagen sollen: Als ehemaliger Fähnrich (also Fast-Leutnant) der deutschen Bundeswehr logiere ich in einer ehemaligen Kaserne der DDR-Grenztruppe! Ich kann mich beim Betreten des großen Treppenhauses, von dem aus die Gänge seitlich führen, kaum beherrschen, laut "Türen auf!" zu brüllen, wie es bei mir in der Ausbildungskompanie üblich war und heute noch üblich ist, wenn die Soldaten zu einer Ankündigung gerufen werden sollten. Der Flair der alten Kaserne ist durch die Bauweise noch erhalten und springt mich nostalgisch an. Doch hinter den Türen der Gänge verbergen sich, wie ich bald feststelle, zahlreiche schöne, große Zimmer mit eigenem Bad, Aufenthalts- und Speiseräume. Bekannt ist das Haus inzwischen auch wegen seines "Treppenhauses der Menschenrechte". Drei originale Wandbilder von seinerzeit mit patrouillierenden Grenzheroen sind erhalten - auf dem Krad, zu Wasser und mit Hunden - und werden kontrastiert mit den dreißig Menschenrechtsartikeln der UNO-Charta, einzeln gerahmt. Daneben hängen die Fotos der Friedensnobelpreisträger seit Gorbatschow. Im Kellergeschoss ist eine Ausstellung eingerichtet, die die alte DDR-Grenze dokumentiert. Auch die heutige Entwicklung zum Grünen Band wird mit Fotos und Hinweistafeln beschrieben.


Trotzdem vergesse ich nicht, welcher Ton hier einmal herrschte, wie Untergebene hier behandelt wurden und welche Entscheidungen hier getroffen wurden. So sauber und gepflegt hier alles ist, so unwohl fühle ich mich in meiner Haut. In der Lille Villa auf dem Haselnusshof bei den Starcks habe ich mit Sicherheit besser geschlafen.


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Lille Villa

Lübbow - Binde (20 km)


Obwohl die ganze Nacht das Fenster offen war, ist es morgens bei mir im Zimmer so warm, dass ich schon beim Anziehen anfange zu schwitzen. Wie soll das denn noch werden? Unten im Gastraum sitzen das Wirtsehepaar sowie Tochter und Schwiegersohn bereits beim Frühstück, d.h. der Schwiegersohn will erst noch Schwiegersohn werden, denn gestern war ja erst im kleinen, aber durchaus lauten Kreis der Polterabend. So sitzen sie denn am Frühstückstisch und muffeln sich ihren Kater weg, der sie allesamt noch fest im Griff zu haben scheint. Wenn das heute eine fröhliche Hochzeit werden soll, muss sich aber noch einiges positiv entwickeln. Vielleicht ist es aber auch die Hitze und die Gewitterluft, die alle etwas leiden lassen.


Ich leide jedenfalls, als ich durch eine stechende Sonne Richtung Busbahnhof marschiere. Erst um 10.20 Uhr fährt mein Bus nach Wustrow, zurück ans Grüne Band. Die späte Zeit stinkt mir, denn bei der immer mehr aufkommenden Hitze und Schwüle wäre ich gerne zwei Stunden eher losgegangen. Außerdem sind für den Nachmittag kräftige Gewitter vorhergesagt. 


Um 10 Uhr sitze ich am Busbahnhof, viel zu früh, aber sicher ist sicher, der nächste Bus fährt erst zwei Stunden später. Ich warte. Eine Wolkenwand zieht auf. Noch nicht besorgniserregend dunkel. Sie schiebt sich vor die Sonne, ein leichter Wind kommt auf, direkt angenehm. Ich warte weiterhin ... und weiter ... und weiter ... Inzwischen zeigt die Bahnhofsuhr 10.24 Uhr. Habe ich bezüglich der Abfahrt eine falsche Zeit im Kopf? Ich gehe zum Fahrplan ... 10.20 Uhr ... Zeit stimmt! Verspätung? Neiiiiin!!! Dick steht oben drüber: "Montag bis Freitag". Und heute ist Samstag!! Ich werd verrückt! Was denn jetzt? Ich höre ein "Halloooo" und als ich mich umdrehe, schaue ich in das zehn Meter entfernte grinsende Gesicht eines Taxifahrers. 


Ich habe keine andere Chance. Zu Fuß nach Wustrow ist viel zu weit, eine Mitfahrgelegenheit über den hochgehaltenen Daumen mit Wheelie ist unwahrscheinlich und kann, wenn es überhaupt klappen sollte, zu lange dauern. Also beiße ich in den sauren Apfel und hieve mit Hilfe des Fahrers meine Pilgerkarre ins Taxi. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich direkt von der Unterkunft abholen lassen können, und das auch noch zwei Stunden eher ... Also dieses Salzwedel wird mir - auch nach den Erfahrungen von gestern - nicht in allzu guter Erfahrung bleiben, obwohl hier der Baumkuchen erfunden wurde.


Ich lasse mich vom Taxifahrer schon in Lübbow aussetzen, denn dort würde ich sowieso durchkommen, außerdem sind die Kosten schon hoch genug. Direkt am alten Grenzpunkt setze ich meinen Gang auf dem Grünen Band wieder fort, auf "Westseite", dem ehemaligen Zollweg des BGS. Ich gehe schnell, Wut im Bauch ist eine gute Antriebskraft. Der Weg führt durch das Gebiet der Lüchower Landgrabenniederung, wiedermal eine Landschaft, wo man sieht, wer einem in einer Stunde entgegenkommen wird. Die versammelten Mücken- und Pferdebremsenschwadronen sehen mich aber bereits viel früher und starten mit Feuereifer ihre Angriffe. Der Landgraben mit seinem Stillgewässer, die gewaltige Schwüle und mein sehr bald heftig transpirierender Körper lassen sie zur Hochform auflaufen. 


Wild mit meinem Taschentuch um mich schlagend absolviere ich die nächsten Kilometer. Dabei habe ich den Eindruck, je mehr ich durch die Luft fuchtele, desto mehr Viehcher werden es. Die Wolken werden jetzt dunkler, kein Windhauch mehr. Die Ruhe vor dem Sturm? In Volzendorf raste ich kurz, aber es treibt mich weiter. Wenn ich wüsste, dass es nur beim Regen bleibt, hätte ich keine Eile, aber im Gewitter hier in diesen freien Landstrichen ...


Auf der anderen Seite des Grenzgrabens, jenseits des Wäldchens, liegt in einer umschlossenen Landausbuchtung der "Jahrsauer Sack", der wie eine Beule hier hinüber in den Westen ragt. In ihm stand Jahrsau, ein Ort, in dem 700 Jahre lang Menschen lebten. Zwischen dem 5. und 7. Juni 1952 rückten Stasi und Volkspolizei hier an und entfernten systemkritische oder unliebsame Bewohner. Die Säuberung der Grenze von "Schädlingen", also "feindlichen, verdächtigen, kriminellen Elementen", schlug nun auch in Jahrsau zu. Ein staatlich organisiertes Verbrechen! Denn um ein "verdächtiges Element" zu sein, reichten groteske Begründungen: eine Denunziation durch Nachbarn wie "... ist Grenzschieber ...", "War Mitglied der SED und ist jetzt CDU", "Geht nicht zur Wahl", "Besucht Kirchentage", "Seine westlichen Beziehungen sind schon allein aus der Art der Bekleidung seiner Familie ersichtlich". Die zentrale Vorgabe bei der Aktion Ungeziefer "Abreise muss innerhalb von 48 Stunden erfolgen" öffnete der Willkür Tür und Tor, denn auch eine halbe Stunde lag innerhalb dieses Zeitrahmens. Im Mai 1970, 18 Jahre nach der ersten Zwangsaussiedlung wurde durch Einebnung aller Gebäude Jahrsau komplett zerstört, um zur Grenze hin eine "sicht- und schussfreie Zone" zu schaffen.


Ich stelle mir vor, ich schrecke morgens um halb sechs aus dem Schlaf auf, ein LKW fährt vor, Menschen springen von der Ladefläche, harte Stiefelsohlen poltern auf Kopfsteinpflaster, jemand pocht heftig an meine Haustsür, brüllt "Sofort aufmachen!", ein bewaffneter Polizist stürmt in mein Wohnzimmer und liest meiner verängstigten Familie und mir den Befehl vor, wonach wir - zu unserem "eigenen Schutz" - sofort in ein uns unbekanntes Dorf umgesiedelt würden, weil der verbrecherische ausländische Feind Personen (er meint mich!) für seine kriminellen Ziele missbrauche, um die friedliebende eigene Regierung zu schädigen ... Entsetzt höre ich, dass der Polizist uns eine halbe Stunde Zeit bis zur Abreise lässt, während die ihn begleitenden Männer das Haus durchsuchen. Ich stelle mir vor, dass es Punkt sechs Uhr morgens ist, als der Lastwagen mit uns und unseren wenigen Habseligkeiten die Reise ins Ungewisse antritt. Ich sehe, wie das Grundstück mit unserem Haus, unseren Möbeln, meinen Büchern und Erinnerungen für immer hinter uns bleibt. Ich stelle mir vor, wie mein Haus Jahre später - so wie das ganze restliche Dorf - dem Erdboden gleichgemacht wird, um die Grenze dieser "friedlichen Republik" zu schützen.


Zu diesen Gedanken passt dann das Wetter. Es beginnt zu regnen, dann ein leises Donnergrollen. Klingt noch sehr weit weg, aber immerhin. Ich verfalle wieder in meinen Sechs-Kilometer-Schritt. Selbst Störche, die keine zehn Meter von mir auf einer abgemähten Wiese neben mir nach Essbarem suchen, können meinen Schritt nicht wesentlich verlangsamen. Ein Foto im Gehen, das war's. Weit ist es nicht mehr, acht Kilometer vielleicht noch. Die aber gehen an einer Landstraße entlang, kein Baum rechts oder links, nur Kornfelder, soweit ich blicken kann. Ich überquere wieder die Grenze in den "Osten", der Regen nimmt zu, ich komme nach Mechau, hoffe auf eine geöffnete Kneipe (immerhin ist es Samstagnachmittag) oder zumindest auf eine offene Garage, wo ich unterkriechen kann. Aber nichts! Dann Augen zu und durch! 


Doch ich habe Glück! Je mehr ich mich Binde nähere, meinem Tagesziel, desto weniger wird der Regen, hört schließlich ganz auf. Von einem aufziehenden Gewitter gar keine Spur mehr. Manchmal frage ich mich wirklich, womit ich das verdient habe, dass Unwetter an mir vorbeiziehen. Bis jetzt - toi, toi, toi!


Meine Unterkunft ist der Haselnusshof. Als ich vorne an der Haustür klingel, rührt sich nichts. Ich gehe außen ums Haus herum, sehe ein offenes Scheunentor, aus dem Musik zu hören ist. Ein junger Mann schraubt an einem Fahrrad herum, während etliche andere an den Wänden entlang stehen. Das muss Christian Starck sein, der Sohn des Hauses, der hier eine Fahrradreparaturwerkstatt und einen florierenden Fahrradverleih betreibt. Als er mich wahrnimmt, kommt er sofort auf mich zu und sagt: "Sie sind bestimmt Herr Wagner! Seien Sie willkommen. Das mit den Übernachtungen machen aber meine Eltern. Mein Vater ist gerade am Grünen Band und macht eine Führung an der Wirler Spitze, aber meine Mutter ist wahrscheinlich im Garten. Kommen Sie!" 


An einem kleinen Schild mit der Aufschrift "Naturgarten" vorbei kommen wir zum Beginn eines Gartens, der mich umhaut. Dies ist kein Garten, sondern ein Urwald! Keine eingefassten Wege, sondern schmale Trampelpfade schlängeln sich durch hüfthohe Pflanzen und Blumenstauden. Irgendwo hier treffen wir auf Traudi Starck, eine kleine, zierliche Frau, die fast in ihren Pflanzen untergeht. Die Gartenerde an ihren Händen putzt sie an ihrer Schürze ab und reicht sie mir mit strahlendem Lächeln zur Begrüßung. "Schön, dass Sie da sind! Dann zeige ich Ihnen mal gleich, was Sie hier erwartet und Sie entscheiden dann, ob Sie hier bleiben wollen." - Wie jetzt ...?


Traudi nimmt nicht etwa Kurs auf das Haus, um mir mein Zimmer zu zeigen, sondern kurvt mit mir durch ihren Garten. Eine bunte Mischung aus Bäumen, Büschen, Stauden, Gemüse- und Erdbeerflächen. Unter einem Buschtunnel hindurch kommen wir zu einer kleinen Rasenfläche mit einer schweren Holzsitzgruppe neben einem Teich, beides überragt bzw. "überschirmt" von einer Trauerweide, und ein paar Meter davon entfernt: ein kleines Gartenhäuschen. Unter einem tiefen Vordach steht ein Sofa neben der Tür. "Das wäre Ihr Reich für heute Nacht!" Sie öffnet die Tür und drinnen stehen ein großes Bett, ein kleines Board, ein kleiner Tisch und ein Korbsessel. Für mich und mein Wheelie ist gerade noch Platz, aber mehr brauche ich nicht. Ich bin hin und weg! Nur ..., wo ist hier die Toilette, wo ist die Dusche oder zumindest eine Waschgelegenheit? "Dort auf dem Board in dem Steinkrug ist Wasser gegen den ersten Durst. Wenn Sie gleich einen Kaffee oder Tee oder ein Bier haben wollen, müssen Sie das nur sagen. Legen Sie erstmal Ihre Sachen ab, dann zeige ich Ihnen den Rest auch noch!", sagt Frau Starck und lächelt mich verschmitzt an.


Ich tue wie mir geheißen. An einer kleinen Feuerstelle und einigen kleinen Steinskulpturen und Glockenspielen, die in den Bäumen hängen, vorbei, erreichen wir einen Punkt im Garten, der mir die Sprache verschlägt. Vor uns, unter einem lichten Baum, ein einfacher, an drei Seiten mit Brettern verkleideter "Raum" von etwa eineinhalb Quadratmetern Grundfläche, drinnen mit einer Dusche, einem Wasserkessel, Seifenablage und Kleiderhaken, auf der vierten Seite zu verschließen mit einem Duschvorhang, rechts neben allem ein Sonnenkollektor. "Ja, und das ist Ihre Open-Air-Dusche! Durch die Hitze in den letzten Tagen ist das Wasser schön heiß!" Ich bin absolut baff und wähne mich in einem Lappland-Urlaub. Womit aber die Toilettenfrage noch nicht geklärt ist ...


"Kommen Sie mit, jetzt zeige ich Ihnen noch den Rest!" Am Gewächshaus und an der Kräuterspirale vorbei kommen wir zu Frau Starcks ganzen Stolz. "Und hier ist unser Kompostklo!" Sie öffnet die blaue Holztür, indem sie einen Hebel umlegt, und zeigt triumphierend ein klassisches Plumpsklo. Allerdings absolut geruchsneutral, pieksauber und mit einem schweren Holzklodeckel. Beim Verschließen der Tür schiebt sie noch nach: "Und wenn unsere männlichen Gäste der 'Lille Villa' nachts mal nur so müssen, dann können sie das ja auch irgendwo da hinten am Rand der Wiese erledigen. Vom Bett bis zum Kompostklo sind es ja immerhin an die 50 Meter. - Wie ist es, Herr Wagner, bleiben Sie bei uns?" Die Frage war rhetorisch, denn ich glaube, sie kennt meine Antwort. "Und ob ich bleibe, das ist genau mein Ding!" - Sie nickt zufrieden. "Dann kommen Sie erstmal an und, wie gesagt, wenn Sie einen Wunsch haben, lassen Sie es mich wissen."


Ich richte mich in meiner "Villa" ein, dusche unter freiem Himmel (und das Wasser ist tatsächlich heiß!), gehe mit meiner Kamera auf kleine Fotosafari durch dieses Gartenparadies, wo es immer wieder etwas zu entdecken gibt, setze mich mal auf die eine kleine Bank, mal auf eine andere und genieße dabei jeden Blickwinkel und bestelle zum Schluss meines Rundgangs beim Vorbeigehen am Haus in der Küche bei Traudi Starck einen Kaffee. "Gut, ich bringe ihn gleich bei Ihnen vorbei!" Ich setze mich vor meinem Häuschen auf das Sofa, mache die Beine lang und bin nur noch zufrieden. Das ist ein Traum hier! 


Den Kaffee bringt mir nicht Traudi, sondern Jürgen, ihr Mann, der inzwischen von seiner Führung zurück ist. Er setzt sich zu mir aufs Sofa und wir unterhalten uns, während ich meinen Kaffee schlürfe. Vor zehn Jahren haben Jürgen und Traudi hier in Binde nochmal neu angefangen. Beide kommen sie nicht hier aus der Altmark, sondern aus der benachbarten Priegnitz, dem Brandenburger Landstrich auf der anderen Seite der Elbe. Jürgen hat dort als Fernmeldemechaniker gearbeitet, ein Job, dem man ihm auch während des Wehrdienstes in der NVA zugedacht hat. Und wer an einer so zentralen Informationsstelle arbeitet, bekommt natürlich einiges mit. Nach der Wende wohnten sie einige Zeit im Wendland, wollten aber nach Schweden auswandern und sich dort, irgendwo in der Natur, ein Haus kaufen. Dies gestaltete sich dann doch schwieriger als erwartet, und so kam der Entschluss, sich in der Altmark etwas zu suchen. Es dauerte noch ein paar Jahre, bis sie sicher waren, das Richtige gefunden zu haben, hier in Binde. Haus und Scheune mussten von Grund auf saniert werden, doch alles begann mit dem Garten. 


"Was heute der Garten ist, war damals eine große Brache. Aber es lag ganz viel herum, was wir gut gebrauchen konnten: Steine, Balken, usw. So ist nach und nach alles entstanden." Traudi und Jürgen sind beide leidenschaftliche Kämpfer für den Natur- und Umweltschutz. Das gelbe Kreuz, das Zeichen des Widerstands gegen das geplante Atommüll-Endlager in einem maroden Salzstock bei Gorleben, steht bei ihnen genauso am Haus wie bei vielen anderen Häusern und Bauernhöfen in der Altmark und im Wendland. Jürgen arbeitet für den BUND am Grünen Band als Projektleiter und betreut einen Grenzabschnitt von Salzwedel bis Schnackenburg an der Elbe. Hier betreibt er Forschungen zur Grenzgeschichte, kartiert und fotografiert die seltene Pflanzen- und Tierwelt und bietet sich als Führer für Exkursionen für Erwachsenengruppen wie auch für Schulklassen an.


Obwohl ich ausdrücklich nichts zum Abendessen bestellt hatte, da ich noch Rucksackverpflegung zu vertilgen habe, kommt Traudi mit einer Schüssel Salat vorbei. "Den müssen Sie essen! Ganz frisch aus meinem Garten!" Er ist tatsächlich ein Gedicht.


"Bei mir im Haus habe ich so einige Unterlagen zu dem, was ich so mache, Fotos, Karten, Material, mit dem ich versuche, Schulklassen das Grüne Band umd seine Geschichte näherzubringen. Wenn Sie Lust haben, zeige ich Ihnen das mal." 


Zwei Stunden noch sitzen wir daraufhin bei Starcks hinter dem Haus und Jürgen zeigt mir seine "Schätze". Ich lausche ihm wie gebannt. Alles ist äußerst interessant, aber eine seiner Geschichten berührt mich zutiefst: "Vor einiger Zeit habe ich hier in Binde Frau Schmidt kennengelernt, die meines Wissens einzige jetzt noch Lebende aus Jahrsau. Als sie merkte, dass ich sie über ihr Heimatdorf ausfragen wollte, hat sie sich zurückgezogen. Zwei Jahre lang habe ich nichts mehr von ihr gehört, und drängen darf man so alte Leute, die so etwas erlebt haben, nicht. Doch dann rief sie mich eines Tages auf einmal an, sie hätte noch einige Fotos, ob ich sie mir mal ansehen wolle. Eine Stunde später war ich bei ihr. Ich habe direkt zu ihr gesagt: 'Frau Schmidt, wenn es sie nicht mehr gibt, gibt es niemanden mehr, der uns von Jahrsau etwas erzählen könnte. Wenn Sie mir was erzählen, werde ich dafür sorgen, dass an dem Ort, wo früher ihr Heimatdorf stand, ein kleiner Erinnerungsort entsteht, damit Jahrsau nicht ganz vergessen wird.' Kurze Zeit nach diesem Treffen, bei dem sie mir viele alte Fotos zeigte, wollte sie mit mir nach Jahrsau fahren. Als wir dort waren, merkte ich, wie verwirrt sie war. Sie schaute sich um und ging dann zu einer Stelle neben einem großen Busch. Hier bückte sie sich, rupfte Gras aus, steckte es sich in ihre Kittelschürze und sagte: 'Das nehme ich für meine Kaninchen mit. Hier wächst immer das beste Futter für meine Kaninchen'. Dann ging sie vielleicht zwanzig Schritte weiter und schob plötzlich mühsam vertrocknetes Gras und lockere Erde mit ihren Füßen zur Seite. Zutage kam ein Stück roter Fliesenfußboden. 'Hier war meine Küche", sagte sie und hatte Tränen in den Augen."


Inzwischen ist es fast 23 Uhr. So gerade noch kann ich erkennen, wie ich durch den Garten zu meiner "Lille Villa" komme. Ich setze mich nochmal draußen auf das Sofa, trinke ein Fläschchen Bier und beobachte eine Fledermaus, die umherflattert.


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Rundlinge und kleine Probleme

Harpe - Wustrow (30 km)


"Wird wieder ein schöner Tag heute", meint Frau Koll, als sie mir morgens den Kaffee eingießt. "Ich fürchte, zu schön", gebe ich zurück. Wetter-online kündigt über 30°C an, und das kann ich nur begrenzt schön finden. "Vielleicht wird es für Sie ja nicht so schlimm", versucht Frau Kroll mich zu beruhigen, "bei uns geht meist immer noch ein schöner Wind, dann merkt man die Hitze nicht so." Na, wollen wir es hoffen. 


Um kurz vor 8 Uhr bin ich unterwegs, möchte die Morgenkühle nutzen, so lange es geht. Und es ist wirklich schön. Wogende Getreidefelder, begrenzt durch kleine Wälder, ein blauer Himmel ohne jede Wolke, aktive Wassersprenkler, die je nach Sonneneinfall schöne Regenbögen produzieren, kleine birkengesäumte Landstraßen, die kaum Autos sehen und immer etwas Wind, der in der Tat die langsam anziehenden Temperaturen lange Zeit erträglich hält.


Nochmal führt der Grenzweg nach Sachsen-Anhalt hinüber, durch einen Auenwald der Dumme, die hier der Grenzfluss ist. Es ist ein wenig unheimlich hier, dunkel, verwachsen, Wassergräben, mehr ein Trampelpfad, als ein Weg. Wenige hundert Meter hinter der alten Grenze, von der mit viel Fantasie noch der mit Wasser gefüllte Kfz-Sperrgraben zu sehen ist (oder ist es nur ein halb zugewachsener Entwässerungsgraben?), treffe ich wieder auf Reste alter Grenz-Abscheulichkeiten: die Wüstung Groß-Grabenstedt.


Groß-Grabenstedt war eine Ansammlung von zwölf Wohnhäusern, davon sieben Hofstellen, einer Schule, einer Gastwirtschaft, einer Mühle und einer Kirche. 100 Menschen lebten hier. Mit Gründung der DDR lag der Ort plötzlich an der Grenze. Kein Wunder, dass er geschleift wurde. Geblieben ist eine Stallanlage, neben der die LPG moderne Wirtschaftsgebäude hochgezogen hat. Seit neuestem befindet sich hier eine Biogasanlage. Die Kirche überließ man erst dem Verfall, bevor man auch sie 1970 dem Erdboden gleich machte.


Auf dem "Radwanderweg 'Am Grünen Band' " komme ich zügig weiter voran, wundere mich selbst, wie gut es heute "läuft". Es wird sogar etwas hügeliger, aber nicht hügelig genug, dass es meinen Schritt langsamer macht. Bald hinter Darsekau stoße ich fast zu meiner Verblüffung mal wieder auf einen Kolonnenweg, sogar auf einen Führungsturm, der jetzt nur noch als Fledermausbehausung dient. Das hat Erich nicht gewollt, er wird sich im Grabe umdrehen. Soll er! Der Turm signalisiert es schon: Es geht wieder von "Ost" nach "West", von Sachsen-Anhalt nach Niedersachsen, von der Altmark ins Wendland hinüber. Und wer das Wendland kennt, sieht die Rundlingsdörfer vor sich, von denen ich jetzt auch welche kennenlernen werde. 


Luckau ist das erste, Schreyahn das zweite, Güstritz das dritte. Die letzten beiden erlebe ich nur, weil ich mir einen ordentlichen Umweg zugestehe, trotz der immer mehr sich steigernden Hitze. Aber es lohnt sich: Herrschaftliche Bauernhäuser stehen mit der Giebelseite rund um den mittigen Dorfplatz, der zum Teil mit großen, alten Bäumen besetzt ist, Bänke stehen auf Grünflächen als Treffpunkte für die Bewohner. Trennende Zäune zur Mitte hin gibt es nicht, Blumen, Stauden und Sträucher wachsen in kleinen Vorgärten auch ohne Zaunbegrenzung. Alles strahlt Ruhe und Frieden aus, zumal es keinen Durchgangsverkehr gibt. In Luckau und Schreyahn wohnen Störche, in Schreyahn gibt ès einen Künstlerhof und in Güstritz hat sich vor einigen Jahren eine Kommune niedergelassen. Wenn das jetzt nicht nur Kulisse ist, sondern das Dorfleben hier so funktioniert, wie es den Anschein hat, dann muss das Leben hier herrlich sein.


Das Wetter hat mittlerweile bei mir seine Herrlichkeit verloren und die letzten Kilometer bis Wustrow werden anstrengend. Die Hitze stößt für mich so langsam an die Grenze der Erträglichkeit. Außerdem ist es mal wieder so weit: Zur Übernachtung muss ich vom Grünen Band weg, mit dem Bus nach Salzwedel. Also nicht: "Hallo, ich bin da, und jetzt hätte ich gerne meine Dusche!", sondern warten auf den Bus. Der kommt in diesem Fall genau eine Stunde nach meinem Eintreffen in Wustrow. Das wäre erträglich, wenn mir Wustrow einen schattigen Biergarten oder eine Eisdiele anbieten würde. Die Stunde bis zur Busabfahrt könnte ich mir dann schon vertreiben. Aber nix - nothing - niente! Entweder gibt es nix oder hat wegen Renovierung geschlossen oder öffnet (vielleicht) erst um 16 Uhr. Noch nicht einmal eine Bank steht irgendwo rum, nicht auf dem Marktplatz, nicht bei der Kirche und nicht am schönen Flussufer. Kein Windhauch geht inzwischen, die Hitze senkt sich wie ein Bleimantel auf meine zarten Schultern. 


Wenn ich nicht sitzen kann, dann gehe ich eben! Bei mindestens 30°C und 30 bereits zurückgelegten Kilometern eine heroische Entscheidung. Ich gehe zur nächsten Bushaltestelle weiter, die aber, wie sich herausstellt, zwei weitere Kilometer auf sich warten lässt. Dort kann ich in einem hölzernen Buswartehäuschen sitzen, das wohl erst kürzlich mit Holzschutzmittel gestrichen worden ist. 


Der Bus kommt pünktlich, ist aber brechend voll, stickig und ohne einen freien Sitzplatz, zu dem ich mich mit meinem Wheelie vorkämpfen könnte. Eine Viertelstunde darf ich das durchstehen und meine Mitreisenden müssen mich dampfenden Wanderer tapfer ertragen. Am ZOB am Bahnhof von Salzwedel steige ich aus und erfahre kurz darauf über mein Handy-GPS, womit ich sicher gerechnet habe: zu meiner Unterkunft ist es noch ein gutes Stück, mindestens nochmal zwei Kilometer. Ich versuche, leise ein Lied zu singen und mache mich auf die (heißen) Strümpfe. Unter einer großen Uhr auf einem Platz im Zentrum von Salzwedel zeigt eine Digital-Anzeige: 34°C. Menschen sitzen draußen in Straßencafés bei eiskalter Cola oder Eiscafé oder Erdbeereis mit Sahne, ich aber will jetzt nur eine Dusche.


Irgendwann komme ich an meiner Pension an, die auch ein Café ist. Draußen unter Sonnenschirmen sitzen Menschen bei eiskalter Cola, Eiscafé oder Erdbeereis mit Sahne. Ich will aber jetzt duschen und mich dann auf mein Bett werfen. Ich spreche eine Kellnerin an, stelle mich vor und äußere mein Begehr. "Das ist Sache der Chefin und die ist im Moment nicht da, kommt aber in etwa zehn Minuten zurück. Möchten Sie draußen so lange warten?" Ja, was denn sonst, denke ich mir und bestelle ein Eiscafé und ein Stück Erdbeertorte mit Sahne.


Nach zehn Minuten und zugegebenermaßen genussvollem Verzehr, kommt die Chefin - mit zerknirschtem Gesicht. Sie wagt es kaum, mich anzusehen. "Herr Wagner, ich hab's vermasselt. Sie stehen im Buch, ganz klar, aber ich verrücktes Huhn hab's vermasselt. Das einzig leere Zimmer, das ich noch habe, wird gerade von meinem Sohn renoviert! Kurz gesagt: Ich habe kein Zimmer für Sie!" Das sitzt! Himmel nochmal, sowas kann passieren - aber warum mir? Und warum nach solch einer Hitzeschlacht? Ich verzeihe gnädig, bitte nur darum, sich für mich nach einer anderen Unterkunft umzusehen. Chefin geht sofort ans Telefon und gibt mir drei Minuten später eine neue Adresse. Erdbeertorte und Eiscafé gehen auf Kosten des Hauses und ich ziehe, unter Absingen eines leisen Liedes, wieder von dannen. 


Meine neue Unterkunft liegt jetzt nicht etwa mal eben um die Ecke, sondern verschafft mir - by the way - eine schöne Stadtbesichtigung von mindestens zwei weiteren Kilometern. Als ich "Am alten Bahnhof" ankomme, ist vor der Eingangstür ein zünftiger Polterabend im Gange. Ich gehe mitten durch die Gesellschaft durch - und habe für heute die Schnauze voll.


Für morgen sind Gewitter angesagt.


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Ruhetag

Die Sonne scheint mir beim Wachwerden mitten ins Gesicht. D.h., ich glaube, dass es die Sonne ist, denn ich habe ja noch die Augen zu. Ich will sie auch nicht öffnen, weil ich eigentlich noch schlafen will. Der Wecker steht auf 8 Uhr und er hat noch nicht gebimmelt. Welch ein schönes Gefühl: Ruhetag! Bei Kaiserwetter, in einer urgemütlichen kleinen Pension am südlichen Rand des Wendlands, draußen erwartet mich ein erholsamer Garten ... herrlich! Warum habe ich das geahnt, dass das heute genau der richtige Zeitpunkt und der richtige Ort für einen Ruhetag ist? Nochmal rumdrehen, faul sein, wegdösen. Das Gefühl, zwei weitere Stunden geschlafen zu haben, und immer noch klingelt der Wecker nicht. Gleich wirst du im Garten frühstücken und danach das ein oder andere erledigen,was du dir für den Ruhetag vorgenommen hast. Die Sonne ist jetzt schon richtig warm im Gesicht. In der Dachrinne sitzt eine Taube und gurrt sich 'nen Wolf, lässt sich auch durch den Trecker, der vorbeifährt, nicht aus der Ruhe bringen. Armer Bauer, der muss jetzt schon arbeiten ... Ich döse wieder weg. Eine Minute, eine halbe Stunde? Ich weiß es nicht. - Der Wecker bimmelt! 8 Uhr! Endlich darf ich aufstehen!


Das Frühstück ist in dem dafür vorgesehenen Raum gedeckt. Ich frage Frau Koll, die Pensionswirtin, ob ich mit allem in den Garten ziehen kann. Sie hat natürlich nichts dagegen, gibt mir ein großes Tablett und trägt mir selbst den Kaffee nach. Mein Gott, ist das hier schön! Ich sitze am Rand des großen Hofes eines Dreiseitbauernhofes, direkt neben dem Tor. Vor dem Tor verläuft die kleine Straße, auf der ich gestern hier angekommen bin und auf der ich außer Traktoren noch nichts habe fahren sehen. Jenseits der Straße eine alte Linde, in die sich jetzt anscheinend die Taube von vorhin zurückgezogen hat, denn es gurrt in der Baumkrone permanent. Jenseits der Linde dann ein riesengroßer Kartoffelacker, wo jetzt schon ein Wassersprenkler sein segensreiches Nass verspritzt. Bienen tummeln sich in den diversen Blumenstauden, ein paar Sperlinge finden sich bei mir ein, wütend beobachtet von Finchen, der Hauskatze, die im ersten Obergeschoss aus dem Fenster schaut. Loui, der Hofhund im Schäferhundformat, kommt angetrabt, begrüßt mich mit einem Nasenstüber gegen den Oberschenkel und legt sich neben mich in den Schatten, den ein kleiner Sonnenschirm wirft. Idyllisch, einfach idyllisch hier ...!


Ich frühstücke eine geschlagene Stunde. Nicht mehr als sonst, nur langsamer. Stehe auf zwischendurch, gehe zu dem großen Rosenstock am Haus und schaue mir die Blüten an, stecke meinen Kopf durch die offene Tür neben dem Stall, wo mit verwitterten Lettern "Werkstatt" drüber steht, sehe dort viel Holz, teilweise künstlerisch bearbeitet, mache hier ein Foto, da ein Foto, streichel den Hund und frühstücke weiter. 


Kolls haben den Hof vor 15 Jahren gekauft, ein Lebenstraum. Fünf Jahre sind sie mit ihrem Sohn gependelt, zwischen Hamburg und Harpe, um den recht heruntergekommenen Hof bewohnbar zu machen. Dann zogen sie endgültig hierher um. Bauten die kleine Pension auf, waren beide künstlerisch tätig, er mit Holz, sie im bildnerisch-textilen Bereich. Immer noch gab es viel im Haus zu tun, vor allem auch in den Nebengebäuden. Beide arbeiteten viel, aber mit Freude an ihrem Traum - dann der Schock. Im vorigen Jahr starb Herr Koll, vollkommen unerwartet. Neben dem Schmerz die Frage, wie es mit dem Hof weitergehen soll. Verkaufen? Weder für Frau Koll noch für ihren erwachsenen Sohn kommt dies in Frage. Sie wollen es alleine versuchen. Vieles dauert dann eben länger oder wird eben gar nicht gemacht. Aber sie wollen durchhalten, wollen es schaffen.


Die Belegung der Pension ist sehr unterschiedlich. Manchmal ist es sehr ruhig, wie jetzt im Moment, manchmal aber auch so sehr nachgefragt, dass man nicht genug Betten anbieten kann. Radfahrer und Wanderer auf dem Grünen Band kommen immer zahlreicher, von ihnen alleine könnten sie aber nicht leben.


"Am meisten profitieren wir von der 'Kulturellen Landpartie'. Schon mal was davon gehört?", fragt Frau Koll. Ohne eine Antwort von mir abzuwarten, legt sie los: "Ende Mai veranstaltet das Wendland immer seine 'Kulturelle Landpartie', auf der Maler, Bildhauer und Keramiker ihre Werke präsentieren, klassisch bis experimentell. Es kommen Autoren, Performance-Künstler, Musiker und Kabarettisten. Landschaftskünstler locken zu verwunschenen Orten. Es werden handwerkliche Produkte ausgestellt und Höfe öffnen ihre Türen und Tore für Besucher. Der Dorfplatz, die Scheune oder der Bauerngarten werden zu Erlebnisräumen. Über 14 Tage ist das Wendland mit Wunderpunkten übersät, wie die Organisatoren der Kulturellen Landpartie die Veranstaltungsorte nennen. Besonders viele Wunderpunkte gibt es in den alten Rundlingsdörfern westlich von Lüchow. Dabei sind die Rundlinge selbst schon eine Entdeckungsreise wert, nicht nur wegen der niedersächsischen Hallenhäuser und der besonderen Gestalt der Dörfer, sondern auch wegen des vielfältigen und bunten Lebens, das man hier vorfindet. Neben bodenständigen Wendlandbauern wohnen und arbeiten hier zahlreiche Künstler und Menschen mit alternativer Lebensart, eine Mischung, wie man sie sonst kaum findet. Es ist ein friedliches Miteinander verschiedener Lebensentwürfe,  das liebevoll Chaotische neben dem Etablierten, eine Gemeinschaft, die durch den gemeinsamen Kampf gegen das geplante Atomkraft-Endlager Gorleben gewachsen ist. Auch als die erste Kulturelle Landpartie veranstaltet wurde, hatte sie mit Gorleben zu tun. Sie war und ist Teil des kreativen Widerstands. Und immer, wenn es im Mai wieder so weit ist, können wir uns vor Nachfragen nicht retten. Dann ist Hochkonjunktur. Außerhalb dieser Zeit bringt uns ein Seminarhaus hier in der Nähe noch Gäste. Sie haben dort viele Musik-, Tanz- und Meditationsseminare, aber nicht genug Unterbringungsmöglichkeiten. Die schicken dann gerne ihre Leute zu uns und wir sind froh darüber."


Während Frau Koll nach Schnega fährt, um Blumenpflanzen zu kaufen, passe ich auf Loui auf und mache "Büttje bunt", d.h. ich wasche. Hier kann die Wäsche mal draußen an der Leine in Sonne und Wind trocknen, das habe ich nicht oft. Meist kommen die nassen Klamotten auf den Kleiderbügel und werden dann an den Kleiderschrank gehängt, wenn es gut kommt an die Gardinenstange, mit Aussicht auf etwas Sonne und Wind am Fenster. Was macht man sonst noch an einem Ruhetag? Telefonieren, schreiben, meine Rolle für das neue Theaterstück lernen, überbordende Kameraspeicherkarten etwas "entrümpeln", die nächsten Tage in den Blick nehmen - und zur Abrundung noch ein kleines Nachmittagsnickerchen halten umd einfach den Tag genießen und die Seele baumeln lassen und Kaffee trinken und Tee trinken und ein Bier trinken.


Apropos "die nächsten Tage" ... Drei Wochen sind es noch, dann ist es wieder mal vorbei. Aber bis dahin sind es noch rund 350 Kilometer und ich freue mich auf jeden Tag. 


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Wo ist mein Kolonnenweg??!!

Wittingen - Harpe (23 km)

 

Als ich heute Morgen an der Rezeption meine Rechnung bezahle, fragt die Chefin des Hauses mich noch ein bisschen aus. Wie lange sind Sie schon unterwegs? Wo haben Sie angefangen? Wann wollen Sie an der Ostsee sein? Haben Sie schon viele Grenzwanderer unterwegs getroffen? Zwanzig Minuten lang stehe ich Rede und Antwort. "Wenn Sie angekommen sind, schreiben Sie mir doch eine Postkarte! Das interessiert mich nämlich wirklich." Sprach's und drückte mir einen Euro in die Hand. "Für die Postkarte und die Briefmarke!" 


Der Tag heute hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem von gestern. Getreidefelder, so weit das Auge reicht, viel ist schon goldgelb und kommt der Ernte näher. Wassersprenkleranlagen laufen ohne Unterbrechung, wobei die Anzahl dieser Wasserspender und das riesige Areal der Felder in keinem Verhältnis zueinander stehen. An zwei Stellen hinter Erpensen wird einer dieser Sprenkler für mich zu einem kleinen Hindernis. Das aus den Düsen abgeschossene Wasser reicht über die Straße hinaus und ich muss den richtigen Moment abpassen, wann ich vorbeihuschen kann. Als Autofahrer wäre ich dankbar. Ich würde meinen Wagen auf der Straße unter dem ergiebigen Wasserstrahl abstellen, ein paar Minuten warten und mein Auto wäre sauber - kostenlos. Als Wanderer allerdings ziehe ich die warme Dusche nach der Ankunft in der Unterkunft vor.


Danach geht es den ganzen Tag wieder weiter mit Dorfhopping: Neuekrug, Schmölau, Holzhausen, Dahrendorf. Eine verlassene Gegend, verlassene Dörfer, als wäre die Welt verreist. Drei Autos, ein Radfahrer, ansonsten keine Menschenseele. Zieht alles an mir vorrüber und bleibt zurück. Bleibt stehen, ich gehe weiter, immer weiter. 


Hinter Neuekrug wird es anstrengend. Nein, kein Kolonnenweg, keine Steigung, aber eine Sandpiste, knöcheltiefer Sand. Schon gestern kam das mal vor, heute gleich für ein paar Kilometer. Muss ich erklären, wie anstrengend knöcheltiefer Sand ist, dabei noch mit einem Wheelie im Schlepptau? Die Sonne freut sich über meine Bemühungen, dem Sand zu trotzen, und strahlt über das ganze Gesicht. Was die Sache nicht einfacher macht. Besser wird es erst, als der Sandweg mit mir in einem Wald verschwindet und die Sonne für eine Weile draußen bleibt. 


Am Rand einer großen Lichtung lege ich mich ins Gras, nehme mir wieder eine Auszeit, beiße in mein Brötchen. Während ich vor mich hin kaue, schaue ich mich in der Gegend um. Außer Bäumen nichts zu entdecken. Der Wald ist trocken, knochentrocken. Seit Wochen hat es hier nicht mehr ausreichend geregnet. Trotzdem ein schöner Moment. Wieder mache ich die Augen zu, höre Vögel, Insekten, Bäumeknarren, ganz hoch über mir ein Flugzeug. Ich weiß, was gleich passiert und ich genieße es: das langsame Hinüberschweben in Morpheus' Schoß. 


Als ich den Wald verlasse, hat sich die Landschaft ein wenig verändert. Es ist nicht mehr so platt, leicht hügelig eher. Dass es so etwas noch gibt, hier in diesem Norden. Hinter Schmölau komme ich in die südlichen Ausläufer des Drawehn, eines kleinen Höhenzuges, der sich bis zur Elbe hinzieht. Steigungen sind kaum wahrnehmbar, aber die Horizonte sind wieder näher. 


Wieder ein alter Pflasterweg hinter Schmölau, der dann bis Holzhausen erneut im Sand mündet. Wo ist mein Kolonnenweg? Wo ist er geblieben? Ich singe ihm ein Hohelied, doch er bleibt für mich verschollen, heute wieder. Da lob ich mir doch Wiewohl (ja, so heißt das Dorf!), wo endlich wieder ein schnuckeliger Asphaltradweg beginnt. Ach, wie wohl wird mir! 


In Dahrendorf dann mein heutiger Lieblingsfindling unter der Dorfeiche: "Wir waren geteilt. Jetzt sind wir wieder vereint. Das wollen wir bewahren." Ein wunderbarer Text. Was waren das für Zeiten damals, als entlang der ehemaligen Grenze all diese Steine aufgestellt wurden? Dieses wundersame 89er-Glück, das man so mit Haut und Haaren nur in der Grenzgegend erlebt hat. Diese großartige Besoffenheit im Taumel der Geschichte, dieses orgiastische Hochgefühl, von dem mir so viele schon erzählt haben: Wir können die ganze Welt umarmen! Umso bitterer der Rückstoß der Euphorie, der hat Verletzungen hinterlassen. Man wollte dann doch nicht jeden in den Arm genommen haben. 


Hinter Dahrendorf und schon fast in Harpe, meinem Tagesziel, wieder einer meiner täglichen Grenzübertritte: vom Altmarkkreis (Ost) in den Kreis Lüchow-Dannenberg (West). Jawohl, so hoch im Norden bin ich schon. Die Elbe rückt näher. Lüchow-Dannenberg, das Arkadien für alle Friedensbewegten und Ausstiegswilligen meiner jungen Jahre. Und mittendrin auch der Kernort des Anti-AKW-Lebens, Gorleben. Doch an den berühmten Salzstock wird mich mein Weg erst in ein paar Tagen führen. Das deutsch-deutsche Erbe gönnt mir keine gerade Linie, ich muss mich hinschlängeln.


Harpe hat außer ein paar Häusern und Bauernhöfen nichts, nichts zum Einkaufen, keine Kneipe. Schlechte Karten für mich. Harpe hat aber eine kleine Pension, die eigentlich nur Frühstück ausgibt. Und die kleine Pension hat eine nette Frau als Besitzerin, die auf Wunsch für ihre Gäste einkauft, damit diese auch tagsüber oder abends etwas zu essen haben. Alles liegt für mich im Kühlschrank bereit, sogar drei Flaschen Bier. MOMENT! Diese drei Flaschen Bier sind für zwei Tage gedacht, denn morgen werde ich hier in Harpe meinen ersten und einzigen Ruhetag einlegen. Und ich glaube, das war eine gute Wahl!


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Erlesene Verschlafenheit

Brome - Wittingen (25 km)


Es dauert bereits eine halbe Stunde, bis ich von meiner Pension aus Brome durchquert habe. Brome heißt ja nicht nur Brome, sondern "Flecken Brome". Scheint hier in der Gegend eine gängige Bezeichnung zu sein, denn ich sehe seit etwa drei Tagen mehrere "Flecken" auf meinen Wanderkarten. Flecken ist mehr als Dorf, aber auch noch nicht Stadt. Flecken Brome wird zerschnitten von zwei großen, sich kreuzenden Straßen, wie ein Messer, das zweimal durch einen Kuchen fährt. Kein richtiges Zentrum, erst recht keine "Altstadt", nur Häuser, mehr oder weniger alt, mehr oder weniger schön. Das Schönste sind wohl noch die Ohreteiche, an denen ich vorbeikomme, bevor ich auf die alte Straße nach Wendischbrome komme. 


Die Grenze verlief mitten durch die Ohre. Oft müssen Flüsse und Bäche dazu herhalten, Grenze sein zu müssen, Länder und Menschen voneinander abzugrenzen, sie sauber zu trennen. Aber die Ohre war eine dieser kleinen Flüsse, die zu DDR-Zeiten Welten trennte. Jetzt ist sie zwar immer noch Teil der Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen, aber hauptsächlich ein Stück Natur. Sogar der Biber wird hier wieder heimisch.


Bis Wendischbrome geht die alte Kopfsteinpflasterstraße an der Ohre als Eichenallee entlang. Auf einem schmalen Gehsteig reitet eine junge Frau auf ihrem Pferd, das Pflaster wäre ihrem großen Vierbeiner wohl zu unbequem. Kein Auto stört, für lange Zeit höre ich nur das Hufgetrappel vor mir. In Wendischbrome bin ich schon wieder "im Osten", habe unbemerkt erneut die Grenze überschritten. Ich hätte mir notieren sollen, wie oft am Tag ich die Grenze überschreite, ich glaube, es käme was zusammen.


Was in den letzten Tagen zunahm, heute wirds die Regel: Der Kolonnenweg ist weg, die Platte vollständig zugewachsen, abgetragen, weggeschlossen. Die Wanderkarte mag ihn stellenweise noch behaupten. Alles Lüge. Desinformation. Nach Wendischbrome eine Ahornallee, bis Nattgau. Drei Autos, ein Motorrad, mehr nicht. Doch, natürlich mehr: zwei Rehkitze stehen plötzlich neben mir am Straßenrand. Wo ist die Mutter? Die kann doch nicht ihre Kinder hier alleine rumstolzieren lassen. Ich bleibe stehen, will natürlich meine Kamera zücken, das Motiv wäre zu putzig. Doch ich überlege es mir anders, mache lieber, dass ich fortkomme. Rehmütter nehmen Menschengeruch an ihren Kindern übel und ich weiß nicht, ob nicht ein Wanderer besonders intensiv Geruch verbreitet.


In Gladdenstedt die erste Rast, auf einer Bank an einem Kinderspielplatz. Kinderspielplätze sind immer Orte, wo man Bänke zum Rasten findet, genauso wie Bushaltestellen, Friedhöfe, Kirchen. Nichts ist los in Gladdenstedt. Das Größte, was passiert ist, dass ein Traktor durch das Dorf donnert. Zwei Frauen kommen vorbei, schauen verwundert, wer dort in ihrem Dorf rumsitzt. Hier kommt normalerweise niemand vorbei. Trotzdem grüßen sie freundlich, gehen aber schnell weiter. Eine Katze schleicht sich an, bleibt fünf Meter vor mir sitzen, hat mich im Visier, eine Viertelstunde lang, bis ich wieder gehe. 


Der Weg wird weicher, sandiger - schweres Geläuf. Das nächste Dorf: Hanum. Noch weniger los als in Gladdenstedt. Noch nicht mal zwei Frauen, die sich über einen Wanderer wundern und noch nicht mal eine Katze. Der einzige Hinweis, dass hier auch mal was los sein kann: das Feuerwehrhaus neben einem Bach, ungefähr so groß, wie bei uns die Garage eines Einfamilienhauses. Kürzlich muss ein Ernstfall gewesen sein oder eine Übung. Alle Feuerwehrschläuche hängen über dem steinernen Bachbrückengeländer und auch noch gegenüber über dem Maschendrahtzaun des Nachbargartens zum Trocknen. Mein Gott, ist hier noch die Welt in Ordnung!


Hinter Hanum wieder eine uralte, kantig gepflasterte, teils schon versandete Trasse für den Grüne-Band-Wanderer, dem der Kolonnenweg vorenthalten wird. Dann hört selbst das Pflaster auf, ersetzt durch groben Schotter. Was soll das denn jetzt? Ich hasse groben Schotter, der gehört auf den Bahndamm, aber nicht auf einen Wanderweg. Oder hat man hier einen Wanderer gar nicht auf dem Schirm, weil außer Grüne-Band-Wanderer hier niemand wandert? Und die sind schon selten genug.


Nach Wendischbrome, Gladdenstedt und Hanum noch ein Dorf von erlesener Verschlafenheit: Haselhorst. Doch mit einer Bushaltestelle, die ausweislich des aushängenden Fahrplans auch tatsächlich angefahren wird. Jetzt ebenfalls von mir, zu meiner nächsten Rast. Gegenüber im Haus, das zu einem größeren Bauernhof gehört, sind Renovierungsarbeiten im Gang. Das Dach ist schon neu, die Fenster auch. Jetzt ist man wohl beim Innenausbau, die Kreissäge kreischt, der Hammer klopft. Vor dem Haus fliegen die Schwalben hin und her, landen gegenüber auf dem Telefonkabel, twitschern aufgeregt, fliegen wieder fünf Meter, landen wieder, haben mich im Blick. Gilt ihre Aufgeregtheit mir? Sie fliegen auf das Bushäuschen zu, drehen im letzten Moment ab, landen wieder auf dem Telefonkabel. Twitschern, das wie Schimpfen klingt. Was ist denn los? Dann sehe ich es: Zwischen den Dachsparren über mir kleben zwei Schwalbennester. Daher weht der Wind! Ich behindere ihren Einflug ins trauliche Heim. Habe verstanden, ich gehe ja schon! 


Am Ortsende vom nächsten Dorf, Waddekath, entdecke ich tatsächlich nochmal ein paar Lochbetonplatten. Wie ein letzter Versuch des Kolonnenweges. Versteckt führt er ins Gebüsch, wird dann wieder breit, gepflegt, wie abgekauft zu Landwirts Nutzen und Frommen, präsentiert sogar ein Stück Mauer hinter Brombeersträuchern. Ein kleiner Trampelpfad führt "feindwärts" hinter die Büsche, zu einer schwarz-rot-goldenen Grenzsäule und einem spanischen Reiter. Ohne jeden Hinweis - weder am Weg, noch auf der Karte; stehen die da wie vergessen. Wenn einer das Versteck kennt, kann er immer mal hin, zum Zwiegespräch, wenn er mit sich und der Mauer noch was geklärt kriegen will.


Markierungen zum Grünen Band gibt es schon lange nicht mehr. Die Wanderkarte wird mehr denn je zum wichtigsten und notwendigsten Wanderpartner. Wieder geht es über die Grenze. Über Rade komme ich zu meinem heutigen Ziel: Wittingen. Eine Kleinstadt mit Menschen auf den Straßen, mit Autos, Geschäften, Kneipen, Restaurants, einer Eisdiele - und eigenem Bier. Auf letzteres komme ich dann heute Abend zurück.


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Naturfrieden und Grenzterror

Oebisfelde - Brome (26 km)


Ich öffne das Fenster. Ein Schwall kühler Luft strömt mir entgegen. Auf die Vögel ist Verlass, sie trällern schon wieder fröhlich. Heute morgen gibt es wieder Zimmerservice. Als mein Wecker um 7 Uhr bimmelt, höre ich meine Pensionswirtin, wie sie mir ein Tablett mit allem, was ein ordentliches Frühstück ausmacht, vor die Tür stellt. Nur den Kaffee muss ich mir selbst kochen, dafür stehen das Kaffeepulver, die Kaffeemaschine und Tassen bei mir im Zimmer auf einem Regal. Sehr angenehm, so kann ich selbst noch beim Frühstücken die Füße hochlegen.


Um zügig die ersten Kilometer aus Oebisfelde herauszukommen, nehme ich zunächst die Landstraße. Auf ihr überquere ich den Mittellandkanal, der für seinen regen Güterschiffsverkehr bekannt ist. Als ich von der Brücke auf den Kanal schaue, sehe ich gerademal einen Kahn in der Ferne verschwinden. Sonst ist Ruhe. Bei einem Storch, der vielleicht einen Kilometer neben einem alleinstehenden Haus sein Nest auf einem alten, gar nicht so hohen Telegrafenmasten hat, sieht das mit der Ruhe anders aus. Etwa 15 m Luftlinie entfernt befindet sich ein alter Feuerlöschteich und aus ihm ertönt ein nahezu ohrenbetäubender Froschlärm. Haben diese Tümpeltiere keinen Instinkt? Über ihnen thront ihr Verzehrer und sie rufen immer nur lauthals: " Hallo, lieber Storch, hier bin ich! Ich will deine Hauptmahlzeit sein!" Hat jedenfalls was, direkt neben einem kalten Buffet zu schlafen.


Hinter Buchhorst laufe ich geradewegs in den Drömling. Ein altes Sumpfland, 280 Quadratkilometer groß, entstanden während einer Eiszeit vor hundertvierzigtausend Jahren. Wie in einer Tundra muss es hier ausgesehen haben, feucht, nur schwach und flach bewachsen und dauerkalt. Später setzte Bewaldung ein, darauf entwickelte sich eine Moorlandschaft, unpassierbar für Menschen. Friedrich der Große hatte sich zum Ziel gesetzt, alle größeren Sumpfgebiete seines Königreiches Preußen zu kolonisieren. Im Drömling begann das Projekt "Urbarmachung" 1784. Dreitausend Arbeitern rückten an und hoben Entwässerungsgräben aus, mit Muskelkraft geschachtet, auf großen Flächen alle 25 m ein neuer. Der durch den Drömling mäandernden und zerfließenden Ohre wurde ein Flussbett gebaut, Brücken entstanden. Eine Landschaft wurde nahezu umgekrempelt. Anfang des 19. Jahrhunderts hatten die Preußen den altmärkischen Drömling im Griff, die landwirtschaftliche Nutzung und damit die Kolonisation begannen. 


Bald breiteten sich auf den Flächen des ehemaligen Sumpfwaldes Wiesen, Weiden und Äcker aus. Gutsherren und Bauern hatten ein reiches Betätigungsfeld. Die landwirtschaftliche Nutzung war extensiv, denn nach wie vor waren viele Flächen Feuchtgebiete, was der Natur aber zugute kam. Und als die innerdeutsche Grenze durch den Drömling lief, wurde es für die Tiere noch stiller. Da man kaum Zäune im Sumpf ziehen konnte, bauten die DDR-Grenztruppen den Hauptzaun weiter östlich im Hinterland. So wurde ein großer Abschnitt - wenn auch ungewollt - ein De-facto-Naturschutzgebiet. Heute ist der alte Kolonnenweg im Naturpark praktisch verschwunden, entweder total zugewachsen oder aufgehoben. 


In der Kernzone des Naturparks ist der Mensch gar nicht erwünscht. Muss draußen bleiben. Ist Sperrgebiet hier, Schutzzone. Wiedermal, und es ist gut so. Hier bleibt die Natur alleine, wächst wie verrückt. Und mich schicken sie im Zickzack außen rum, durch niederrangigere und minderbewertete Zonen. Trotzdem ist es herrlich hier: Milane und sogar Störche kreisen, Schwanenpaare ziehen auf den breiteren Kanälen ihre Bahnen, Frösche vollführen ein mehrstimmiges und anscheinend nie enden wollendes Konzert, der Kuckuck ruft und große Herden von Kühen und Pferden beweiden teilweise die Flächen zwischen den Kanälen. 


Ein junger Mann, Bauernsohn, wie ich bald erfahre, flickt am Rand eines breiteren Kanals einen Drahtzaun. Als er mich sieht, winkt er mich heran und zeigt ins Wasser: "Schauen Sie, hier sind Otter!" Ich habe gelesen, dass der Drömling auch Rückzugsgebiet für diese seltene Tierart ist, und habe die ganze Zeit schon in den Kanälen Ausschau nach einem dieser Exemplare gehalten, ohne mir allerdings große Hoffnungen zu machen. Jetzt habe ich unerwartet großes Glück. "Das ist hier eine Mutter mit ihren sechs Jungen, die sind immer hier.", ruft der junge Mann auf der anderen Seite des Kanals zu mir hinüber. Jetzt sehe ich sie auch, zumindest drei Jungen, die anderen sind für mich wegen der bewachsenen Uferböschung nicht auszumachen. Völlig ohne Scheu tummeln sich die drei im Wasser, ein schönes Bild. Meine Kamera hat Hochkonjunktur.


Irgendwann habe ich diese herrliche Landschaft durchschritten, überquere wiedermal und fast unbemerkt die Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen und stoße auf die Landstraße nach Zicherie. Nach ein paar hundert Metern unvermittelt ein großes Holzkreuz und eine Erinnerungstafel unmittelbar vor dem Straßengraben: "An dieser Grenze wurde am 12.10.1961 der Dortmunder Journalist Kurt Lichtenstein er schossen, weil er als Deutscher mit Deutschen darüber sprechen wollte."


Es wird davon ausgegangen, dass Lichtenstein der Erste war, der nach dem Bau der Berliner Mauer von DDR-Soldaten an der innerdeutschen Grenze getötet wurde. Der Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Berlin schließt sich 1920 den Kommunisten an, muss aber bald schon Deutschland verlassen. Als Freiwilliger kämpft er in den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gegen den Faschisten Franco, gehört nach Hitlers Einmarsch in Frankreich zur französischen Resistance, kommt im Widerstand mit Erich Honnecker im Saarland zusammen. Nach 1945 baut er die KPD mit auf und ist Chefredakteur westdeutscher kommunistischer Zeitungen, fällt aber bei der KPD in Ungnade und wird 1953 aus der Partei ausgeschlossen. Er tritt in die SPD ein und wird etwas später Redakteur bei der "Westfälischen Rundschau" in Dortmund. 


Wenige Monate nach dem Mauerbau arbeitet Lichtenstein an einer Reportage über die innerdeutsche Grenze und kommt dabei auch in die Gegend von Zicherie und Böckwitz. Er stoppt seinen roten Ford Taunus am Straßenrand, als er eine Brigade von LPG-Frauen beim Kartoffelnausmachen entdeckt, steigt aus, überspringt den Straßengraben und überquert damit die Grenze, die zu dieser Zeit noch nicht mit Stacheldraht abgesichert ist. Die Frauen warnen ihn noch mit Handzeichen vor den Wachposten, aber zu spät. Diese haben bereits auf ihn angelegt, rufen ihn an, feuern Warnschüsse ab. Jetzt macht Lichtenstein den Fehler. Anstatt sich festnehmen zu lassen, versucht er zum Auto zurückzurennen. Schüsse fallen, Lichtenstein wird getroffen, schleppt sich aber noch bis zum Graben und bricht dort zusammen. Keine zwei Meter von der rettenden Straße entfernt. Lichtenstein wird aus dem Graben zu einem Waldrand gezerrt und erst eine Stunde später ins Krankenhaus transportiert. Dort stirbt er. Die DDR lässt ihn einäschern und schickt die Asche per Post an seine Witwe.


Geistig immer noch mit dieser Tragödie beschäftigt, erreiche ich eine Dreiviertelstunde später die beiden kleinen Orte Böckwitz und Zicherie, durch Mauer, Stacheldraht und Todesstreifen einst voneinander getrennte Nachbardörfer. Dort, wo dieser Grenzstreifen die beiden Dörfer auf diese Art trennten, ist jetzt eine kleine Grünanlage, "Europapark" genannt, mit Findlingsgedenkstein und einer Bank. Auf der Bank sitzt ein älterer Mann, wohl fast achtzig, vor sich einen Kinderwagen mit schlafendem Baby. Ich frage ihn, ob ich mich zu ihm setzen dürfe. "Aber sicher doch, ist doch Platz genug! Woher des Wegs?" Ein Anfang ist gemacht, und während der nächsten halben Stunde erfahre ich wieder Dinge, die mich fassungslos machen.


Früher kamen Fernsehteams aus ganz Europa hierher, Minister hielten Reden, Außenminister Genscher pflanzte einen Baum, der Bundespräsident legte einen Kranz nieder. Von jeher verstanden sich Zicherie (Niedersachsen) und Böckwitz (Sachsen-Anhalt) als Doppeldorf. Und durch das verlief schon immer eine Grenze, nämlich zwischen den Königreichen Preußen und Hannover. Aber die war nur ein Strich auf der Landkarte. Da bot sich ein anderes Bild, als die DDR die Grenze durchs Dorf immer dichter, höher, unüberwindlicher machte, Zäune und sogar eine nachts beleuchtete Mauer zog und mitten im Dorf einen Todesstreifen anlegte. Ein Albtraum, der Familie, Freunde, kurz alles trennte. Die Mauer verhinderte Blickkontakt. Psychoterror pur!


Die Grenze zerschnitt jetzt auch Familien, die vorher alles gemeinsam genutzt hatten: Schule, Molkerei, Schmiede, Schlosserei, Bäckerei, Schuster - alles war in Böckwitz. Hier, direkt auf der Grenze, war die Gastwirtschaft. Die Grenze ging mittendurch, das heißt genau genommen: durch den Stall. Die Kneipe selbst lag in der DDR, die Toilette im Westen. Viele gingen "mal eben" zum Klo, öffneten das Fenster und türmten in den Westen. Doch die DDR-Organe waren humorlos, rissen das Gebäude sowie andere Bauernhöfe ab und bauten dort, wo früher bei Bier uns Tanz fröhliches Miteinander angesagt war, Todesstreifen und Mauer.


Danach wurde die Grenze immer dichter, unmenschlicher. "Eine Situation, die sich niemand vorstellen kann, der nicht dabei war", sagt der alte Mann aus Böckwitz. "Doch wir haben hier immer noch versucht zusammenzuhalten. Immer wenn drüben in Zicherie Schützenfest war, marschierte die Feuerwehrkapelle mit Pauken und Trompeten bis an den Schlagbaum und musizierte besonders laut. Dann ließen die Grenzer ihrerseits über Lautsprecher Schallplattenmusik dröhnen. Damit nur ja niemand bei uns in Böckwitz den Gruß der Nachbarn aus Zicherie mitbekam."


Ich frage: "Da vorne auf dem Schild an der Straße steht, dass hier die Mauer am 18. November 1989 fiel. Vierzig Jahre war eine lange Zeit. Fiel auch die Mauer in den Köpfen der Dorfbewohner links und rechts?" Der alte Mann zögert, atmet tief durch: "Man merkt immer noch, dass man 40 Jahre lang in unterschiedlichen Systemen gelebt hat. Die Stasi hat fast 40 Jahre gebraucht, die Mauer zu perfektionieren, wir brauchen vielleicht auch 40 Jahre, um sie auch in den Köpfen der Menschen wieder abzureißen. Ich werde diesen Zeitpunkt nicht mehr erleben."


Das Baby im Kinderwagen wird unruhig und mit ihm der Großvater. "Ich muss jetzt mal wieder das Kind der Mutter zuführen. Machen Sie's gut und kommen Sie gesund an der Ostsee an. Nach der Wende war ich auch mal an der Ostsee, in Boltenhagen. Schön war es da ..." Als ich ihm sage, dass Boltenhagen das endgültige Ziel meiner Wanderung ist, strahlt er und schiebt mit dem Kinderwagen ab.


Eine Stunde später stehe ich am Ortseingang von Brome, meinem heutigen Ziel. Auf meinem Handynavi schaue ich sicherheitshalber nach, wo sich meine Unterkunft befindet. Nicht dass ich zu weit ins Zentrum hineinlaufe und die Pension liegt gleich hier um die Ecke. Von wegen! Die Pension liegt weder im Zentrum noch gleich hier um die Ecke, sondern am westlichen Ortsrand, in einem Siedlungsgebiet mit vielen Neubauten. Ich gehe schnell noch zu ALDI rein, damit ich für heute Abend was zu essen habe. Ich möchte mich nicht darauf verlassen, dass es im Neubaugebiet einen Gasthof gibt. Wie sich herausstellt, liege ich mit dieser Annahme auch gar nicht so falsch.


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Besuch aus Braunschweig

Weferlingen - Oebisfelde (17 km)


Die Aussage kommt für mich etwas unvermittelt. "So in fünf-sechs Jahren werden wir hier Schluss machen. Dann haben wir das Haus fast 40 Jahre geführt. Das ist genug. Dann gehen wir in Rente. Irgendwann muss Schluss sein!", sagt die Wirtin und poliert die Theke, während ich beim Frühstück sitze. "Gibt es einen Nachfolger?" - "Nee, wir werden wohl verkaufen, wir wollen es jedenfalls versuchen. Und wenn das nicht klappt, mal sehen, vielleicht mache ich das mit der Unterbringung auch weiter, so als lleines Zubrot zur Rente. Aber vielleicht übernimmt es ja auch ein Türke oder ein Grieche." Man merkt, dass ihr bei diesen Gedanken nicht ganz wohl ist und ich frage nicht weiter nach. In den 1860er-Jahren wurde das Haus als "Hotel zum Kronprinzen" gebaut und hat in seiner 150jährigen Geschichte manchen Gast beherbergt und könnte bestimmt viele Geschichten erzählen. Und das soll bald vorbei sein? Das letzte Gasthaus in Weferlingen schließt? Oder wird es zum "Döner Grill"?


Kurz hinter dem "Hotel zur Sonne" beginnt der Aller-Radweg, meine heutige Spur. Durch die weite Feldflur geht es immer nach Norden, immer durchs flache Land. Getreidefelder zu beiden Seiten, am Wegrand Mohn- und Kornblumen. Die Sonne scheint, aber die Temperaturen sind jetzt am Morgen noch sehr angenehm. Es geht sich wie ganz von alleine. Heute habe ich keine Eile. Die Strecke ist mal wieder kurz und am Ziel in Oebisfelde erwartet mich kein Gasthof, der um 14 Uhr schließt und erst um 17 Uhr wieder öffnet. Ich gehe gemächlich, ohne jede Kraftanstrengung, komme kaum ins Schwitzen, auch mal wieder ganz schön. 


Und - ich kann mich auf etwas freuen! Ich bekomme Besuch! Anke und Thomas werden heute Nachmittag in Oebisfelde vor der Tür stehen. Annika und ich haben vor zwei Jahren auf unserem Jakobsweg die beiden in Sarria in Spanien, etwa 100 Kilometer vor Santiago de Compostela, auf einem Campingplatz kennengelernt. Anke und Thomas waren im Rahmen einer längeren Rundreise dort mit ihrem Wohnmobil gelandet, Annika und ich gerade dabei, unser Zelt aufzuschlagen. Der Kontakt war schnell hergestellt und wir beide wurden zum gemeinsamen Essen aus dem Dampfkochtopf eingeladen. Unsere Erzählungen vom Jakobsweg hatte Anke wohl damals dermaßen fasziniert, dass sie sich spontan entschloss, die letzten 100 Kilometer ebenfalls nach Santiago zu pilgern. Ich habe sie zwar ermutigt, sich auf den Weg zu begeben, sie aber auch bewundert, dass sie es - als Wanderanfängerin - wirklich gewagt hat. Ab und zu sind wir uns, während Thomas das Wohnmobil in naheliegenden Gegenden spazieren fuhr, unterwegs begegnet und haben auch manchmal noch in denselben Unterkünften übernachtet. Vor allem aber sind wir uns am großen Ziel, in Santiago, vor dem Pilgerbüro wieder begegnet und haben uns dort gemeinsam unsere "Compostela", die Pilgerurkunde, abgeholt. Das verbindet. Anke hat meinen Blog zu meiner Romwanderung bereits verfolgt, jetzt ist sie auf dem Grünen Band mit mir medial ebenfalls verbunden. Und da beide in Braunschweig wohnen, das keine 50 Kilometer von Oebisfelde entfernt ist, hat mir Anke vor drei Tagen ihren Besuch angekündigt. Und sie bringt Kaffee und Käsekuchen mit! Ich fange an zu träumen ...


Auf dem Aller-Radweg kommt mir ein Radwanderer entgegen. Als wir auf gleicher Höhe sind, hält er an und steigt vom Rad. "Na, bist du auch länger unterwegs?", fragt er und schaut mich dabei strahlend an. Aus dieser Frage entwickelt sich eine nette halbstündige Unterhaltung. Dem Dialekt nach kommt er aus Schwaben (wenn er aber doch Badener ist, möge er mir diese Einordnung verzeihen!), ist mit dem Zug bis Hamburg losgefahren, dann die Elbe entlang und seit Lauenburg ist er auf dem Grünen Band, auf der Radler-Variante. Sein Ziel: Hof. Ungefähr da, wo Dieter und ich seinerzeit gestartet sind. Wir fachsimpeln, er beschreibt Landschaften und Orte, die er schon durchfahren hat und die ich noch erleben werde und umgekehrt, wir tauschen uns über Planung und Vorbereitung einer solchen Unternehmung aus,  entdecken viele Gemeinsamkeiten. Ein schönes Gespräch. Schade, dass wir uns nicht abends in einer Unterkunft begegnen konnten, ich glaube, uns wäre der Gesprächsstoff nicht ausgegangen. Wir wünschen uns beide noch einen schönen Weg, dann macht er sich wieder auf gen Hof und ich Richtung Ostsee.


Auf halber Strecke für heute, in Lockstedt, will ich rasten. Doch es findet sich weder eine Bank bei der Kirche noch eine in einem Buswartehäuschen. Doch alles fügt sich: An einem Gartenzaun stoße ich zum gefühlten 150. Mal auf ein aufgehängtes Werbeschild gleichen Inhalts. Ein Altgold-Aufkäufer wirbt für seinen Laden - in Nürnberg. Eigentlich ja nichts Schlimmes. Aber diese Schilder begegnen mir seit dem ersten Tag auf dem Grünen Band, jeden Tag, immer wieder. Seit nunmehr über 40 Tagen! Was ist das für ein Werberadius!? Ist das effektiv, hier entlang der ehemaligen Grenze, am A... der Welt? Als ich meinen Fotoapparat raushole, um dieses Schild endlich mal zu dokumentieren, beobachtet mich dabei verwundert ein Mann im Garten hinter dem Zaun. Ich sage nur: "Dieses Schild verfolgt mich seit ein paar Wochen, das muss ich jetzt einfach mal fotografieren!" und er lacht. "Die sind hier vorbeigekommen, haben überall, wo es ihnen günstig erschien, angeklingelt und gefragt, ob sie das Schild aufhängen dürfen. Mir war das egal, also habe ich ja gesagt. Daraufhin gab es ein Werbegeschenk und weg waren sie wieder. Später hab ich dann auch gestaunt, wo die Dinger überall hängen. - Wollen Sie was trinken?" Da ich Zeit habe, sage ich nicht nein. Der Mann öffnet mir sein Gartentor, bittet mich, auf einem seiner Gartenstühle Platz zu nehmen, holt eine kalte Flasche Malzbier raus (auf ein richtiges Bier hatte ich dankend verzichtet) und setzt sich dann zu mir. Innerhalb von zwanzig Minuten erfahre ich, dass er sich vor vier Wochen einen Hund aus dem Tierheim geholt hat, dass er dabei ist, sich von seiner Lebenspartnerin zu trennen, nachdem es schon mit seiner ersten Frau nicht geklappt hat, dass sein Sohn bei seiner letzten und entscheidenden Prüfung durchgefallen ist und er eigentlich gerne den Professor dafür verprügeln würde, dass seine Tochter in Siegen auf Lehramt studiert, dass er bis zur Rente noch zehn Jahre arbeiten muss, dass er als Brigadier in einer LPG Melker und Besamer war und dass er jetzt ein paar Kilometer weg bei Rockwool arbeitet. "Aber im Herzen bin ich immer noch Landwirt!" Ich hatte eigentlich überhaupt keine Fragen gestellt.


Weiter geht es durch die Alleraue, wo ich nach dem Grünen Band vergeblich Ausschau halte. Wo früher die Grenze war, ist jetzt ein grünes Meer aus langsam reif werdendem Getreide. Der Radweg hat sich zu einer kleinen Landstraße gemausert, auf der allerdings mehr Radfahrer und Trecker unterwegs sind als Autos. Aus weiter Entfernung sehe ich am Ortseingang von Gehrendorf mal wieder eine Kaserne stehen, die sich beim Näherkommen aber nicht als unbewohnt entpuppt. Mehrere alte DDR-Armeewagen stehen auf dem großen Vorplatz, aber auch ein amerikanischer, sogar ein kleiner russischer Panzer. Als eye-catcher ist sogar ein olivgrüner Trabbi aufgebockt und schwebt direkt neben dem Tor fünf Meter hoch in der Luft. Wie ich bei einem Nachbarn auf Nachfrage erfahre, hat sich in der Kaserne tatsächlich ein Privatmann niedergelassen und sammelt dort alte Militaria. Kann sich da einer nicht von seiner Vergangenheit trennen?


Am frühen Nachmittag bin ich in Oebisfelde. Beim Durchgehen kein Ort, der einen vom Sessel haut. Aber das ist auch zweitrangig. Wichtig ist, gleich kommen Anke und Thomas - und der Käsekuchen! Gerade Zeit genug, um zu duschen und für eine kleine Verschnaufpause. Dann geht auch schon das Handy, sie stehen vor dem Hoftor. Wir freuen uns wirklich sehr, uns wiederzusehen, zu schön waren damals die gemeinsamen Momente in Spanien. Wir schwelgen in Erinnerungen, berichten von Ereignissen, die sich mittlerweile bei jedem so ereignet haben und von Plänen, die jeder in seinem Leben in nächster Zeit hat. Und das alles bei Kaffee und Käsekuchen! 


Leider ist ein Stück übrig geblieben, aber das liegt jetzt im Flur vor meinem Zimmer in einem Kühlschrank. Zur Anreicherung des Frühstücks morgen früh. 


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Schreckensort

Büddenstedt - Weferlingen (26 km)


Der Frühstücksraum in meinem kleinen Hotel in Helmstedt erinnert mich an manchen Wanderurlaub in England oder Schottland. Schwere Teppiche auf dem Boden, Velour an den Wänden, Stuck an der Decke, dicke Polsterstühle, Nippes auf den Fensterbänken. Durch das Fenster beobachte ich die Marktbeschicker, die am heutigen Samstag gerade ihre Stände aufbauen und teilweise mit Bergen von Spargel oder Erdbeeren belegen, und bereits die ersten Kunden, die sich die Tüten vollpacken lassen.


Als ich eine halbe Stunde später über den Marktplatz gehe, liegt dieser noch in tiefem Frieden. Die Bierpavillons und Imbissstände sind noch verschlossen, die Bierzeltgarnituren leergeräumt und saubergewischt und das Pflaster ist gefegt. Nicht ein Bierdeckel liegt auf dem Boden. Alles ist vorbereitet, damit am Nachmittag das Bierfest in seine nächste Runde gehen kann. In der Altstadt sehe ich kaum einen Menschen, vielleicht führen viele noch ihren Kater spazieren. Jedenfalls ging das Fest bis spät in die Nacht. 


Auf einer lang gezogenen Allee verlasse ich Helmstedt. Der Himmel hat sich etwas zugezogen und einige Tropfen fallen. In der späten Nacht muss es auch schon etwas geregnet haben, denn die Straße ist noch nass und es tropft von den Bäumen. Nach dem gestrigen heißen Tag ist die Luftfeuchtigkeit hoch und ich bin schon nass geschwitzt, bevor ich überhaupt eine halbe Stunde unterwegs bin. Aber langsam zu gehen, um Schweißausbrüche geflissentlich zu vermeiden, kann ich mir nicht leisten.


Ich habe nämlich ein Zeitproblem. Entweder ich bin bis 14 Uhr in meiner Unterkunft oder ich komme erst ab 17 Uhr wieder rein. So war die Vorgabe des Wirts, als ich im Februar gebucht habe. Das ist aber irgendwie höchst ungünstig. Bei 26 vor mir liegenden Kilometern wird es bis 14 Uhr knapp, zumal ich mir noch die ehemalige Grenzübergangsstelle Helmstedt-Marienborn, jetzt Gedenkstätte, ansehen möchte. Und die öffnet erst um 10 Uhr. Bei normalem Wanderschritt wäre ich um etwa 15 Uhr an meinem Ziel, aber was mache ich dann? Zwei Stunden lang in Weferlingen! Abgeschlafft, verschwitzt! 18 Kilometer sind es noch von der Grenzübergangsstelle bis Weferlingen. Ob ich das schaffe? Für Helmstedt-Marienborn gebe ich mir eine Stunde. Diese Zeit muss man sich dort einfach nehmen. Wenn ich also um 11 Uhr dort weggehe, hätte ich noch drei Stunden. Für 18 Kilometer? Das wird eng! Aber ich werde es versuchen.


Um 9.30 Uhr bin ich an der ehemaligen Grenzübergangsstelle. Helmstedt-Marienborn war der größte, der wichtigste und der verkehrsreichste Grenzübergang zwischen der Bundesrepublik und Westberlin zu DDR-Zeiten. Die A 2 ist bis heute die wichtigste Ost-West-Verbindung mit Berlin geblieben. Als Wanderer erreiche ich die "Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn" nicht über die Autobahn, sondern durch den Hintereingang. Wo früher alles Grenzübergangsstelle war, ist heute auch Tankstelle, Riesenparkplatz und Raststätte. Trotzdem kommt mir das jetzt eingezäunte Gelände am Rand des gesamten Areals noch unheimlich groß vor, beängstigend groß. In einer halben Stunde wird hier das Tor für Besucher geöffnet, der Eintritt ist kostenlos. Zeit genug für eine Rast und einen Kaffee an der Raststätte. Auch etwas Neues für mich: mit meinem Wheelie zur Rast an einer Autobahnraststätte. 


Pünktlich um 10 Uhr schließt ein Gedenkstätten-Mitarbeiter mir und anderen Besuchern das Tor auf. Beim Betreten bekomme ich eine Gänsehaut. Ich hatte mich schon vorab zu Hause über diesen Ort im Internet informiert, und in Kenntnis dessen, was hier abgelaufen ist, ist sofort eine Beklemmung da. Diese gigantische Anlage, diese aneinandergereihten Abfertigungshallen, dieses hinfällige Material, rostiges Metall, bedrohliche Flutlichtmasten, alles riesig, alles leer. Wie eine kleine Stadt, die Gebäude unterirdisch durch ein Tunnelsystem verbunden. Eine Stadt der Kontrollen und Schikanen und Demütigungen. Der Tragödien. Und eine Festung. In Spitzenzeiten bewacht von eintausend Uniformierten: Passkontrolleuren, Zöllnern, Grenzsoldaten, Stasi-Mitarbeitern. Sie filzten alles: Menschen, Tiere, Pflanzen, Autos, selbst Särge mit Leichen. Sich das vorzustellen fällt mir schwer, gelingt mir nicht, wenn ich nur so über das Gelände laufe, vom Heizhaus zu den Passkontrollhäuschen, vorbei an Veterinärstation, Wechselstube, Leichenhalle, Lichtmasten und an der Zollbaracke mit den Kabinen für die Leibesvisitationen und Vernehmungsräumen und den gefürchteten Garagen, wo mit Spiegeln unter Autos geschnüffelt und sie im Verdachtsfall oder auch nur so nahezu zerlegt wurden. Wo man in ausdruckslose, graue Gesichter von Robotern gleich sich bewegende Offizielle sah. Wo sie emotionslos und in einer provokanten Mischung aus Arroganz, Ignoranz, Pedanterie und Gleichgültigkeit jeden spüren ließen: "Du bist ein Niemand!" Hier fühlte sich jeder "so klein mit Hut". Wo man - dieser Macht des Apparats bedingungslos ausgesetzt - nach endlos langer Zeit durchgewinkt wurde. Heute weiß man, dass die meisten der hier rund um die Uhr in Dreierschichten eingesetzten Mitarbeiter in der Fachschule des "Ministeriums für Staatssicherheit" in Potsdam geschult worden waren. Das Ziel: Zersetzung der Persönlichkeit. 


Verlassen sieht alles so harmlos aus, wie eine stillgelegte Panzerfabrik harmlos aussieht. Eine Vorstellung bekomme ich erst, als ich mir Kopfhörer aufsetze und höre, wie Betroffene schildern, was ihnen an diesem Ort widerfahren ist. Als ich dabei bin, die Anlage zu verlassen, höre ich einen älteren Herrn zu einem anderen sagen: "Man muss sich mal klarmachen, wie viel geistige und materielle Energie damals aufgewendet wurde, um die eigene Bevölkerung einzusperren. 1000 Mitarbeiter hier, mehr als 40.000 Mann entlang der Grenze, ausgerüstet mit modernster Technik und der 'Lizenz zum Töten'. Diese Energie anders gelenkt, hätte sehr viel zum Wohl der eigenen Bevölkerung beigetragen."


Wie ich mir vorgenommen habe, verlasse ich um 11 Uhr die Gedenkstätte - und gebe Gas! Drei Stunden habe ich jetzt für 18 Kilometer, ohne Pause. Wollen wir doch mal sehen, ob so ein alter Mann das noch auf die Kette bekommt. Wenn es nur nicht so schwül wäre ... ! Die Strecke hält von nun an alles für mich bereit: zunächst Waldpfade und Kolonnenweg, im Tal der Aller ruhige Landstraßen, kleine Ortschaften und leichte An- und Abstiege. Jawohl, so ganz flach ist es hier immer noch nicht. Wie mir gesagt wurde, erst ab übermorgen, dann aber so richtig. 


Ich fliege förmlich dahin. Irgendwie macht mir das sogar Spaß. Wenn ich es aber nicht schaffe, ist der Spaß sofort vorbei. Ich setze mir Zwischenziele: Bis da und da hin musst du um soundsoviel Uhr sein! Ich halte alles ein, bin gut in der Zeit, "erwirtschafte" mir sogar nach und nach ein immer größer werdendes Zeitpolster. Kann ich mir eine kurze Rast leisten? Nein, Risiko zu groß! Also weiter! Gas!


Um 13.45 Uhr stehe ich vor der VERSCHLOSSENEN Tür des "Hotel zur Sonne" in Weferlingen. Das kann jetzt bitteschön nicht wahr sein! Ich klingel. Einmal, zweimal. Dann, oh Segen, öffnet sich oben ein Fenster und eine Frau schaut heraus. "Ach, der Wanderer! Mit Ihnen hatten wir jetzt noch nicht gerechnet und ich hatte mich etwas hingelegt. Warten Sie, ich mach Ihnen auf! " Gott sei's gelobt und gepfiffen ... geschafft! Auf dem Zimmer reiße ich mir nur noch die verschwitzten Klamotten vom Leib und schmeiße mich aufs Bett. Eineinhalb Stunden später wache ich wieder auf.


Nach einer 20minütigen Genussdusche gehe ich zu einem guten Kaffee runter in den Gastraum. Was von außen gar nicht so deutlich wird: drinnen ist es urgemütlich. Altes, gediegenes Mobiliar, alte Fotos an den Wänden, verschiedene kleine Räume, ganz unterschiedlich gestaltet. Die Wirtin waltet in der großen Küche, deren Tür hinter der kleinen Theke weit offen steht, und der Wirt sitzt hinter der Theke - und raucht. Das Nichtraucherschutzgesetzt ist ja vielleicht während meines Unterwegsseins außer Kraft gesetzt worden.


Kaffee und Zigaretten sind bekanntlich ganz gute Stimulatoren, um Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen. Und da ich mittlerweile Übung darin habe, Menschen mit kleinen Fragen zu umfangreichen Antworten anzuregen, erfahre ich jetzt auch über Weferlingen so manches:


Die "Sonne" war schon zu Kaiserszeiten ein Gasthaus mit Zimmervermietung. Es ist sogar nur zu diesem Zweck gebaut worden, war nie etwas anderes. Als Weferlingen in die Sperrzone kam, musste der Hotelbetrieb aufgegeben werden. Leute von außerhalb kamen ja nicht in die Zone rein, also brauchte man auch kein Hotel. Doch Kundschaft hatte die "Sonne" während der DDR-Zeit reichlich. Die Kneipe war immer voll. Die Menschen arbeiteten alle im Dorf. Nach Arbeitsende kam man eben auf ein Bier vorbei, manchmal wurden auch mehr daraus. Zu kaufen gab es nicht viel und so gab man viel Ostmark im Gasthaus aus. An Wochenenden, besonders samstags, waren immer alle Tische im Speiseraum reserviert. In den besten Zeiten wurden 200 Liter Bier und mehrere Flaschen Schnaps an einem Samstag verkauft. Das gilt aber nicht nur für die "Sonne", es gab noch fünf weitere Kneipen in Weferlingen. 


Heute ist die "Sonne" konkurrenzlos. Auch hier nimmt das Geschäft immer mehr ab. Nach der Wende kamen noch viele Menschen aus dem Westen, "um sich das mal hier alles anzugucken, aber das ist ja nun nicht mehr". 


Zu den Kunden zählten damals auch die Grenzer aus der örtlichen Kaserne. Offiziersdienstgrade kamen sogar unter der Woche, einfache Soldaten nur an Wochenenden und nur in Gruppen, manchmal bis zu 20 Mann, mit "Ausgangsschein". 


Manchmal kamen aber auch unangenehme Gäste. Wenn Männer mit einem Auto vorfuhren und nur einen Kaffee bestellten, war etwas im Busch. Jetzt muss man wissen, dass jeder im Dorf, und Wirtsleute erst recht, jeden melden musste, der ihm unbekannt vorkam. Wenn in der "Sonne" mal ein fremdes Gesicht erschien, wurde hinter vorgehaltener Hand unter den einheimischen Gästen abgeklärt, um wen es sich handelt. Meist war es dann eben ein Verwandter eines Dorfbewohners mit Passierschein. Eine Meldung hat man sich dann geschenkt. Bei unbekannten Gästen mit Auto und Kaffeebestellung war man gut beraten, nach einem Passierschein zu fragen. Diese Herren waren nämlich nichts anderes als "Tester" von der Stasi. 


"Noch heute ist das so bei den älteren Stammkunden: Sobald die Tür aufgeht, drehen sich ruckartig alle Köpfe. Wenn es dann ein Fremder ist, ist erstmal mindestens eine Minute Ruhe, bevor es im Kopf wieder klar ist, dass jetzt 26 Jahre vergangen sind. Bei den Jungen ist das nicht mehr so, aber bei den Alten. Jedesmal!"


"Und - froh, dass es 89 so hekommen ist?" - "Es musste so kommen, ganz zwangsläufig! Wenn wir sicher sein konnten, dass wir unter uns waren, haben wir oft hier in der Gaststube darüber gesprochen. So konnte es einfach nicht weitergehen. Im Laufe von 89 wurde uns klar, dass sich bald was ändern wird. Aber dass die Grenzen geöffnet werden, damit hatten wir nie gerechnet."


Als ich zwei Stunden später den Gastraum zum Abendessen nochmal betrete, drehen sich fünf Köpfe ruckartig zu mir herum und das Gespräch erstirbt. Keiner der Männer ist unter sechzig - und jeder raucht. Der Wirt grinst mich vielsagend an, als wenn er sagen wollte: "Hab ich es nicht gesagt ...?"


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Ganz schön heiß!

Söllingen - Büddenstedt (18 km)


Im ehemaligen "Wartesaal 1. Klasse" des Alten Bahnhofs haben die Gödes ihr Esszimmer. Während die Monteure, die einen Großteil ihrer Gäste ausmachen, ihr jeweiliges Frühstück in der obigen Selbstversorgerküche eigenhändig zubereiten, frühstücken die anderen Gäste, heute eben ich, mit bei Gödes am Tisch. Gespräche bleiben da natürlich nicht aus. Übermorgen erwarten sie zum Beispiel acht Engländerinnen. Damit ist die Zimmer- und Bettenzahl eigentlich ausgereizt. Wohin mit den treuesten Kunden, den Stammgästen, den Monteuren? Die sind damit einverstanden, im Wohnzimmer für die kurze Zeit zusammenzurücken und gemeinschaftlich im großen Wohnzimmer zu schlafen. "Als Gegenleistung haben wir einen schönen Grillabend vereinbart! ", lacht Frau Göde verschmitzt. 


Natürlich ist die Wendezeit auch Thema. "Die Monate nach den Grenzöffnungen waren eine unheimlich euphorische Zeit. Wir sind kaum noch vom Fernseher weggekommen. Auch bei uns im Dorf wurde überall gejubelt, die Freude war riesengroß. Mit unserem Nachbardorf in Sachsen-Anhalt, Ohrsleben, wurde gefeiert. Die Menschen von dort kamen zum Feiern zu uns und wir gingen mit Tschingderassabumm zu ihnen rüber. Drei, vier Jahre ging das, dann wurde es weniger, jetzt passiert gar nichts mehr. Aber wir denken, das ist jetzt ganz normal. Nicht normal fanden wir allerdings damals das Verhalten einiger Leute, die schon nach ein paar Wochen anfingen rumzumaulen: 'Immer dieses Schlangestehen vor den Geschäften! Viele Sachen gibt es gar nicht mehr, wenn man es haben will. Die Zonis kaufen uns alles weg!' Und die Grummelei wurde immer mehr - und lauter." 


Eine Geschichte klingt mysteriös, aber Herr Göde bleibt dabei: "Eines späten Abends in den 80ern, also noch während der DDR-Zeit, näherte sich von Osten her ein Hubschrauber und landete hinter den Bäumen jenseits des Bahnhofs. Wohlgermerkt: auf Westgebiet. Das konnte kein Bundesgrenzschutz-Heli gewesen sein, denn hier herrschte absolutes Flugverbot. Kaum eine Minute nach der Landung stieg der Hubschrauber auch wieder hoch und entschwand zurück Richtung Osten. Die haben da garantiert jemanden abgesetzt oder aufgesammelt! Merkwürdig war auch, dass man von diesem Vorgang nie etwas in der Zeitung gelesen hat. Agentenaustausch, Freilassung von Gefangenen?" Herr Göde zieht fragend Schultern und Augenbrauen hoch.


Auch die Beiden zitiere ich natürlich beim Abschied vor den Fotoapparat. Nette Menschen von schönen Unterkünften will ich in Erinnerung behalten. Da hilft Jahre später mal ein Foto.


Schon als ich losmarschiere ist es ordentlich warm. Mehr als 30°C sollen es heute werden und eigentlich bin ich dafür bereits zu spät dran. Doch schöne und informative Gespräche will ich dafür nicht aufgeben, unter anderem deshalb bin ich ja auf diesem Weg. Dann lieber schwitzen! Und dazu bekomme ich im Laufe des Tages gute Gelegenheit. Ich schwitze ja schon, wenn ich bei 10°C stramm gehe, geschweige denn bei 30. Nur ein beständig leichter Wind macht das Ganze anfangs einigermaßen erträglich. 


Die ersten sechs Kilometer zeigt sich der Kolonnenweg netterweise mal wieder von seiner Schokoladenseite: volle Platte, entlang der Schönauer Aue, einem kleinen Bach, in deren Mitte damals die politische Grenze verlief, fern vom Autoverkehr, wieder mit Hasen, Rehen und Milanen, der Grenzstreifen mit hohem Gras bewachsen, aus dem immer wiedermal bunte Wiesenblumeninseln hervorstechen, Grünes Band "at its best". Als ich Hötensleben näherkomme, treffe ich auf einen Bauern, der den Grenzstreifen mäht, mir fröhlich zuwinkt und den Daumen hochhält. Auch mal wieder schön, auf diesem Wege Anerkennung zu erfahren.


Dann sehe ich, jenseits des gemähten Streifens und jenseits des durch das Mähen erst sichtbar gewordenen Kfz-Sperrgrabens, ein Stück alter Mauer, nur wenige Elemente. Sofort fällt mir aber auf, dass in ihrem Anschluss eine Reihe relativ junger Bäume die Linie des ehemaligen Mauerverlaufs nachzieht und die erst am Beginn des Freilandmuseums Hötensleben endet, an einem weiteren Stück Mauer. Eine Hinweistafel klärt mich auf: Im Rahmen der Spendenaktion "Bäume überwinden Mauer" wurden diese Bäume 2002 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, hochrangigen Bundes-, Landes- und Kommunalpolitikern, Schulen, Parteien, Vereinen, Partnergemeinden und Einzelpersonen eigenhändig gepflanzt. Wenn ich im Gegensatz dazu genau gegenüber einen ehemaligen kleinen Beobachtungsturm auf einem grasbewachsenen Bunker sehe, so ist das schon ein bemerkenswerter Kontrast und rechtfertigt auf jeden Fall die Aktion.


Das Grenzdenkmal in Hötensleben ist ein gepflegter Originalgrenzstreifen, dezent mit erklärenden Schautafeln versehen, eine Art offenes Museum, Tag und Nacht. Das funktioniert anscheinend gut ohne noch einen Zaun um sich herum und ohne Eintrittskarte. Es steht einfach nur da und klettert den Hang hoch, in voller alter Breite: die hohe Mauer "feindwärts", weiß gestrichen, die Kfz-Höcker, wie die spanischen Reiter hießen und die hier den Sperrgraben ersetzten, der geeggte Kontrollstreifen, das ehemalige Minenfeld, jetzt ein gepflegtes Grün, der Zaun unmittelbar bei den Häusern von Hötensleben, dem danach sogar noch eine 350 m lange Sichtblendenmauer dazugegeben wurde, damit die westlichen Mauertouristen von ihrem Beobachtungspodest aus nicht das Dorf einsehen und vor allem die Bewohner auch keinen Blickkontakt aufnehmen konnten. Den Hang krönt natürlich ein Kontrollturm, Marke "Führungsturm". Allein schon die Dimension erdrückt. Trotzdem: Das gepflegte Grün verleiht der Anlage auch etwas Gestaltetes, etwas Golfplatzhaftes. Aber sollte man deswegen auch noch regelmäßig den Kontrollstreifen pflügen, eggen, und mit Herbiziden besprühen müssen, um das Barbarische schön authentisch frisch zu halten?


Hötensleben war hermetisch abgesperrt. Mit der Grenzziehung wurden auf einen Schlag 500 Bürger arbeitslos. Sie verloren ihren Arbeitsplatz beim benachbarten Braunkohlebergwerk. Es kam auch zu Zwangsumsiedlungen. 119 Menschen wurden im Zuge der "Aktion Ungeziefer" weggeschafft. Wie intensiv die Hötenslebener Bürger bespitzelt wurden, macht die Tatsache deutlich, dass es im Ort rund 40 "inoffizielle Mitarbeiter" der Stasi gegeben hat. Hinzu kommt, dass es an der gesamten Grenze, nicht nur in Hötensleben, Hunderte so genannter "Grenzhelfer" aus der Bevölkerung gab, Bürger also, die sich freiwillig dazu hergaben, für diverse berufliche Vorteile und Prämien die Grenzpatrouille zu unterstützen. Allerdings: Auch diese "Freiwilligen" wurden misstrauisch überwacht.


Hier noch drei Informationen von den Schautafeln, die ich ebenfalls für erwähnenswert halte:


Seit 1966 kostete der DDR die Errichtung des Kolonnenweges mit den diversen Plattenarten 185 Millionen Ostmark.


Bis 1981 gab es an der Grenze 773 km lange Kfz-Sperrsysteme (Kfz-Sperrgräben und Kfz-Höcker), allein auf den Sperrgraben entfielen 623 km. Kosten pro Kilometer: 54.300 Ostmark.


Zwischen 1961 und 1987 flüchteten ca. 2.400 Grenztruppenangehörige.


Mitten auf dem Grenzstreifen, oben direkt neben dem Führungsturm, mache ich eine Rast. Entspannend ist sie nicht. Erstens macht mir dieser Ort zu schaffen und zweitens die Sonne. Ohne Schatten ist das heute kaum auszuhalten. Erst, als ich wieder weitergehe und ein Wald mich aufnimmt, wird es besser. Gut, dass es heute nicht so weit geht, die Sonne laugt mich aus, mein Wasservorrat schwindet rapide.


Am Ortseingang von Offleben wechsel ich mal wieder nach Niedersachsen. Direkt an der Grenze an einem Haus ein Gasthaus-Schild: "Gasthaus zur Grenze". Doch die Treppe zur Tür hinauf ist abgerissen, die Tür selbst mit Brettern zugenagelt. Hier erfrischt sich kein Gast mehr. Damals ist man noch zum "Grenzegucken" hierher gekommen, an den Schlagbaum nur wenige Schritte weiter. Jetzt ist mit der Grenze kein Geschäft mehr zu machen.


Für mich ist auch keine Tränke in Sicht. Dafür ein großflächiges Plakat an einer alten Hauswand mit Werbung für Sprudelwasser, das in einer riesigen Flasche perlt - "nordisch, spritzig, frisch". Genau das, was man in dieser Hitze sehen will, wenn in den eigenen Flaschen kaum noch was drin ist - und das ist auch noch warm.


Hinter Offleben verlasse ich das Grüne Band. Eigentlich sollte es heute bis Harbke gehen, aber dort hat der letzte Beherbergungsbetrieb vor einiger Zeit bereits zugemacht. Alternative konnte nur Helmstedt sein. Nur von Harbke (Sachsen-Anhalt) aus fährt kein Bus nach Helmstedt (Niedersachsen). Also nehme ich die Straße von Offleben nach Büddenstedt (Niedersachsen), um von dort mit einem Bus nach Helmstedt zu gelangen. Die Straße ist lang, wird immer länger - und heißer. Beeilen muss ich mich nicht, denn der Bus fährt erst in knapp einer Stunde und in einer Viertelstunde bin ich in Büddenstedt. Aber ich will jetzt was Kaltes trinken, die Flaschen sind leer. Am Platz vor dem Rathaus, dort wo der Bus abfährt, sind zwei Kneipen noch gar nicht geöffnet, nur aus einem Brunnen sprudelt Wasser. Zur Not ... nee, lieber doch nicht. Ich halte nur mal kurz den Kopf drunter. Die Abkühlung ist ganz nett, ersetzt aber das Trinken nicht. Dann sehe ich eine geöffnete Bäckerei, kaufe mir dort ein Teilchen und eine Flasche Wasser aus dem bereitstehenden Kühlschrank, kippe mir das herrlich prickelnde Nass direkt in den Hals und bitte die nette Verkäuferin, mir meine Flasche noch mit Kranwasser zu füllen. So geschieht es. Jetzt ist wieder alles gut. 


In Helmstedt angekommen folge ich meinem Handy-Navi zu meiner angedachten Unterkunft. Die liegt nicht nur elend weit vom Busbahnhof weg - laut einer Digitalanzeige von 34°C ein besonderes Vergnügen - sondern ist für mich dann letztendlich als Pension auch gar nicht zu erkennen. Außerdem bin ich inzwischen in einem ziemlich verranzten Viertel gelandet und bei der angegebenen Adresse steht nur das Wort "Zimmervermietung" auf einem handgeschriebenen Zettel neben dem Klingelknopf. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich überhaupt klingeln soll, tu es dann aber doch. Nichts rührt sich. Nochmal klingeln. Nichts. Fast erleichtert haue ich ab. Wer weiß, was mich hier erwartet hätte. Ein günstiger Preis ist nicht immer alles. Mein Plan ist klar: Du gehst zur Touristeninformation, die sollen sich um ein Zimmer für dich kümmern, dafür sind sie ja u.a. da. 


Ich komme zum Marktplatz, auf dem sich gerade alles auf ein großes "Bierfest" vorbereitet und sehe, fast hinter einem großen Bierpavillon versteckt, die Touri-Info. Verriegelt und verrammelt! Heute ist Freitag und freitags ist ab 13 Uhr geschlossen. Hrrrrghh!!! Mich in der Hitze hinzustellen und per Smartphone nach einer naheliegenden Unterkunft zu suchen, habe ich keine Lust, also beginne ich, in Helmstedt zu kreisen. Nach zwanzig Minuten werde ich glücklicherweise fündig. Für das gleiche Geld hätte ich zwar in der ursprünglich angedachten Unterkunft drei Mal genächtigt, aber ... alles ist gut! 


Abends verpflege ich mich auf dem "Bierfest", aber nur kurz. Bis in die Nacht hinein schallt die Musik vom Marktplatz bis zu mir ins Zimmer. Zumindest das hätte ich in der anderen Unterkunft auch nicht gehabt. Also wieder alles richtig gemacht!


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Im Großen Bruch

Hornburg - Söllingen (29 km)


Ich frühstücke mal wieder allein. Offizielles Frühstück gibt es hier im Hornburg Hostel nicht. Ich beiße in meinen noch übriggebliebenen Kanten Honigkuchen, den ich mir vor einigen Tagen mal irgendwo gekauft habe. Dazu einen Früchtetee aus dem Regal des Hostels. Also eigentlich alles da, was man braucht. Die Betreiber des Hauses sind gar nicht anwesend, sie gehen bereits ihren eigentlichen Berufen nach. Also Schlüssel auf die kleine Rezeptionstheke gelegt, Haustür zuziehen - und Tschüss!


Zehn Minuten später, direkt hinter dem Ortsausgang, ist es nur noch flach. Plattes Land, platter geht nicht. Auf beiden Seiten des Weges Wiesen und dahinter Wiesen und dann noch mehr Wiesen. Irgendwann mal auch mal Korn, Rüben, Kartoffeln. Ich bin im Großen Bruch angekommen: ein grünes Breitband, das in frühen Zeiten den Harz nach Norden hin abschottete. Vor rund zehntausend Jahren während einer Eiszeit entstanden, unpassierbar lange. Undurchdringliche Sümpfe und Gräben, bis ins Mittelalter nur mit Fähren zu überwinden. Jahrtausende später dann trockengelegt, um Ackerfläche zu gewinnen. Die Gräben, mit Muskelkraft und schaufelähnlichem Gerät ausgehoben, ziehen sich wie Adern durchs Erdreich. An ihren Rändern wächst Röhrig, so üppig, dass mir das Wasser in den Rinnen verborgen bleibt. Aber Wasser ist da. Zwei Graureiher starten aus dem Kranichgraben, keine Kraniche. 


Am Schiffgraben und am Großen Graben entlang bleibt mein Tag grün und leer. Abwechslung hält sich in Grenzen. Hin und wieder ein aufgeregtes Froschkonzert in einem der Gräben, eine Reihe alter Kopfweiden, die sich neben einem Graben seltsam verrenken. Fette Weiden, von Kühen und Pferden bevölkert, fressend, widerkäuend oder schlicht nur dösend; die Wiesen im Saft, teilweise schon gemäht. Zwischendurch ein paar Wildenten, drei Rehe flüchten vor mir mit hohen Sprüngen durch den Weizen. Und Hasen, Dutzende von Hasen! Plötzlich kommen sie aus dem hohen Gras am Wegesrand mitten auf den Weg gesprungen, hoppeln ein wenig rum, hocken sich hin. Manche erkennen mich sofort und rasen auf dem Weg davon. Andere scheinen Fangen zu spielen, realisieren mich überhaupt nicht und kommen auf mich zugerannt. Ab und zu komme ich an Wiesen vorbei, auf denen Bauern mähen oder Heu wenden. Bussarde und Milane segeln in großen Schleifen darüber. Noch nie habe ich so viele dieser Vögel auf so engem Luftraum zusammen gesehen, während Scharen von Krähen am Boden auf Beute lauern. Manchmal sehe ich entfernt auch Dörfer, Veltheim, Mattierzoll und Rohrsheim, aber die lasse ich alle aus.


Obwohl bei Mattierzoll, direkt an der ehemaligen Grenze, ein kleiner Wachturm steht, zum Denkmal erklärt, auf sachsen-anhaltinischer Seite. Und auf die niedersächsische haben sie Zäune herübergeholt, drei Reihen Streckmetallzaun, und eine kleine Gedenkanlage am Straßenrand gebastelt. Der Zaun stand hier zwar nie, aber jetzt steht er eben. Steht er für was? Man gewöhnt sich an so vieles. An die hier und da auftauchenden Reste von Grenzanlagen; hier ein Wachturm, da ein Stück Metallgitterzaun, ein Grenzpfosten, das wird alles normal: Unser täglich Mahnmal. Ich bin mittlerweile an Grenzmuseen gewöhnt, im Schnitt kommt einmal in der Woche eines vorbei. Einheitsfindlinge finde ich täglich, und mit den täglichen Dingen schließt man früher oder später seinen Frieden. Ich werde zunehmend den Gedanken los, dass ich hier eine schlimme ehemalige Grenze entlanglaufe. Ich habe mich an diesen Weg gewöhnt, daran, dass er verlegt wurde, um Mitmenschen leichter erschießen zu können, die ihr Grundrecht auf Freizügigkeit wahrnehmen wollten. Wie schnell richtet man sich ein, in seiner Gewohnheit, im Alltäglichen. In einem totalitären System?


Im Schatten eines größeren Baumes mache ich eine Pause, lege mich ins Gras und betrachte den noch vor mir liegenden, schnurgeradeaus führenden Weg. Im Verlauf meiner Wanderungen habe ich solche Wege lieben gelernt, da derart monotone Streckenabschnitte sich bestens anbieten, um innerlich "aufzuräumen". Man schließt einfach halb die Augen und geht. Dies sind die wahrhaft großen Bilder einer Wander- oder Pilgerreise, bei denen das Nicht-Spektakuläre spektakulär ist. 


Nach mehr als 20 Kilometern "Bruch-Erfahrung" wechsel ich die Himmelsrichtung: von Ost auf Nord. Ich überquere den Großen Graben und damit die alte Grenze und bin für den Rest des Tages in Niedersachsen. Bevor ich mich den kleinen Hügel nach Jerxheim hochschwinge, kommt vorher Jerxheim Bahnhof. Nicht der Bahnhof allein, drum herum befindet sich ein eigener kleiner Ort, entstanden zu der Zeit, als hier ein großer Eisenbahnknotenpunkt war. Zweihundert Züge täglich, Hauptstrecke zwischen Köln und Berlin. Aber das ist lange her, war vor dem Krieg. Zuletzt rollten hier noch Regionalzüge und die eher spärlich. Seit einigen Jahren rosten die Schienen.


Meine Beine scheinen auch etwas zu rosten. Nichts kann auch für Beine ermüdender sein, als kilometerweit durch flaches Gelände zu staksen. Sie brauchen eine Rast. Und da kommt "Ritchy's Grill" in Jerxheim Bahnhof gerade recht. Allerdings steht mir hier gar nicht der Sinn nach Gegrilltem, sondern viel mehr nach dem groß angekündigten Erdbeereisbecher. Und siehe da: Der Eisbecher wirkt wie Doping. Locker und flockig mache ich mich nach dem Eisgenuss an die letzten fünf Kilometer. Liegt das eventuell am Zucker? 


Söllingen ist mein Ziel, die Pension "Alter Bahnhof". Und diese Pension heißt nicht nur mal eben so, die war wirklich mal einer. Kaum bin ich angekommen, steht ein Glas Apfelschorle vor mir, von Frau Göde, der Pensionswirtin, kredenzt. Dort, wo wir sitzen und ich die Schorle trinke, war ehemals Bahnsteig 2, jetzt ist es ein wunderschöner Garten. Wie man sieht: Nicht nur einen ehemaligen Grenzstreifen holt sich die Natur zurück, sondern auch einen alten Bahnhof - wenn man sie nur lässt.


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Kleiner Papst

Stapelburg - Hornburg (32 km)


Nach dem gemeinsamen Frühstück und noch bevor mich Margriet und Heinz mit dem Wagen wieder nach Stapelburg fahren, mache ich von ihnen im Garten noch ein Erinnerungsfoto. Danke, ihr Beiden, ihr wart tolle Gastgeber. Genau dort, wo früher Zaun nebst Mauer verliefen, verlasse ich ihr Auto. Macht's gut, ihr Lieben, und bis bald mal wieder in Helpenstell!


Ein paar Meter von der alten Grenze entfernt steht das Grenzdenkmal: ein Granitfindling, auf dem sich zwei Figuren aus Bronze in einer geöffneten Mauer die Hände reichen. Genauso war es hier am 11. November 1989. Auf BRD-Seite der Grenze stand das "Deutschlandhaus". So nannten die Stapelburger das Haus auf der westlichen Seite. Reisebusse fuhren dort vor, und die Besucher aus dem Westen schauten von einem hohen Podest über die Mauer in den Osten. Heute erinnert nichts mehr daran. 


Ein kurzes Stück geht es hinter Stapelburg noch durch Wald an der Ecker entlang, dann verabschiede ich mich für heute von ihm. Es wird sehr ländlich. Fünf Mal wechsel ich heute Landesgrenzen: Sachsen-Anhalt - Niedersachsen - Sachsen-Anhalt ... Die Dörfer sind so dahingestreut, mit losen Ansammlungen von Anwesen, die einander nicht dicht auf die Pelle rücken, große Gärten drumherum, Bäume. 


Dahinten, am Ende der Felder: eine sanfte, langgestreckte Erhebung. Ein Bahndamm, die Strecke von Ilseburg nach Vienenburg. Davor werden einzelne Fremdkörper sichtbar. Umrisse wovon? Türme? Kontrolltürme? Bei Annäherung: Stahlplatten in schlichter Rechteckigkeit, schmale Scheiben. Weiter östlich: Stahlplatten in scheinbar unterschiedlichen Farben, Rosttöne? Entfaltet sich das Werk nur für die Zugreisenden? Der Wanderer nimmt wahr: eine Stahlplatte. Ist und bleibt eine Stahlplatte. 


Ganz in der Nähe kündigt sich eine schöne Rastmöglichkeit an, eine Ausflugsgaststätte. Schön draußen sitzen! Zwar weht noch ein recht frischer Wind, aber in der Sonne geht es. Aber bei der Gaststätte geht nix: "Mittwoch Ruhetag". Ich mach trotzdem meine Rast, setze mich an einen der Außentische und packe mein Proviant aus. Ein Kaffee wäre aber ganz nett gewesen. 


Wiedelah bleibt hinter mir, Wülperode, Göddeckenrode. Alles Orte, die heute wohl noch so aussehen wie damals. Auf Dorferneuerungsmaßnahmen wartet man entweder noch oder man will sie gar nicht. Genauso wenig wie die Schönheitskonkurrenz "Unser Dorf hat Zukunft". Grobes Kopfsteinpflaster ist bekanntlich die beste Verkehrsberuhigung. Wo alles etwas unterstützungsbedürftig aussieht, sind große Rosenstöcke links und recht der Haustür schon ein besonderer Blickfang.


Am frühen Nachmittag erreiche ich Hornburg. Niedersächsisches Fachwerk, kleine Gassen, gemütlich, nett. Was außer den Homburgern wohl niemand weiß (außer denen, die das gelesen haben): Der größte Homburger war Papst Nummer 147. Er war nur von Weihnachten 1046 bis Oktober 1047 Papst Clemens II. Dann wurde er auf Anregung des abgesetzten Vorgängers und vorübergehenden Nachfolgers Benedikt IX. vergiftet. Auf Schleichwegen wurde die Papstleiche heimlich über die Alpen geschmuggelt und im Bamberger Dom beerdigt. Dort befindet sich seitdem das einzige Papstgrab nördlich der Alpen. Das freut die Bamberger, deren Bischof Clemens mal war. Geboren aber ist er in Hornburg. Das freut die Homburger. Daher setzten sie 2005 zum 1000. Geburtstages ihres Clemens einen kleinen Bronzepapst vor die Kirche - vor die evangelische Kirche.


Mein Bett steht im "Hostel Hornburg", einem kleinen Fachwerkhaus, auf privater Basis im Nebenerwerb geführt, nur zwei Zimmer, pieksauber. Das Schönste am Haus aber: Hier sehe ich zum ersten Mal via Handy Fotos von meinem "frischen" Enkelsohn Neyo. Ein Leckerchen!




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Fliegender Hund

Brocken - Stapelburg (21 km)


Wie an jedem Morgen schaue ich zuerst aus dem Fenster. Huch! Wo gestern Abend noch das Ungetüm von Sendemast unmittelbar vor dem Fenster in den Himmel ragte, ist jetzt nichts. Ich gehe zum Fenster an der anderen Zimmerwand. Wo gestern noch die wegen ihrer großen Kuppel "Moschee" genannte ehemalige Abhörzentrale der Stasi stand, die heute das Brockenmuseum beherbergt - wieder nichts. Nur alles einheitlich grau. Unten im Biergarten des Brockenhotels, den ich so gerade noch ausmachen kann, fliegen Papp- und Styroporteile durch die Gegend - es muss ein ganz schöner Sturm herrschen. Ich höre nichts davon, die Fenster sind stark isoliert. In dieser Lage hier oben wohl auch sinnvoll. 


Kein tolles Wetter, um vom Brocken abzusteigen. Ich frühstücke mehr als in ausgiebiger Ruhe. Die Blicke aller Gäste gehen sehr skeptisch nach draußen, es drängt keinen so richtig raus. Was mach ich? Der Natur trotzen und mich da durchkämpfen? Große Lust dazu stellt sich nicht ein. Eigentlich wollte ich auf das Brockenmuseum verzichten, aber unter diesen Umständen stellt das vielleicht eine ganz gute Überbrückungsmöglichkeit dar. Aber das Museum öffnet erst um 9.30 Uhr seine Pforten ... Egal, heute habe ich Zeit und heute geht es den ganzen Tag bergab. Ich verbringe die Zeit auf meinem Zimmer mit gekonntem Rumgammeln, lege kurz vor Beginn der Museumsöffnungszeit meinen Zimmerschlüssel auf die Rezeptionstheke und verlasse das Brockenhotel.


Vom Hotel- zum Museumseingang sind es nur wenige Meter. Die erste Brockenbahn des heutigen Tages hat gerade eine erste Ladung Touristen ausgeworfen und steht noch schnaufend am Bahnhofsgleis. Alles stemmt sich angestrengt gegen den Sturm, der mit Sicherheit nicht mehr weit von einem Orkan entfernt ist. Und dann sehe ich, dass Fliegende Hunde nicht nur eine Flledermausart sind. Eine ältere Dame zieht an einer etwa fünf Meter langen Leine einen Hund von der Größe eines Meerschweinchens hinter sich her, sichtlich erbost darüber, dass der Hund so gar nicht voranmacht. Auf die Idee, dass dieses arme Geschöpf bei dem Gegenwind gar nicht anders kann, kommt sie offensichtlich nicht. Zwar holt Fiffi etwas auf - doch dann passiert's: Eine gewaltige Böe fegt über die Brockenkuppe hinweg, alle Menschen, ich inbegriffen, kommen gewaltig ins Trudeln - und der Hund hebt an seiner Leine wie ein Kinderdrachen in die Luft ab. Hund jault, Frauchen schreit, andere Touristen gucken entsetzt. Hund kommt gar nicht mehr runter. Frau zieht ihren segelnden Liebling an der Leine zu sich heran und stopft ihn unter ihren Mantel. Am Museumseingang treffen sich Frau, Hund und ich und der Hund bellt, was das Zeug hält. So, als müsste er doch mal eben allen erzählen, was er da gerade erlebt hat.


Das Museum in der alten Stasi-Anlage ist beeindruckend: der Naturpark Harz, der Brocken in der Vorkriegszeit, der Brocken als Festung unter russischer Besatzung und als militärische Anlage der DDR-Grenztruppen und der Stasi, die friedliche "Eroberung" des Brocken durch eine große Menschenmenge am 3. Dezember 1989 unter dem Motto "Freier Brocken - Freie Bürger", der Abriss der umgebenden Mauer und des russischen Lagers, der Rückbau des gesamten Geländes zum heutigen Touristenziel. Ich schaue mir alles in Ruhe an, habe solche oder ähnliche Bilder schon oft gesehen. Am meisten bewegt mich der Moment, wo ich ganz alleine unter der riesigen Kuppel stehe, wo der Sturm drumherum mächtig heult und die mächtige Abhörtechnik mit ihren großen Rund- und Richtantennen sich vor mir aufbaut. Militärische und geheimdienstliche Funksprüche wurden hier aufgefangen und mithilfe von Computertechnik entschlüsselt.


Um 11 Uhr gehe ich dann endlich los. Ich habe tatsächliche Glück. Zwar stürmt es noch gewaltig, aber die Sicht wird immer besser. Der Blick über die Harzberge bis in die Täler wird wieder frei. Als ich weit vornüber gebeugt am riesigen Telecom-Sendemast vorbeistapfe, vollführt der Sturm, der am Mast vorbeistreift, eine schaurige Melodie. Oder sind es doch die Hexen, die unsichtbar und laut lachend auf ihren Besen an mir vorbereiten? 


Der Hirtenstieg, der seit den militärischen Zeiten des Brocken ein breiter Kolonnenweg ist, führt mich nun über den Kleinen Brocken zunächst sanft, dann steil abwärts. Ich quere nochmal die Schienen der Brockenbahn, sehe die Fichten, an denen der Sturm reißt, wieder größer werden, staune über die Unmengen an gewaltigen Steinblöcken, die überall verteilt liegen und bemitleide doch etwas die Wanderer, die sich den Weg in umgekehrter Richtung empormühen. Bald sehe ich tief unten die Eckertalsperre liegen und weiß, wenn ich dort auf der Staumauer stehe, habe ich noch nicht die Hälfte des heutigen Weges geschafft. 


Bei der Ranger-Blockhütte am Scharfenstein, an die auch eine kleine Imbiss-Station angeschlossen ist, lege ich meine erste Rast ein. Der starke Abstieg auf dem Kolonnenweg hat mir etwas weiche Knie bereitet. Bei einem Kaffee erzählt mir die Wirtin, dass direkt neben der heutigen Blockhütte vorher eine große Grenzerkaserne gestanden hat, bei der man nach der Wende sogar an die Umnutzung und den Ausbau zu einer Jugendherberge gedacht hat. Dazu ist es aber nicht gekommen, ganz im Gegenteil, sie wurde abgerissen und nur Fotos erinnern noch an ihren alten Standort.


Auf schönen Waldwegen geht es von Scharfenstein nun endgültig hinunter zur Eckertalsperre. Herrlich liegt sie dort gewunden zwischen den bewaldeten Berghängen und die ganze Szenerie hat etwas von Kanada. An einzelnen Hängen sind die Fichten abgestorben, das Werk des Borkenkäfers. Aber selbst das gehört dazu, auch das ist Natur. Der Wald wird sich erholen.


Ein wenig was von Königsweg-Empfinden stellt sich ein. Kein Wunder, denn inzwischen ist fast Kaiserwetter, bis auf den immer noch recht starken Wind. Und zu diesem Himmelblau und diesem Waldgrün tritt jetzt auch noch das Nachtschwarzblau des Sees. Von 1939 bis 1942 wurde die Eckertalsperre erbaut, vor allem aus militärischen Gründen: zur Versorgung des später VW-Werk genannten Betriebs in Wolfsburg, der zur NS-Zeit aber Rüstungsgüter produzierte. Heute dient der See haupsächlich zur Trinkwasserversorgung der Norddeutschen Tiefebene wie auch dem Hochwasserschutz und der Energieversorgung. Das Wasserwerk am Fuß des Staudamms ist Ausgangspunkt einer 1943 gebauten Fernwasserleitung bis nach Wolfsburg.


Etwas anderes allerdings machte die Eckertalsperre geradezu berühmt: Da die innerdeutsche Grenze mitten durch den See lief, war auch die Staumauer geteilt. Quer über dieser, auf ihrer Krone kaum 1,50 m breiten Mauer, war sogar eine kleine Mauer gebaut mit dem Schild: "Achtung! Stauseemitte Grenze!" Hier steht noch immer eine DDR-Grenzsäule. Dieser Irrsinn. Ein Wunder, dass hier noch Trinkwasser dabei herausgekommen ist.


Über die schmale Staumauer zu laufen, ist direkt etwas gruselig. Links der so friedlich daliegende See, rechts diese nahezu senkrecht abfallende Mauer in die tiefe Schlucht. Mir wird ein wenig mulmig. Weshalb sollten die ausgerechnet zwischen 1939 und 1943 guten Beton gehabt haben? Einen erwischt es doch immer als Ersten, wenn so ein Ding birst.


Das Eckertal nun hinabzulaufen könnte so schön sein. Wieder ein Grenzverlauf an einem "wildromantischen" Bach. Heute kann man ihn sogar als solchen bezeichnen, aber zu DDR-Zeiten hatte das mit Romantik nun gar nichts zu tun. Deshalb will sich bei mir, trotz wild plätscherndem Bach, wilder Felsszenerie und urtümlichem Wald keine Wandereuphorie einstellen. Der Weg wird nur lang, er zieht sich, lang und immer länger an der Ecker entlang, die langsam immer breiter wird. Mal geht der Weg auf der linken Bachseite, mal auf der rechten, die Bäume halten alles tief schattig, kühl und feucht.


Irgendwann ist der Harz dann wirklich zu Ende. An einer Lichtung hört der Wald auf, auch keine Berge mehr. Nur noch Felder. Norddeutsche Tiefebene. Auf einer großen, von niedrigen Bäumen bewachsenen Wiese sehe ich ein kleines Info-Pavillon: Ich befinde mich auf dem ehemaligen Gelände der Kuranstalt Jungborn. 1896 eröffnet, wurde sie nach und nach zur größten Naturheilanstalt Deutschlands, die auch Prominente anzog. Marika Rökk kurte hier, Hans Albers und Franz Kafka. Letzterer ließ sich im Sommer 1912 auf die naturkundliche Behandlungen mit Rohkost, Gymnastik, Heilerdekuren, Schwitzpackungen, Luft- und Sonnenbäder ein, um eine Schreibblockade zu überwinden. Überwinden musste der Schriftsteller auch seine Hemmungen, sich vor anderen splittefasernackt zu zeigen. Denn Nacktheit gehörte zur Heilphilosophie. Im II. Weltkrieg wurde Jungborn zum Lazarett umfunktioniert, in der DDR zu einer Heilstätte für Lungenkranke. Danach stand es jahrelang leer, bis nochmal ein staatliches Altersheim daraus wurde. Schließlich rückten Abrissbagger an, um auf dem Grenzstreifen freie Sicht zu schaffen. Heute sehe ich auf dem verbliebenen großen Wiesengelände noch ein großes Schild über einem hölzernen Tor hängen: "Herrenpark". Nacktheit gab es natürlich nur streng nach Geschlechtern getrennt.


Jetzt strebe ich zügig (weil es ja flach ist) meinem Tagesziel Stapelburg zu. Doch Stapelburg ist wiedermal nicht mein Übernachtungsort. Den finde ich in Ilseburg, einem kleinen Städtchen am Fuß des Harz und etwa 10 Kilometer von Stapelburg entfernt. Dort lebt nämlich Margrit Schmidt, die Schwiegermutter von Uwe Ückerseifer, einem lieben Dorfnachbarn von mir. Dieser hatte vor zwei Jahrzehnten seine Silke aus dem schönen Ilseburg nach Windeck entführt. Für Margrit damals natürlich nicht so einfach, für mich heute eine schöne Fügung. Ich habe ein wunderbares Quartier. Margrits Lebenspartner Heinz holt mich mit dem Wagen in Stapelburg ab, ich werde von Margrit herzlich begrüßt und sitze bald mit beiden im Garten beim Kaffee. Damit nicht genug: Heinz bietet mir an, mit mir nach Wernigerode zu fahren, einem - so muss ich im Nachhinein sagen - der für mich schönsten mittelalterlichen Fachwerkstädtchen Deutschlands. Fast zwei Stunden streifen Heinz und ich durch die Gassen, ich bin hin und weg vom Marktplatz mit seinem alten Rathaus und Heinz ist der perfekte Stadtführer. Der Abend in Wernigerode ist unerwartet sonnig und warm, ein krasser Gegensatz zu den Wetterverhältnissen am Morgen auf dem Brocken.


Eine ganze Weile sitzen wir dann am späten Abend noch bei einem Fläschchen Bier zusammen. Unweigerlich kommt natürlich das Gespräch auf die Vor-Wendezeit, auf das Leben unmittelbar vor und mit der Grenze, von deren Sperrzonenbereich sie nur wenige Meter trennte. Ein Leben, wie es sich niemand vorstellen kann, der es nicht selbst erlebt hat. "Aber auch das haben wir geschafft!" sagt Margrit zum wiederholten Male und Heinz nickt immer wieder zustimmend mit dem Kopf.


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Neyo ist da!!!

Sorge - Brocken (21 km)


Die Wettervorhersage im Internet hatte Regen versprochen, mindestens den ganzen Morgen lang. Geht ja noch, dachte ich mir gestern, wenn dann der richtige Aufstieg zum Brocken kommt, brauchst du den Schirm nicht mehr und hast beide Hände für dein Wheelie frei. Als ich aber heute Morgen aus meinem Zimmerfenster schaue, kann von Regen keine Rede sein. Die Straße ist zwar etwas feucht, das ist es aber auch. Von einem blauen Himmel ist der Harz zwar auch weit entfernt, aber für einen anstrengenden Aufstieg ist das eigentlich das beste Wetter.


Von Sorge an gehe ich für einen Kilometer an der Straße entlang und stoße dann wieder auf den Kolonnenweg, der oben von dem Hang herunter kommt, wo Teile der ehemaligen Grenzsicherungsanlagen als Sorger Freilandmuseum noch im Original zu sehen sind. Von jetzt an habe ich ihm wieder zu folgen, fast den ganzen Tag lang bis kurz vor den Brockengipfel. Der erste Anstieg ist nur kurz, dann schwenken die Lochplatten hinunter ins Tal der Warmen Bode. Die nächsten Kilometer werden angenehm leicht, so, als wolle der Brocken mich einlullen, um dann mit ganzer Kraft zuzuschlagen. Ruhig ist es hier im Tal, kein Straßenlärm, keine Menschen, nur der plätschernde Bach, die Vögel und meine Schritte. Meine Gedanken sind, wie auch schon gestern Abend und oft in der Nacht, bei Lena und Daniel, die vielleicht gerade in diesen Momenten die Geburt ihres ersten Kindes erleben, und in meinem Magen kribbelt es. 


Ich bin lange Zeit in Gedanken versunken, erst die Signalpfeife einer Lokomotive lässt mich aufschrecken und holt mich auf den Weg zurück. Jetzt höre ich auch ihr angestrengtes Schnaufen und sofort wird mir klar, dass dies nur die berühmte Brockenbahn sein kann. Ich werde sie nicht das letzte Mal gehört haben.


 Als ich in der Nähe von Braunlage die Straße erreiche, die nach Elend (der Ort heißt wirklich so!) führt, mache ich nochmal einen Boxenstopp und lasse mich auf einer Bank nieder. Noch einmal verschnaufen, noch einmal Kraft tanken, dann geht es unweigerlich auf den Brocken hoch. Etwa 500 Höhenmeter stehen mir bevor. Das Ganze auf zehn Kilometer, mit Kolonnenweg, mit Wheelie. Der nächste Halt wird keine Pause sein, sondern die Ankunft auf dem Brocken. Gefeiert mit einer Thüringer Rostbratwurst mit Kartoffelsalat beim Brockenwirt, so stelle ich mir das vor. Also los, bringen wir es hinter uns!


Zuerst will der Wurmberg bezwungen sein, genauer gesagt, der Sattel zwischen dem Großen Winterberg und dem Wurmberg. Der Kolonnenweg zieht sich, weil es rechts und links außer hohen Fichten und Büschen nichts zu sehen gibt. Nur die Löcher im Beton und die Linien, wo ich denke: "Da vorne hast du gleich mal wieder eine Stufe geschafft!" Nur in den seltensten Fällen trifft das natürlich zu, meist zeigt mir dort dann nur der Kolonnenweg seine grinsende Fratze. Ich beschließe, gar nicht mehr nach vorne zu blicken, nur noch nach rechts und links und unten. Vor allem zwinge ich mich, langsam zu gehen, alle 30 m anzuhalten, den Atem zu regulieren, um nicht ins Japsen zu kommen. Klappt eigentlich ganz gut. In kurzen Abständen kommt Anfeuerung: Die Brockenbahn schickt mir immer wieder freundliche Signale herüber. Dann bin ich auf dem Sattel am Wurmberg. Auf seinem Gipfel sehe ich den Turm der Sprungschanze, deren Auslauf Richtung Sattel verläuft. Die Zeiten, dass hier Springen stattfanden, sind wohl vorbei, zumindest während der DDR-Zeit spielte sich hier gar nichts ab. Viel zu nahe lag die Schanze an der Grenze. Vielleicht hätte ja ein Springer bei gutem Aufwind in den Westen "machen" können. 


Von jetzt an ist für eine Stunde aktive Erholung angesagt. Das heißt, vom Sattel geht es erst leicht bergab und anschließend eine ganze Weile ohne großen Höhenunterschied ziemlich geradeaus. Das Grüne Band liegt wiedermal wie gemalt vor mir - nur vom Brocken, der jetzt rechts von mir genauso malerisch sich erheben müsste, ist nichts zu sehen. Es ist eben einer der Tage, wo er seinen Gipfel geheimnisvoll in den Wolken versteckt. Wanderern begegne ich auch nicht. Wo sind all die Menschen, die den "deutschesten aller Berge" berennen? Mit Sicherheit nehmen sie nicht die Route über den Grenzweg, über Lochbetonplatten. Aufgestiegen wird von Schierke aus. Oder man/frau lässt sich von dort mit der Brockenbahn raufkarren, runtergehen geht ja noch. Na ja, heute ist Montag, an Wochenenden sieht das hier auch anders aus.


Das Pfeifen und Schnauben der Brockenbahn-Lokomotiven kommt immer näher, manchmal sehe ich sogar unter mir im Wald Dampf aufsteigen. Dann vollführt der Kolonnenweg einen rechtwinkligen Knick und läuft jetzt direkt steil auf den Brocken zu. Sagt meine Karte, sehen kann ich von ihm noch nichts, zumindest keinen Gipfel. Dafür sehe ich endlich die kleine Schmalspurbahn, wie sie sich dort hinten mit ihren vier nostalgischen Waggons den Hang hinunterwindet. Eine Viertelstunde später stehe ich vor ihren Schienen. Damit hat für mich die Plackerei so gut wie ein Ende. Zwei Kilometer lang folge ich den Schienen auf dem Goetheweg, und es kann eigentlich nur eine Frage der Zeit sein, dass mir die Brockenbahn begegnet. Und tatsächlich, kaum fünf Minuten lang gehe ich an den Schienen entlang, kommt mir eine Bahn entgegen und hüllt mich für Sekunden in ihren dunkelgrauen Rauch ein. 


Bald erreiche ich den Punkt, wo die Versorgungsstraße von Schierke heraufkommt und auf der ich nun die letzten paar hundert Meter bewältigen muss. Nochmal geht es gut steil hinauf. Jetzt begegnen sie mir! Alle, die sich jetzt den Berg Richtung Schierke hinuntertrudeln lassen: wenige Einzelwanderer, mehr Paare, ganze Gruppen, von denen sich einige so anhören, als hätten sie sich für den Abstieg beim Brockenwirt erst Mut antrinken müssen.


Endlich bin ich oben! Mein letzter "richtiger" Berg ist geschafft, mit 1141 m immerhin der höchste Norddeutschlands. Ich freue mich. Ich glaube, meine härtesten Prüfungen auf diesem Weg liegen damit hinter mir.


Am Brockenbahnhof warten gerade einige Bergtouristen darauf, dass sie in den bereitstehenden Zug einsteigen dürfen. Auf dem Weg weiter hoch, zum großen rot-weißen Sendemast, zum Brockenhotel, zum Brockenhaus, dem heutigen Museum und der früheren Stasi-Abhörzentrale, ist im Moment niemand mehr. Vielleicht haben die schlechte Wettervorhersage und die tief hängenden Wolken viele davon abgehalten, heute hier hochzukommen. Mir soll das sehr recht sein. Ich lenke jedenfalls, wie am Fuße des Brocken bereits beschlossen, meine Schritte in die "Fressbaracke" vom Brockenwirt und hole mir an der Selbstbedienungstheke meine Thüringer Rostbratwurst ab - obwohl ich ja gar nicht mehr in Thüringen bin, sondern in Sachsen-Anhalt.


Der Brocken lag zur DDR-Zeit nicht unmittelbar an der Grenze, aber im Grenzgebiet. Er konnte zwar zunächst noch von DDR-Bürgern mit Passierschein besucht werden, wurde aber 1961 zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Die Bahn stellte von einen Tag auf den anderen den Verkehr ein. Touristen durften nicht mehr hinauf. 1985 wurde der untere Rand des Plateaus sogar mit einer Mauer umgeben. Am 3. Dezember 1989 erzwangen Teilnehmer einer Sternwanderung die "Maueröffnung". Mittlerweile lockt der Brocken jährlich wieder Tausende Touristen an - und Wanderer vom Grünen Band. In einer Broschüre, die beim Brockenwirt ausliegt, lese ich noch: "Das Klima auf dem Gipfel entspricht dem eines Berges in den Alpen in ungefähr zwei- bis zweieinhalbtausend Meter Höhe. An dreihundertsechs Tagen im Jahr macht Nebel die Brockenspitze unsichtbar, an einhundert ist sie von Eis bedeckt, an einhundertsechsundsiebzig mit Schnee. Fünfundachtzig Tage, ein Viertel eines Jahres, herrscht Frost. Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt weniger als drei Grad Celsius." Ja wo bin ich denn hier? In Russland? Das moderne Thermometer über der Theke nennt als momentane Außentemperatur: 5,9°C.


Meine Unterkunft ist das Brockenhotel, ehemals "der älteste Fernsehturm der Welt", jetzt eine Herberge, die von drinnen schöner ist, als sie von draußen aussieht. Mein Zimmer liegt im vierten Stockwerk, aber ich fahre mit dem Fahrstuhl erstmal hoch bis ins achte. Hier ist die Aussichtsplattform. Und die Aussicht ist in der Tat grandios. Zumal genau in der Zeit, als ich meine Thüringer Rostbratwurst gegessen habe, die Wolken hochgezogen und teilweise sogar aufgerissen sind. Ich sehe zum Wurmberg mit seiner Schanze hinüber, sehe das Grüne Band und den Goetheweg und stelle fest, dass ich heute ganz schön was geleistet habe. Zur anderen Seite hin sehe ich, wo sich morgen hinter dem Kleinen Brocken der Plattenweg ins Tal absenkt, ich sehe die große Wasserfläche der Eckertalsperre, über deren Staumauer ich gehen werde und ich sehe sogar Ilseburg, wo ich morgen mein nächstes Quartier haben werde. Bei gutem, klaren Wetter soll die Aussicht von hier oben wohl 150 Kilometer weit über den Harz bis in die Norddeutsche Tiefebene gehen, mein Wandergebiet für die nächste Woche.


Und dann der schönste Moment des Tages: Ich bin gerade in meinem Zimmer angekommen, habe gerade den Wheelie und meinen kleinen Rucksack in eine Ecke gestellt, aber die Schuhe immer noch an, da kommt DER Anruf: "Tjaaa, Papa, wir sind jetzt zu dritt!" Mir hüpft das Herz bis in den Hals. Daniel erzählt in Kurzform alles, was ein neugieriger Vater wissen möchte, und ganz zum Schluss verrät er sogar noch den Namen seines Sohnes: Neyo Bennet. Dann beenden wir auch schon das Gespräch. Ich weiß alles, was ich wissen wollte, und Daniel widmet sich - mit Sicherheit mit Hingabe - wieder Frau und Kind.


Abends, kurz vor Sonnenuntergang, hole ich mir aus dem Hotelrestaurant im 7. Stockwerk zwei Flaschen Bier und gehe damit zwei Treppen hoch auf die verglaste, vor Wind und Wetter geschützte Aussichtsplattform. Ich bin ganz allein hier oben und setze mich auf den Fliesenboden direkt vor eines der großen Panoramafenster - und lasse in Frieden und Beschaulichkeit mein neues Enkelkind pinkeln. 


Bis zum Horizont nur Berge. Wie riesige Theaterkulissen hintereinander aufgezogen, um Dreidimensionalität zu erzeugen. Bergzüge ineinander verschränkt, bewaldet, in unterschiedlichen Grautönen schattiert, die am weitesten entfernten nur noch grau. Ich wünsche Neyo, dass auch er solche Bilder einmal lieben lernt.


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Viel Abwechslung

Bad Sachsa - Sorge (31 km)


Frau Kruse hat morgens schon gebacken: ein Blech köstlichen Bienenstich. Jetzt bekommt jeder Gast ein Stück in eine Tüte gepackt und feierlich überreicht. Ich freue mich ehrlich darüber, denn erstens mag ich Bienenstich und zweitens ist das ja auch eine nette Wegzehrung. Die anderen drei Herrschaften, ein älteres Ehepaar und eine genau so alte Dame, schauen etwas irritiert, nach dem Motto: "Was soll ich denn damit? " Die drei werden sich heute Nachmittag im Café die Schwarzwälder Kirschtorte reinpfeifen und keinen selbstgebackenen Bienenstich von Frau Kruse. Diese drei Stücke wären bei mir besser angelegt gewesen.


Als ich meine Sachen packe, durchzuckt es mich. Mein Schirm ist weg! Wo ist mein Schirm? Bingo! Habe ich gestern Abend im Restaurant vergessen. Frau Kruse: "Jetzt wird's aber schwierig! Die wohnen gar nicht da in dem Haus und geöffnet wird da erst um 11 Uhr." Zu spät für mich. Heute habe ich eine lange Strecke vor mir, eigentlich müsste ich jetzt schon weg sein. Ich versuche es einfach, verabschiede mich von Frau Kruse und stehe drei Minuten später vor der Tür des Restaurants. Durch das Fenster sehe ich drinnen schon die Putzfrau hantieren. Ich klopfe an, sie winkt mir durchs Fenster zu und öffnet mir strahlend die Tür - mit meinem Schirm in der Hand. Woher wusste die Frau, was ich wollte? Ich mache mir da jetzt keine Gedanken drüber, freue mich, dass ich meinen Schirm wieder habe, bedanke mich und ziehe ab.


Heute "mache" ich die ersten Höhenmeter im Harz und sie werden recht ordentlich werden. Doch zuerst gibt es noch einen kleinen Anlauf durchs Vorland. Durch dunklen Wald, an Erdfällen und an einer Reihe von Teichen vorbei komme ich nach Walkenried. Der Ort sieht ein wenig wie vorgestern aus oder wie ein Ort in den Bergen, der seine Schönheit erst unter einer geschlossenen Schneedecke richtig zur Entfaltung bringt. Das Highlight ist auf jeden Fall die Klosterruine. Das Kloster, das Ordensbrüder der Zisterzienser 1127 erbauten, muss ein imposanter Bau gewesen sein. Viel steht davon nicht mehr. Die Mauerreste der gotischen Klosterkirche sind beeindruckend. Vor allem, wenn man überlegt, wie lange die schon stehen. Ein Jammer, dass es sich die Mönche damals mit ihren weltlichen Nachbarn, den Bauern, verscherzten, die 1525, im Bauernkrieg, über das Kloster herfielen, plünderten, was nicht niet- und nagelfest war, und die Gemäuer verwüsteten. Am schlimmsten wüteten sie in der Kirche, die danach zusehends zerfiel. Irgendwann später waren statt Kirchenmusik nur noch Hammerschläge zu hören. Die Steine der Mauern wurden abgetragen und zum Bau anderer Gebäude benutzt. 


Hinter Walkenried könnte ich jetzt schon den Harzer Grenzweg nehmen, der für die nächsten vier Tage, parallel zum Grünen Band, mein stiller Begleiter sein wird. Mach ich aber nicht! Er macht mir noch einen zu großen Schlenker. Ich kürze über eine Landstraße ab. Der Tag wird noch lang genug. Dann aber geht es bergauf, reichlich und unerbittlich. Auf einer geländerlosen Betonbrücke der DDR-Grenzer quere ich das Flüsschen Zorge und dann geht es den Bergwald hoch bis zum Spitzen Winkel, der so heißt, weil der Grenzverlauf dort eine Spitzkehre vollführt. An dieser Stelle beginnt eigentlich eine ganz nette Wegvariante: Der Kolonnenweg trennt sich von einem gut markierten Pfad, der direkt auf der ehemaligen Demarkationslinie entlangführt. Historische, aber auch neuere Grenzsteine begleiten ihn. Aber "das Geläuf" ist tief und mit Baumwurzeln übersät. Für den normalen Wanderer vielleicht noch fußfreundlich, für mich und meinen Wheelie doch ganz schön anstrengend. Doch wie ist die Devise? "Hilft ja nix!" und ich ackere mich hoch. 


Mitten im Wald überholt mich eine junge Frau auf dem Fahrrad mit ihrem Scotch-Terrier. "Geht das hier zur Zweiländereiche?" Ich bestätige es, glaube jedenfalls, dass das stimmt. Meine Karte behauptet das. Zehn Minuten später treffe ich sie wieder - vor der Zweiländereiche. Dieser mächtige Baum besteht aus zwei Stämmen, von denen der eine östlich, der andere westlich der Grenzlinie gewachsen ist. Somit gehört ein Stamm zu Niedersachsen und einer zu Thüringen. Für die junge Frau ist aber etwas ganz anderes wichtig. Bei einer Art Briefkasten, schwarz-rot-gold angemalt, drückt sie sich gerade einen Stempel in ein Heftchen. Sie sammelt Stempel. Entlang der Harzer Wanderwege sind Stempelstellen eingerichtet, "über 200", meint die Frau. Es ist ihr zu einem Hobby (oder einer Manie?) geworden, all diese Stempelstellen anzulaufen oder mit dem Fahrrad anzufahren, immer an den Wochenenden. "Bald habe ich alle zusammen", verkündet sie stolz. Jedenfalls ein besseres Hobby als Fernsehen. 


Weiter geht es bergauf, ganz übel bergauf. Warum mussten eigentlich die Menschen oft ihre Grenzen über Berggipfel ziehen? Warum sind sie nicht im Tal geblieben? Aber nee, man musste schon immer auf andere hinabschauen können ... Ich ackere und ackere mit meinem Wheelie den Pfad hoch, in gespannter Erwartung auf eine besondere Attraktion: die Wende-Leiche. Was mag das sein? Die können doch hier oben nicht einfach so eine ... In dem Moment als ich oben bin, fallen mir riesige Schuppen von den Augen: Vor mir steht in ihrer ganzen Pracht: die Wendel-Eiche. Ich lese auf einem Hinweisschild: "Die Krone der Wendeleiche besaß früher eine kleine eingebaute Aussichtskanzel, zu der eine wendelförmige Treppe führte. Durch die Teilung Deutschlands stand die Eiche einige Meter südlich der Grenze auf DDR-Gebiet, sodass die Aussichtskanzel nicht mehr genutzt werden konnte und verfiel." Das kommt davon, wenn man solch ein Wort ohne Bindestrich schreibt. 


Ich sitze gerade unter der Bank der Wendel-Eiche, um mich ein Weilchen auszuruhen, als eine ältere, aber durchaus rüstige Dame von der anderen Seite den Berg hochkommt. Sie setzt sich zu mir und schnell ergibt ein Wort das andere. Sie kommt aus Zorge, einem Ort im Tal, unterhalb der Wendeleiche, nicht zu verwechseln mit meinem heutigen Ziel, Sorge. Zorge lag im Westen, Sorge im Osten. Sie hat bis vor wenigen Jahren in der Küche eines Gasthofs gearbeitet, wurde dann aber gekündigt. "Ich konnte meinem Chef damals nicht böse sein. Vielen ist es so in Zorge gegangen. Zorge war bis Anfang der 90er-Jahre ein gut besuchter Erholungsort. Unser Walddorf lag im Zonenrandgebiet. Es gab Zonenrandförderung. An dieses Geld kann man sich gewöhnen. Zorge war dank seiner idyllischen Lage und Ruhe bei den West-Berlinern, Hamburgern und Bremern ein beliebtes Ferien-Domozil. Viele Familien bauten sogar an den Hängen ihren Zweit-Wohnsitz. Doch diese Investoren sind inzwischen 25 Jahre älter. Ihre Kinder haben andere Ziele. Es gab in Zorge mal an die 20 Gaststätten, unzählige kleine Fachgeschäfte, Sparkassen, ein Kurhaus und Erholungsheime, aber kein produzierendes Gewerbe. Zuerst blieben vor mehr als 20 Jahren die Berliner weg. Ihre Ziele waren nun Potsdam, die Mecklenburger Seenplatte, Usedom. Dann kamen die Hamburger und Bremer nicht mehr, vor ihren Türen lag jetzt die noch unbekannte Ostsee und Rügen. Mitte der 90er-Jahre verabschiedete die deutsche Politik die Gesundheitsreform. Statt vier gab es nur noch drei Wochen Kuraufenthalte für Patienten. Die Erholungsheime wurden zu Wackel-Kandidaten, die Beschäftigten bangten um ihre Jobs. Die Mediziner haben Sorge mittlerweile verlassen. Viele Inhaber der kleinen Fachgeschäfte haben ihre Schaufenster verhängt, etliche Gasthöfe dicht gemacht. In dieser Hinsicht war die Wende nicht gut für Zorge. Trotzdem freue ich mich, dass die Einheit gekommen ist. Ich konnte Verwandte von drüben endlich wiedersehen." 


Und weiter geht's mit den Besonderheiten entlang des Grenzwegs. Ich erreiche einen nächsten "Drei-Länder-Stein". Autos fahren ganz nah vorbei, auf der Straße nach Hohegeiß. Wiedermal treffen drei Bundesländer zusammen: Niedersachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Ich verabschiede mich also von Thüringen, jenem Bundesland, das weitaus die längste Grenze zum ehemaligen Westen besaß. Und ich begrüße Sachsen-Anhalt, das mich von heute an bis an die Elbe begleiten wird. Bereits 1750 wurde der Stein hier gesetzt und die Inschriften zeigen an den drei Seiten an, welche Territorien früher an diesen Stein grenzten: HB (Herzogtum Braunschweig), KP (Königreich Preußen) und GW (Forstgebiet der Grafen von Wernigerode). Nach 1945 war der Stein ein Grenzpunkt zwischen BRD und DDR. 


Am Drei-Länder-Stein beginnt der angenehme, weil einfache Teil des Tages. Ohne nennenswerte Höhenunterschiede verläuft der Grenzweg nun in unmittelbarer Nähe zur Straße nach Hohegeiß. Zwar ist es der ursprüngliche Kolonnenweg, doch in der Nähe des Erholungsortes Hohegeiß ist er mit Feinsplit überzogen, zur besseren Fußfreundlichkeit für den hier urlaubenden Wanderer. Sobald ich allerdings den Dunstkreis von Hohegeiß wieder verlasse, kehrt der gute, alte Kolonnenweg mit all seinem Charme in mein Leben zurück. Doch er hält immerhin ein seltenes Ereignis für mich bereit: den Brockenblick. Über 300 Tage im Jahr, so sagt man, würde er sein Haupt in Wolken verstecken. Heute liegt er gut sichtbar vor mir, zu gut. Wenn Berge zum Greifen nahe erscheinen, soll es Regen geben. Und tatsächlich ist er für morgen vorhergesagt, und zwar reichlich. Wäre ja auch zu schön gewesen. Trotzdem, morgen krieg ich dich!


Dann nochmal der typische Kolonnenweg: runter ins Loch, rauf in den Himmel. Doch selten habe ich das Grüne Band so deutlich vor mir gesehen: eine Schneise von hellem Wiesen- und Birkengrün zieht seine Spur durch tiefgrünen Fichtenwald. Nach dem letzten saftigen Anstieg, wo der Grenzstreifen im rechten Winkel abbiegt und seine Höhe hält, stehe ich am "Ring der Erinnerung".


"Natur-Kunst" nennt sich das, von einem Künstler konzipiert und geschaffen. Aus abgestorbenen Baumstämmen, Ästen und Zweigen zusammengetragen und im Kreis aufgetürmt, Durchmesser etwa 60 Meter. Vier Eingänge, mittendrin noch einige Original-Grenzzaunpfosten wie dürre Wachsoldaten. Das Kunstwerk daran ist für mich nur schwer zu erkennen, aber ich bin auch ein Banause. Wie ich lese, geht es auch mehr um die Idee, die dahintersteckt. Die eigentliche Kunst soll nämlich die Natur vollbringen: Während das Holz vermodert, sollen es möglichst viele Vögel mit ihrem Kot beglücken. Beides zusammen ergibt dann eine nährhaltige Mischung, die dafür sorgt, dass aus Flugsamen relativ schnell neue Bäume und Büsche sprießen. Und jetzt? Woran soll mich dieser "Ring der Erinnerung" erinnern? War die Grenze eine Dornenkrone? War die DDR ein Hexensabbat? Soll ich sehen, wie gut es aussieht, wenn Gras über etwas wächst?


Der Rest des Weges nach Sorge hinein ist ein Stück Weg durch das "Freiland-Grenzmuseum Sorge". Wieder sehe ich Reste der originalen Grenzsicherungsanlagen an ihrem ursprünglichen Standort: ein Stück des Hinterlandzaunes mit Stacheldraht und Signaldrähten, ein Teil der Hundelaufanlage, ein Wachturm, der Streckmetallzaun, einen Beobachtungsbunker, das Zugangstor in den an dieser Stelle einen Kilometer breiten Schutzstreifen, der in den Schutzstreifen führende Zubringer-Kolonnenweg, eine DDR-Grenzsäule. 


Es war ein langer Tag, ein anstrengender Tag, ein abwechslungsreicher Tag - und dann ruft mich abends noch Daniel an und teilt mir mit, dass er mit Lena jetzt im Kreißsaal ist. Die Geburt des Kronprinzen vom Kronprinzen steht bevor. Und wie soll ich jetzt schlafen?


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Falsch abgestiegen

Brochthausen - Bad Sachsa (23 km)


Ich habe nicht fertig, aber ich habe Halbzeit! Das bezieht sich aber jetzt nur zeitlich auf das Grüne Band, den Berliner Mauerweg lasse ich mal außen vor, der war ja nur "zum Warmlaufen". Fast 700 Kilometer bin ich bereits durch die Berge unterwegs: Vogtland, Thüringer Schiefergebirge, Frankenwald, Thüringer Wald, Rhön, Eichsfeld. Jetzt liegt noch der Harz vor mir, mit dem dicksten Brocken: dem Brocken. Danach wird es flach: Altmark, Wendland, Elbe, Holsteinische Seenplatte. Dann die Ostsee, mein Ziel. Eigentlich müsste ich mal die Höhenmeter zusammenrechnen, da käme wohl schon so einiges zusammen.


Mein Landgasthof "Zur Erholung" hält außer einem fantastischen Frühstücksbuffet noch einen besonderen Service bereit: die BILD-Zeitung. Darauf habe ich eigentlich immer schon gewartet. Die komplette Titelseite und weitere drei Seiten empören sich über die Wiederwahl von Sepp Blatter zum FIFA-Präsident, damit ist eigentlich auch schon von allem berichtet, was die Welt wissen muss. Dann noch eine Seite barbusiger Mädels, das war's. Auf diese Weise umfassend informiert, mache ich mich auf den Weg.


Es dauert noch einige Zeit, bis ich das Ortsende von Brochthausen und den Abzweig nach Zwinge erreicht habe. Neben der Straße fällt mir ein weiterer Gasthof auf: "Zur Endstation". Welch treffender Name für einen Gasthof, der seinerzeit der letzte vor dem Grenzübergang Brochthausen-Zwinge war. "Zur Endstation"??? Moment mal, irgendwie kommt mir der Name jetzt kolossal bekannt. Hatte ich damals bei der Zimmerbuchung nicht schon gedacht "Wie originell!"? Im selben Moment wird mir bewusst, dass die Wirtin von der "Erholung" gestern beim Einchecken etwas gestutzt hatte und kurz bemerkte: "Na ja, für eine Nacht geht das!" Ich schaue in meinem Notizbuch nach, in dem ich immer tags zuvor Name, Adresse und Telefonnummer meiner nächsten Unterkunft vermerke, damit ich am Ziel überhaupt weiß, wo ich hin muss. Dort lese ich als Unterkunft für den 29. Mai: "Landgasthof zur Endstation". Ich bin gestern in der falschen Herberge abgestiegen!!! Ich glaub's nicht! Ich habe zwar keinen schlechten Tausch gemacht, aber trotzdem ist das ein Hammer! Irgendwie fühle ich mich jetzt ein wenig schlecht. Kann man das so unkommentiert laufen lassen? Ich beschließe: Nein! Etwas zaghaft betrete ich die "Endstation" und laufe prompt der Wirtin in die Arme. Ich gestehe reumütig - und ernte ein Lachen! "Ich glaube, einer von unseren beiden Gasthöfen muss seinen Namen ändern, denn ob sie es glauben oder nicht: Sie sind nicht der erste, dem das passiert ist. Alles ok! Dann kommen Sie halt das nächste Mal zu uns!" Ich verspreche es und ziehe erleichtert von dannen.


Kurz darauf bin ich im Nachbardorf Zwinge. Doch lange Jahre konnte man zueinander nicht kommen. Die Grenze lag dazwischen. Eisenbahnlinie und Straße waren hier unterbrochen und der Grenzzaun zog sich direkt vor den Häusern entlang. Zudem wurde im Mai 1966 um den westlichen Vorposten des Ortes, die Ziegelei, eine Mauer nach dem Vorbild der Berliner Sektorengrenze oder wie in Mödlareuth gezogen. Rübergucken verboten! Bei Zwinge sah es nicht nur martialisch aus; unweit von Zwinge offenbarte sich 1971 auch die Brutalität dieser menschenverachtenden Grenze. Ein junges Paar mit einem Kleinkind wollte am 14. Dezember die Grenzanlagen überwinden. Dabei geriet es auf eine Mine, die die Frau lebensgefährlich verletzte. Ihr Mann erlitt leichtere Verletzungen, das Kind blieb wie durch ein Wunder unverletzt. Die Rettung verdanken die Flüchtlinge couragierten Bürgern aus dem westlichen Brochthausen, denen es gelang, die Familie aus dem Minengürtel auf westdeutsches Gebiet zu schaffen.


Wo später ein kleiner Grenzübergang geschaffen wurde, stehen heute zwei LKW wie auf einem Parkplatz. Ob die Fahrer, die jetzt in ihren Kojen vielleicht noch schlafen, wissen, dass hier einmal peinlichste Kontrollen stattgefunden haben? Um die Ecke steht das alte Schulhaus, jetzt ein Kindergarten. Ob damals die kleinen Schulkinder gefragt haben, was das da vorne für ein komischer Zaun sei? Fest steht, dass sie, wie viele Schulkinder entlang der Grenze, ausgefragt wurden, welches Sandmännchen sie sich abends im Fernsehen angeschaut hätten. Ein perfider Trick, um herauszufinden, ob in einem Haus das verbotene Westfernsehen eingeschaltet wird.


Hinter Zwinge verschmähe ich mal wieder den Kolonnenweg. Er und damit der ehemalige Grenzverlauf machen einen weiten Bogen, verlaufen durch inzwischen wieder dichten Wald und lassen kaum einen Berg aus. Außerdem kämen Kilometer zusammen, die ich ablehne mir aufzuerlegen, wenn es nicht sein muss. Also tippel ich wieder an kleinen Landstraßen entlang durch die Täler und fühle mich äußerst wohl dabei. Nur am Talende muss ich über den Berg, um dort oben über die Grenze nach Niedersachsen zu wechseln. 


Und das wird gar nicht so einfach. Der stark aufwärts führende Weg verdient eigentlich seinen Namen nicht. Tiefe Fahrspuren und hüfthohes Gras werden zum Problem, denn in den Fahrspuren steht Wasser und das tropfnasse Gras deckt die Pfützen teilweise hinterlistig zu. Bald bin ich bis zum Gürtel klatschnass. Außerdem beginnt es zu regnen. Eine Schauer, die es richtig gut kann. Schirmeinsatz geht nicht, denn ich brauche beide Hände, um meinen Wheelie zu manövrieren. Dann kommt noch das Sahnehäubchen: Ein Baumstamm liegt genau in solch einer Höhe über dem "Weg", dass ich weder mal eben drübersteigen, noch den Wheelie drüberhieven kann. Mein Tagesrucksack hindert mich aber auch daran, mich einfach bückend darunter durch zu bewegen. Was ist zu tun? Ich lege mich flach auf den Bauch, robbe wie zu besten Bundeswehrzeiten durchs nasse Gras unter dem Stamm hindurch und ziehe meinen Wheelie hinterher, der so gerade drunter durch passt. Über mir schlägt ein Eichelhäher Krach und ich bin mir sicher, er ruft gerade seine Kollegen zusammen: "Kommt mal alle her, Jungs, hier läuft gerade 'ne tolle Nummer!" Fazit: Ich bin bis auf die Knochen nass, aber ... das war doch mal was anderes! 


Zehn Minuten später überquere ich den Kolonnenweg und damit die Grenze und komme aus dem Wald heraus. Die Sonne scheint und ich kann zu meiner Verblüffung nichts von einer dunklen Wolke sehen, die gerade über mir im Wald den Regen ausgekippt hat. Hat die sich vollkommen aufgelöst? Aufgelöst wie der Bach, auf den ich kurz darauf bei einer kleinen Brücke eigentlich stoßen soll, als ich in Richtung Bad Sachsa ziehe, aber nur trockene Kiesel sehe. Das ist allerdings wieder normal, wie ich bald darauf auf einer der Informationstafeln lese, die den hiesigen Karstwanderweg begleiten. Die Steina dort unten führt nur zwei Monate im Jahr Wasser, die übrige Zeit sei ihr Bett so trocken wie ein Wüstenwadi. Vier Kilometer unterhalb der Ortschaft Steina versickert das Harzflüsschen im Untergrund. Das Wasser sucht sich seinen Weg unter einer mächtigen Schicht von Flusskies und Geröll. Erst 20 Kilometer weiter tritt das Wasser wieder zutage. Auf seinem unterirdischen Weg fließt es über eine Schicht aus Gips. Und da Gips leicht wasserlöslich ist, entstehen Hohlräume. Der darüber liegende Flusskies rutscht nach und es bilden sich kreisrunde oder ovale Erdfälle. Einige dieser Löcher füllen sich mit Wasser, andere bleiben trocken. Der Wald, den ich jetzt durchwandere, ist von Erdfällen übersät. Wenn ich jetzt nicht wüsste, dass es sich um eine Karsterscheinung handelt, hätte ich Bombentrichter vermutet. Am Waldrand stoße ich auf einen Erdfall aus dem Jahr 1995. Die Wände sind noch nahezu senkrecht und es wird noch lange dauern, bis man die Sicherung, die man um das kreisrunde Loch gezogen hat, abbauen kann. Moment ..., ich glaube, ich höre da gerade so ein Grollen unter mir ... Schnell weg hier!


Nächste Station: Tettenborn. Hier beginnt der "Harzer Grenzweg", der von nun an bis Hornburg über 91 km hinweg das Grüne Band über den gesamten Harz begleitet, bestens ausgezeichnet, sagt man. Na prima! Eigentlich begann dieser Weg, der auch den Brocken mit einbezieht, in Bad Sachsa, seitdem aber in Tettenborn 1992 ein (weiteres) Grenzlandmuseum eröffnet wurde, hat er seinen Startpunkt hier. Bis Bad Sachsa sind es noch vier Kilometer, immer wieder ziehen tiefschwarze Wolken auf und nur knapp an mir vorbei. Erstens will ich nicht mehr nass werden und zweitens ist eine Museumsbesichtigung gegen Ende eines Wandertages nur halb gut. Deshalb entscheide ich mich, dieses Museum mal auszulassen. Ich habe schon einige gesehen und werde auch noch welche sehen, in nördlicheren Regionen.


Schnurstracks komme ich jetzt nach Bad Sachsa. Nichts Mondänes, klein und beschaulich, hat bessere Tage gesehen. Frau Kruse, meine Zimmerwirtin, die mich direkt auf eine Tasse Kaffee einlädt, stellt klar: "Also, Herr Wagner, ich weiß nicht, ob Sie das wissen, wir sind hier im Westen, auch wenn Bad Sachsa mal zu Thüringen gehörte. Durch einen Gebietsumtausch ist das nach dem Krieg mal geändert worden und wir kamen von der russischen in die britische Zone. Aber viele Leute, die jetzt hierher kommen, meinen, wir hätten zur DDR gehört. Früher waren wir ein gut gehender Kurort, aber das ist jetzt schon lange nicht mehr so. Damals kamen viele Leute hierher an die Grenze und kurten. Dann kam die Wende. Etwa fünf Jahre lang kamen dann noch besonders die Leute aus der ehemaligen DDR, dann war das vorbei. Der Tourismus hat hier schwer nachgelassen und nach der zweiten Stufe der Gesundheitsreform auch der Kurbetrieb. Ich glaube, wenn sich der ehemalige West-Harz nicht was einfallen lässt, geht hier bald alles den Bach runter."


Als ich am frühen Abend nochmal durch den Ort gehe, sehe ich Frau Kruses Befürchtungen bestätigt. Auf den Straßen kaum ein Mensch, genauso wenig in den zahlreichen Gastronomien. Oder liegt es heute nur an den wenig sommerlichen Temperaturen?


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Ultimativ steil!

Gerblingerode - Brochthausen (14 km)


Frau Weller, meine Zimmerwirtin, ist hauptberuflich Tagesmutter. Gestern Abend sagte sie mir schon: "Um halb acht kann ich noch mit Ihnen frühstücken, dann können wir ein wenig quatschen. Ab 8 Uhr kommen die Minis, dann habe ich keine Zeit mehr für Sie." Natürlich bin ich um 7.30 Uhr parat und sitze mit ihr am Tisch. Wohlgemerkt, die Übernachtung ist offiziell ohne Frühstück, aber "selbstverständlich bekommen Sie von mir einen Kaffee und auch einen Toast mit Marmelade". Frau Weller erzählt von ihren Schützlingen, von ihrem Alltag, von ihren Problemen, von Erziehungsfragen im Allgemeinen, von ihrer letzten Fortbildung und überhaupt ... Um Punkt 8 Uhr kommt die erste "Anlieferung", nur Minuten später die nächste. Frau Weller ist gefordert, ich mach mich vom Acker.


Der Himmel ist blassblau, die Erde dampft vom Regen in der Nacht. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei geschätzten 95% und ich beginne zu schwitzen, obwohl der Anstieg noch gar nicht richtig begonnen hat. Dabei ist das nur der kurze Aufgalopp hoch zum Kolonnenweg, und auf den freue ich mich jetzt schon. Nicht umsonst, denn wenig später nimmt er mich wieder liebevoll auf, spendiert mir glitschige Auf- und Abstiege, teilweise durchwachsendes hohes Gras, das meine Schuhe zum Durchnässen provoziert, und links und rechts hineinragende Busch- und Baumzweige, deren Wasser ich gekonnt von den Blättern auf Kopf und Schulter abstreife. Aber eigentlich ist es ja auch egal, ob ich vom Schwitzen oder vom Regenwasser nass werde. Das Regenwasser erfrischt sogar.


Für etwa 200 m ist im Wald der Rand des Kolonnenweges und auch zwischen den Plattenreihen der Boden aufgewühlt, typische Wildschweinspuren. Und die sehen relativ frisch aus. Ich singe ein fröhliches Liedchen bzw. eine Aufeinanderfolge von Tönen, das hat mir in Schwedisch-Lappland auch schon mal gegen Bären geholfen. Ich habe nämlich überhaupt keine Lust, diesen Steckdosen-Tieren hier zu begegnen, zumal jetzt noch, wo sie vielleicht Junge haben. Ob mich gerade mehrere Knopfaugen-Paare beobachten? Ich habe Glück, nur ein paar Mücken greifen mich an.


Als ich mich mal wieder ein Stück Kolonnenweg hochquäle, entdecke ich bei einem hoffnungsvollen Blick nach oben zwei mächtige Stämme, die in den Himmel ragen. Ich nähere mich dem "WestÖstlichen Tor" auf dem Kutschenberg. Der markante Hügel, auf dem früher ein Wachturm stand, wird heute überragt von zwei mächtigen, etwa zwölf Meter hohen Eichenstämmen, einem "Tor", das naturgemäß offensteht und zum Durchblick einladen soll; auch zum Durchschreiten, auch zur Erinnerung. Die Eichenstämme sind am Boden verbunden durch eine Edelstahlschwelle mit entsprechend symbolischer Schweißnaht. Und drumherum stehen wiederum Eichen, die eines Tages einen Hain ergeben und "auf ein gedeihliches Zusammenwachsen von Ost und West in Europa hoffen" lassen sollen. Aber von den einst gepflanzten Eichen-Jungbäumen sind lange nicht alle angegangen, obwohl es schon einen zweiten Pflanzungsversuch gegeben hat. Von einem Hain kann noch lange keine Rede sein. Auch ein Symbol? Das zweifellos Große am WestÖstlichen Tor war seine offizielle Einweihung 2002 mit Michael Gorbatschow und dem damaligen Bundesumweltminister Jürgen Trettin. Als ich die verbindende Edelstahlschwelle in Augenschein nehmen möchte, muss ich durch kniehohes nasses Gras und finde sie fast nicht. Auch fast ein Symbol?


Der Weg bleibt jetzt eine Weile angenehm. Der Kolonnenweg ist moos- und damit rutschfrei, es geht leicht bergab, der ehemalige Grenzstreifen gibt sich als vorbildliches Grünes Band, auf dem sogar für einige hundert Meter eine Schaf- und Ziegenherde dafür sorgt, dass es kurz gehalten wird. Zur Krönung erscheint dann sogar noch die "Sielmann-Hütte", in deren Schutz ich eine Rast einlege, mit ständigem Blick auf die Strecke, die ich in der letzten Stunde abgelaufen bin. Aber wieso "Sielmann-Hütte"?


Die Älteren kennen vielleicht noch das markante, meist lächelnde, faltige Gesicht von Heinz Sielmann: Tierfilmer, Verhaltensforscher, Autor, Fernsehproduzent. 1959 startete er seine erfolgreiche Fernsehserie "Expeditionen ins Tierreich", für die er bis 1991 170 Folgen drehte und moderierte. Nachdem er 1988, also ein Jahr vor der Wende, den Film "Tiere im Schatten der Grenze" gedreht hatte, machte Sielmann sich für das Grüne Band stark. Er träumte sogar davon, das "Niemandsland" der innerdeutschen Grenze in einen von der Ostsee bis zum bayerisch-sächsischen Vogtland reichenden Nationalpark zu verwandeln. Dieses Engagement führte 1994 zur Gründung der Stiftung, die seinen Namen trägt. Nur einen Kilometer vom Grünen Band und von der "Sielmann-Hütte" entfernt befindet sich die Stiftungszentrale auf Gut Herbigshagen. Hier wurde Sielmann auch bestattet, nachdem er 2006 im Alter von 89 Jahren gestorben war. 


Die Rast in der "Sielmann-Hütte" kam gerade rechtzeitig, denn keine Viertelstunde später kommt der ultimative Kolonnenweg-Aufstieg. Als ich an seinem Fuße stehe, denke ich nur: "Das kannst du nicht schaffen!!!" Mindestens 45%! Wie soll das gehen? Und das noch in einer Waldschneise, also vermoost, glitschig! Aber hilft ja nix, ich MUSS da hoch! Einen anderen Weg gibt es nicht. Oder ich muss ein ordentliches Stück zurück und einen weiten Umweg laufen. Ich gehe los, kleine Umsetzung, explodierende Oberschenkel nach jeweils fünf Metern. Bei Verschnaufpausen sofort hart in die Bremse, sonst rausche ich samt Wheelie in Sturzfahrt wieder nach unten. Der starke Regen in der Nacht hat wohl zu allem Überfluss auch noch kleine Schlammlawinen über den Platten verteilt, zusammen mit dem Moos eine prickelnde Mischung. Meter für Meter arbeite ich mich hoch. Die Brille ist beschlagen, das T-Shirt ein nasser Aufnehmer und meine Zunge so lang, dass ich mir beinahe drauftrete. Doch irgendwann bin ich oben, tatsächlich wirklich oben! Und als hätte sie auf mich gewartet, steht oben, direkt neben dem Kolonnenweg, eine Bank. Auf ihr steht mit Filzstift an der Rückenlehne gekritzelt: "Hat ja ganz schön lange gedauert!" - Auf DIESE Bank setze ich mich NICHT! 


Kurz danach geht es hinunter nach Fuhrbach. Der Rest ist Auslaufen: Immer auf dem Radweg an einer kleinen Landstraße entlang bin ich bald darauf in Brochthausen. In meiner Unterkunft "Zur Erholung" gehe ich derselben mit aller Kraft nach.


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Massenflucht

Siemerod - Gerblingerode (25 km)


Frau Herwig muss zu ihren Kühen, deshalb verabschiedet sie sich bereits von mir, als ich mich an den Frühstückstisch setze. "Seitdem mir die Viehcher gestern alle zusammen ausgebrochen sind, bin ich ein wenig nervös. Ich muss da jetzt erstmal nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Schöne Tage noch!" Sprach's, und weg ist sie.


Mit dem Stadtbus fahre ich wieder runter zum ZOB am Bahnhof und habe sofort Anschluss an den Bus 2 nach Siemerode. Ich sehe, wie der Fahrer bei meinem Einsteigen kurz zögert und nachdenkt, was er mir an Geld abknöpfen soll. Will der mir etwa auch - wie sein Kollege von Bus 16 (Rohrberg - Heiligenstadt) - meinen Wheelie als Fahrrad berechnen? Schnell sage ich: "Gestern habe ich bei ihrem Kollegen für die Strecke 1,90 € bezahlt." Und das ist nicht gelogen. Ich sage nur nicht, dass ich da den Wheelie nicht dabei hatte. Jedenfalls scheint das den Fahrer zu überzeugen und ich bezahle 1,90 €. 


Mit mir fährt eine jüngere Frau im Bus, die in Weißenborn wohnt, und wiedermal bricht mein Lastenesel das Eis. Sie ist die jüngste von vier Kindern. Die anderen sind nach der Wende alle innerhalb von zehn Jahren weg, fortgezogen in die großen Städte, sowohl im Westen wie auch im Osten. Für Erinnerungen an die Wende sei sie zu jung. Ihre älteren Geschwister hätten aber immer wieder die Geschichte erzählt, wie Ende 1989 die Städter aus Göttingen schon bei ihr im Dorf Bananen und Bonbons aus ihren Autos abwarfen, weil Weißenborn ihnen bereits so rückständig vorkam wie der Osten. Wohlgemerkt: Weißenborn war auf niedersächsischer Seite das letzte Dorf im Westen. Später sei sie schonmal mit den Geschwistern bis Heiligenstadt ins Freibad geradelt. Dort hätte man sie schnell als Westler erkannt und die Luft aus den Reifen gelassen. Und heute? Natürlich spiele die Grenze noch immer eine Rolle, auch wenn lange nicht mehr so wie noch vor 15 Jahren. Sie redeten anders da drüben. Es sei eben auch eine Grenze zwischen Bundesländern, zwischen Landkreisen, zwischen Schulsystemen, zwischen Landeskirchen. Fußball werde eben im niedersächsischen Verband gespielt und nicht im thüringischen. Sie selbst sei die meiste Zeit im zwanzig Kilometer entfernten Göttingen. Schließlich hätte sich Weißenborn schon immer dorthin ausgerichtet: mit dem Schulbus, mit der Zeitung, mit allem. Nach Heiligenstadt fahre sie eigentlich nur zum Arzt und da komme sie gerade her.


Wir steigen beide in Siemerode aus. Der Bus fährt nicht weiter bis nach Weißenborn. Ihr Mann holt sie mit dem Auto von der Bushaltestelle ab. Als ich ihr Angebot ablehne, bis Weißenborn mitzufahren, wo ich doch sowieso dort hin will, ist sie einigermaßen erstaunt. Das geht natürlich nur bei einem Notfall, und der liegt momentan nicht vor.


Auf den nächsten Kilometern übe ich mich mal wieder im Grenz-Hopping. Dem Kolonnenweg erteile ich ziemlich schnell eine Absage. Zweimal bin ich ja guten Willens und will ihn unter die Füße nehmen, doch er erscheint einfach nicht. Jedenfalls, wo er der Karte nach sein soll, finde ich ihn nicht. Da macht es mir der ehemalige Kontrollweg des Bundesgrenzschutzes wesentlich einfacher: gut auffindbar und sauber betoniert, ohne Löcher. Das lob ich mir doch. Auf diese Art und Weise bin ich um die Mittagszeit in Böseckendorf, Thüringen. 


Das Dorf liegt still, verschlossen. Eigentlich ein sehr unscheinbares Dorf. Die Zeit scheint hier stehengeblieben zu sein. Nicht im romantisierenden Sinne, sondern im Sinne von: Man wünscht dem Dorf einen Großsponsor, der eine Rundumsanierung finanziert. Oder sind das immer noch gewisse Nachwirkungen von damals?


Nach dem Mauerbau in Berlin wurden im ganzen Land die Grenzbefestigungen verstärkt. Gleichzeitig kursierte im Dorf das Gerücht, es stünden wieder Zwangsumsiedlungen bevor. Tatsächlich waren mit Spitzelhilfe schon entsprechende Listen aufgestellt worden. Die meisten Bauern hatten sich im Vorjahr geweigert, der LPG beizutreten. Nach außen lief das Leben der Bauern in gewohnten Bahnen. Nur Männer, die sich blind vertrauten, sprachen offen miteinander, schmiedeten Pläne. Ein harter Kern von Fluchtwilligen kristallisierte sich heraus, doch niemand wusste, wer sich ihnen anschließt. Aus Angst, der Stasi könnte etwas zu Ohren kommen, weihten die Bauern nicht mal ihre Ehefrauen ein. Am Sonntag, dem 1. Oktober 1961 wurde der Befehl für die "Aktion Kornblume" gegeben. Ab dem folgenden Tag sollte es losgehen mit der Zwangsumsiedlung. Am Abend des 2. Oktober flohen elf Familien mit 54 Personen, darunter 22 Kinder, aus Böseckendorf. Die Kinder wurden auf einem Pferdegespann mit Gummirädern befördert. Säuglinge bekamen Schlaftabletten und wurden in Waschkörbe gesteckt, größere Kinder mit Schokolade gefüttert, bis sie still waren. Der Wagen wurde gepolstert mit in Säcke gestopftem Bettzeug und mit Matratzen, damit hoffentlich Kugeln damit aufgehalten würden. Es blieb die größte Gruppenflucht der DDR-Geschichte. Am darauffolgenden 3. Oktober wurden allein in Thüringen 1700 Menschen zwangsumgesiedelt. Wenige Wochen nach der ersten Flucht gingen nochmal etliche Böseckendorfer in den Westen. 1963 gelang drei weiteren Familien die Flucht. Mehr als die Hälfte der Bürger des Dorfes war also in den Westen verschwunden. 


Was ist das für ein Druck, der einen alles stehen und liegen lassen lässt, Haus und Hof, alles Vieh, allen Besitz; der einen das Risiko auf sich nehmen lässt, mit der ganzen Familie erschossen zu werden? Und wie ist das für die Zurückgebliebenen? Manche werden verwandt gewesen sein mit den Geflüchteten, in Angst geschieden, in Enttäuschung, in Neid. Manche mögen noch selbst auf die nächste allerletzte Chance zur Flucht gehofft haben.


Wie war das für die Neuen, die von Amts wegen dorthin umgesiedelt wurden, wo möblierte Häuser und volle Ställe "frei" wurden? Bezieht man das ehemalige Eigentum von verbrecherischen Elementen, die Agenten des Klassenfeindes waren, oder übernimmt man es von Vorbildern, denen man gerne nacheifern würde? Wie ist das für die Nachbarn, wenn plötzlich "die Neuen" ins Altvertraute einziehen? Sind sie von der Partei? Werden die fortan mein Leben ausschnüffeln? Oder sind es gar Kollegen? Wie funktioniert jetzt so ein Dorf? Wird das noch einmal eine Gemeinschaft? Wie ist das, wenn man sich nach 25 Jahren wiedersieht? Wie stellen sich Nachmieter und Vorbesitzer einander vor?


Ich "kämpfe" mich weiter auf meinem "Grenzweg", nur exakt an der Grenze entlang gehe ich heute nur sehr selten. Der alte Grenzverlauf ist hier größtenteils Acker, vom Grünen Band ist nichts zu sehen. Ich bin heilfroh, meine Kartenausschnitte dabei zu haben, so dass ich mir immer Wegalternativen suchen kann. Ohne diese Ausschnitte wäre ich aufgeschmissen. Dennoch komme ich meinem Tagesziel Gerblingerode näher, wird auch Zeit, denn der Himmel zieht sich bedenklich zu. Etwa zwei Kilometer vorher nochmal ein Halt. Ich komme zum "Grenzlandmuseum Eichsfeld" ,zwischen dem niedersächsischen Duderstadt und dem thüringischen Teistungen, einer ehemaligen Grenzübergangsstelle, die zu einem Museum mit Außenanlagen umfunktioniert worden ist. 


Besonders ins Auge fällt mir sofort der etwas eigentümliche Wachturm, in dem die Grenzer saßen und die gesamte Übergangsstelle kontrollierten. Eigentümlich deshalb, weil er ganz anders aussieht als die "normalen" bisher. Wie ich bald erfahre, hatte der Turm früher eine ehrbare Aufgabe.: Er gehörte seit dem 17. Jahrhundert zur Hierbeckschen Mühle an dem kleinen Fluss Hahle und brachte Besitzer wie Arbeiter zu einigem Wohlstand. Als die DDR 1972 den Grenzübergang ausbaute, blieb der Turm der Mühle erhalten, nur das Spitzdach verschwand und wurde durch eine Beobachtungskanzel ersetzt. 


Auch das Hauptgebäude der ehemaligen Zollverwaltung und ein Abfertigungsgebäude sind noch erhalten. Eine mit Glas ummantelte Brücke, die sich über das ehemalige Abfertigungsgelände spannt, setzt Kontraste zu den Gebäuden aus der DDR-Zeit. Sie verbindet die Parkplätze auf dem alten Grenzabfertigungsgelände mit einer Sauna- und Badelandschaft, merkwürdige Nachbarschaften. 


Dort, wo das Territorium der DDR begann, steht immer noch ein tonnenschwerer, fahrbarer Absperrbalken an der Straße. Angesichts dieser Stahlmassen, die mit Motorkraft über die Straße gerollt werden konnten, wurde jeder Gedanke, mit einem gepanzerten Fahrzeug einen Grenzdurchbruch zu wagen, im Keim erstickt. Von der Sperre aus blicke ich auf einen Berg, über den sich wie zu DDR-Zeiten die Original-Grenzsperranlagen ziehen, mit Grenzzaun, Kfz-Sperrgraben, Spurensicherungsstreifen, Lampen und Kolonnenweg, und das auf fast einem Kilometer.


Das Wetter passt jetzt dazu. Es ist grau geworden, erste starke Windböen kommen auf, erste Regentropfen fallen. Jetzt Endspurt! Aus den ersten Regentropfen werden zwanzig, nicht mehr. Erst als Frau Weller nach einer netten Begrüßung die Tür hinter mir schließt und mir das Zimmer zeigt, geht draußen aber dann doch ein Platzregen nieder. Für mich das erste Wasser, das vom Himmel fällt, seit Wochen.


"Wenn Sie nach Ihrer heutigen Wanderung noch etwas Energie haben," bedrängt mich Frau Weller förmlich, "gehen Sie nochmal nach Duderstadt hinein. Die historische Altstadt sollten Sie unbedingt gesehen haben." Ich tue wie mir empfohlen und bin in der Tat begeistert. Duderstadt aber jetzt hier zu beschreiben, würde den Rahmen sprengen. Also bitte mal selbst das Internet bemühen - oder direkt im nächsten Urlaub mal vorbeischauen.


Während der letzten Minuten brach hier ein Gewitter los. Mein lieber Scholli! Von dieser Sorte möchte ich keins haben, wenn ich auf der Strecke bin.


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Kreislauf

Rohrberg - Siemerod (10 km)


Was schreibt man an einem Tag, von dem es nicht viel zu schreiben gibt?Nicht viel! Zunächst mal ist erwähnenswert, dass ich bis sage und schreibe 8 Uhr geschlafen habe. Da war ich gestern schon eineinhalb Stunden unterwegs. Frühstücken bis 9 Uhr, rumgammeln bis 10 Uhr, da war ich gestern schon dreieinhalb Stunden unterwegs. Mit dem Stadtbus runter zum ZOB am Bahnhof, Fahrt mit der Buslinie 16 nach Rohrberg, dort aussteigen, wo ich gestern an der Haltestelle eingeschlafen bin ..., meine ersten Wanderschritte des heutigen Tages setze ich zu einer Zeit, zu der ich normalerweise fast meine Mittagsrast mache. 


Aber es ist eben so. Kurze Wandertage haben ohne weiteres ihre sehr schönen Seiten. Immer wieder sich sagen können: Keine Eile, du hast viel Zeit! Bleib mal stehen, sieh dich um! Schließe die Augen, höre dich um! Halte die Nase in den Wind! Beobachte ganz genau die Lerche, die über dem Kornfeld auf der Stelle flattert, den Milan oder den Bussard, wie sie sich, die Thermik ausnutzend, in die Höhe schrauben, den dicken Käfer, der über den Weg hastet oder die Autos, die weit hinten auf einer Straße rasen, ohne dass davon irgendetwas zu hören ist. Ein Spaziergang wird es, vielleicht zehn Kilometer, nur bis Siemerode, von wo es morgen Richtung Duderstadt weitergeht. Übernachtet wird aber nochmal in Heiligenstadt. 


In Rohrberg herrscht wieder tote Hose, nichts, aber auch gar nichts regt sich. Arbeiten alle auswärts? Keine Mama, die ihr Kind mit dem Kinderwagen spazieren führt? Keine Oma mit ihrem Hund auf dem Gassigang, kein Opa, der im Garten arbeitet? Keine fünf Minuten nachdem ich den Bus verlassen habe, bin ich auch schon aus dem Dorf raus. Dann dringt Traktorengeräusch an meine Ohren. Also doch Menschen bei der Arbeit. Hinter der nächsten Straßenbiegung fahren gleich drei Maschinen auf einer riesigen Grünfläche. Ein Trecker schlägt gemähtes Gras auf Reihen, ein anderes Ungetüm von Maschine fährt die Reihen ab, scheint diese aufzusaugen, und befördert das Grün dann in hohem Bogen in den Hänger eines weiteren Treckers, der immer schön parallel fährt. Einige Bussarde schweben über der Szenerie und versprechen sich wohl nach der beendeten Mahd einen reich gedeckten Tisch. 


Einen Kilometer später stehe ich mal wieder an der alten Grenze, wo nur ein übergroßes Kreuz am Straßenrand an die Grenzöffnung erinnert. Meine Karte sagt ganz klar: "Hier musst du rechts ab und dem Kolonnenweg folgen." Der Kolonnenweg ist ganz einfach zu gehen, er ist nämlich gar nicht mehr da. Die Platten sind allesamt aufgehoben. Das wäre ja nun überhaupt nicht schlimm, wenn wenigstens irgendwelche Hinweise auf das Grüne Band zu sehen wären. Geschweige denn irgendeine Wegmarkierung. Eigentlich soll hier nun ein weiter Bogen von ein paar Kilometern entlang der ehemaligen Grenze am Rand von großen Ackerflächen beginnen. Erst entspricht der Wegverlauf auch sehr korrekt den Angaben auf meiner Karte - doch dann ist plötzlich der Weg weg. Ich stehe vor einem riesigen Kornfeld, müsste in Richtung Norden weiter, aber wie? Meine Mama hat früher immer zu mir gesagt: "Durch Kornfelder geht man nicht, dann zertrampelt man Brot!" Mach ich auch nicht! Nach rechts, in die entgegengesetzte Himmelsrichtung, zweigt ein Pfad ab. Muss ich halt den nehmen. Was bleibt mir übrig? Diesen Pfad kann ich aber auf meiner Karte nicht finden. Er mündet auf einen breiten Wirtschaftsweg ein. Rein gefühlsmäßig wende ich mich nach links, folge ihm eine Weile. Dann weit hinten offensichtlich eine Autobahn. OK, die sehe ich auf der Karte auch. Dann könnte der Ort, der da rechts erscheint, Freienhagen sein. Wäre in Ordnung, da muss ich sowieso hin. Dann wäre ich eben nur nicht diesen weiten Bogen an der Grenze entlang gelaufen. Wollte ich sowieso nur, damit der Wandertag überhaupt noch seinen Namen einigermaßen verdient. Doch die Sonne steht noch nicht richtig, die Himmelsrichtung stimmt nicht. Dann höre ich Treckermotorenlärm. Den habe ich vor ungefähr einer Stunde schon mal gehört. Mir dämmert's! Das ist die Silo-Ernte von vorhin! Fast ein Mal komplett im Kreis gegangen! Der Ort dort rechts ist nicht Freienhagen, sondern Rohrberg! Herzlichen Glückwunsch! Der Kandidat hat hundert Punkte! Plötzlich steht die Sonne auch wieder richtig und alles stimmt mit der Karte überein. Und wer ist schuld? Der Bauer, der die alte Grenze einfach mal eben untergeflügt hat. Und die Kartenherausgeber, die sich mit den Aktualisierungen ihrer Werke meist ganz schön Zeit lassen. Und die Zuständigen für die Wegmarkierungen, die den Grenzwanderer oft ganz schön vernachlässigen.


Auf einer kleinen Landstraße bin ich schnell in Freienhagen. Auch hier wäre wieder alles tot - noch nichtmal eine Katze zeigt sich - wenn nicht in dem Moment, wo ich eine kleine Rast in einem Buswartehäuschen mache, der Schulbus käme und zwei kleine Mädchen mit viel zu großen Ranzen ihm entstiegen. Auch von ihnen höre ich ein gemeinsames "Hallo!", auch wenn es wesentlich schüchterner, aber auch erschöpfter klingt, als von den Burschen gestern in Hohengandern. Freundliche Kinder im Eichsfeld! 


Am Ortsende dann, wie so oft: die alte, heruntergekommene Grenzkaserne, sogar noch mit einem ehemaligen Postenhäuschen jenseits des Tores. Die Asbestschieferplatten an den Außenwänden fallen nacheinander ab, eingeschlagene Fensterscheiben, teilweise mit Holzplatten wieder verschlossen, ein hoher Zaun drumherum, "Zutritt verboten! Eltern haften für ihre Kinder!" Hiermit hat man es (noch) nicht zum Seniorenheim oder zum Swinger-Club gebracht. Hinter der Kasernenanlage die Gebäude der ehemaligen LPG. Kurze Wege. Oft genug mussten die Mitarbeiter der Genossenschaften für die Grenzer Arbeiten an der Grenze leisten, ob ihnen das gefiel oder nicht.


Hinter Freienhagen geht es nochmal eine leichte Steigung hoch zum "Hohen Kreuz", einem nahezu baumlosen Hügel mit Panoramablick über weite Teile des Eichsfelds - und bis zum Harz! Das erste Mal sehe ich seine Konturen weit hinten am Horizont. Und die größte Erhebung dort im Dunst müsste der Brocken sein. In fünf Tagen bin ich da, oben auf dem höchsten Punkt meiner Tour durch die Mitte Deutschlands. 


Bis nach Siemerode sind es jetzt nur noch zwei Kilometer. Ich versuche immer mehr meinen Schritt zu bremsen, aber es will mir nicht so recht gelingen. Der Bus zurück nach Heiligenstadt fährt erst in gut einer Stunde. Auf eine geöffnete Gaststätte brauche ich auch nicht zu hoffen, daher reift in mir der Entschluss, es einfach mal wieder, wie früher, mit dem hochgehaltenen Daumen zu versuchen. Doch unnötig: Als ich die Bushaltestelle des Ortes erreiche, kommt just ein Bus an, dem ältere Schüler entsteigen und der dann seine Anzeige wechselt: "ZOB Heiligenstadt". Diesen Bus hatte ich bei meinen Recherchen am heimischen Computer wohl gar nicht auf dem Schirm, da ich nicht damit rechnete, schon so früh in Siemerode sein zu können. Aber um so besser. Eine halbe Stunde später bin ich in meinem Zimmer bei Frau Herwig.


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Traditionspflege

Bornhagen - Rohrberg (16 km)


Um 5.15 Uhr aufzustehen ist relativ früh. Hilft aber nix! Mikes Bruder Walter muss um 6 Uhr losfahren, um nach dem Transferservice für mich nach Bornhagen noch früh genug an seiner Arbeitsstelle in Heiligenstadt zu sein. Ich kann ja schon von großem Glück sagen, dass er überhaupt so nett ist, mich mitzunehmen und ich mir damit teure Taxikosten spare. Als ich mit dem Wheelie die breite Holztreppe im Pastorenhaus herunterpoltere, steht Walter schon an seinem Wagen und macht gerade den Kofferraum auf. Also rein mit meinem Plunder und ab damit!


Walter fängt im Wagen selbst davon an, ich hätte es vielleicht nicht getan, wollte keine noch vorhandenen psychischen Wunden aufreißen. "Mike hat dir gesagt, dass ich zur DDR-Zeit mal im Knast gesessen habe? Als 'Politischer'?" Mike hatte es angedeudet. "Wenn er will, soll er es dir selbst erzählen. Er ist da manchmal noch etwas komisch." Da beide inzwischen wohl gemerkt haben, dass ich mir gerne Erzählungen von Zeitzeugen anhöre, legt Walter auch gleich los: "17 Jahre war ich alt. Mit Kumpels hatte ich ein paar Bier getrunken, wohl auch ein paar zuviel. Jedenfalls bin ich zum Grenzstreifen runter, habe da die Grenzstreifen provoziert, rumgetönt: 'Ich haue ab!' und so weiter. Der Mannschaftsdienstgrad von den beiden Grenzern ranzte mich nur an: 'Komm, geh nach Hause!' Der Offizier nahm mich sofort fest. 


Bei der Vernehmung schien mir immer eine 200 Watt-Lampe ins Gesicht, außerdem wurde ich auch immer mal geschlagen. Ich sollte zugeben, dass ich Republikflucht begehèn wollte. Wenn ich es zugäbe, könnte ich nach Hause, ich sei ja noch keine 18. Kindskopf wie ich war, habe ich darauf vertraut und gesagt, was sie hören wollten. Außerdem wollte ich keine Schläge mehr. Damit hatten sie mich. Ich kam sofort nach Gotha in Untersuchungshaft, und wurde, sobald ich 18 war, in Heiligenstadt vor Gericht gestellt. Zu eineinhalb Jahren Knast haben die mich verurteilt und ich durfte anschließend 10 Jahre nicht mehr nach Hause in die Schutzzone, nicht mehr meine Eltern und meine Brüder sehen. In Halle habe ich dann eingesessen, erst alleine in einer Zelle, dann mit anderen Kriminellen in einer Gruppenzelle. Jeden Tag wurden wir zum Arbeiten zu den Buna-Werken gefahren, in diese "Giftküche". Zwölf Stunden am Tag mussten wir dort schuften. Ein Mann da in dem Werk war auf mich angesetzt, ich wusste nur nicht wer. Ein falsches Wort von mir und ich hätte noch mehr bekommen. Nach dem Knast haben sie mir eine Bude ca. 10 km entfernt von Asbach gegeben, außerhalb des Schutzstreifens. Dann musste ich sehen, wie ich klar kam.Heute beziehe ich Frühopferrente." Ich frage, wie das nach der Wende war, ob in Asbach jeder jedem in die Augen sehen konnte. "Da wollte es doch keiner gewesen sein. Es war sicher, dass es im Dorf Stasi-Spitzel gab. Aber wir hörten immer nur: 'Na ich doch nicht!' Es war interessant zu sehen, wie schon sehr bald nach der Wende die früher gradlinigsten Genossen plötzlich mit einem neuen Gesangbuch sonntags vor der Kirchentür standen. Nie gab es ein Wort der Entschuldigung oder gar der Reue. 'Wendehälse' hatten Hochkonjunktur."


Dieses Gespräch mit Walter im Auto hat mich bedrückt und als ich mich von ihm in Bornhagen am Klausenhof verabschiede, beschäftigt es mich auf dem Weg noch eine zeitlang weiter. 


Um 6.30 Uhr bin ich auf der Strecke, so früh wie noch nie auf dem Grünen Band. Die Konsequenz wird nur sein, dass ich viel zu früh an meinem geplanten Tagesziel Rohrberg sein werde. Der Bus von dort nach Heiligenstadt fährt erst um 13.35 Uhr. Ich habe also für eine kurze Strecke endlos viel Zeit. Richtig gelesen, ich muss wiedermal mit einem Bus fahren. Die Unterkunftsfrage gestaltet sich hier in diesem Gebiet für mich etwas schwierig, daher muss ich auf Heiligenstadt zurückgreifen, das ganz schön weit ab vom Grünen Band liegt. Heiligenstadts Mauern liegen im Süden des Grünen Bandes, welches dann aber Richtung Norden abschwenkt. Das heißt konkret: Nachher mit dem Bus von Rohrberg nach Heiligenstadt, morgen früh mit dem Bus zurück nach Rohrberg und Wanderung bis Siemerode, von Siemerode wieder mit dem Bus nach Heiligenstadt und übermorgen zurück nach Siemerode und weiter Richtung Norden. Ich weiß jetzt nicht, ob das so verständlich war. Ist auch egal, jedenfalls habe ich heute viiiiiel Zeit.


Es ist wirklich noch sehr früh. Kein Mensch ist in Bornhagen auf der Straße und auch anschließend zwischen den Feldern von Hohengandern sind noch nichtmal Vögel zu hören. Oder liegt es an den schweren, dunklen Wolken, die mit schnellem Tempo über das Land ziehen und mit Regen drohen? Haben die Vögel sich schon in Sicherheit gebracht? Erst als ich in die Ortsmitte von Hohengandern komme, höre ich Kinderstimmen. An der Bushaltestelle stehen sie, etwa zehn im Grundschulalter. Sie lärmen herum, scheinen aufgeregt. "Halloooo!" ruft mir ein Knirps entgegen. Andere fallen freundlich mit ein: "Hallooo!" Ich freue mich über diese nette Begrüßung durch die Kinder und will etwas Anteilnahme rüberbringen: "Na, müsst Ihr Ärmsten in die Schule?" - "Nee, heute nicht!" jubelt mir der anscheinend älteste von ihnen entgegen. "Wir haben heute Wandertag! Wie du!" Alle müssen wir lachen. "Tschühüüüs!" rufen sie hinter mir her.


Nicht weit entfernt ist ein Garten mit Memorabilien von der ehemaligen Grenze geschmückt. In einem kleinen Beet steht das Schild "Schutzstreifen - Betreten und Befahren verboten!" Zwei Meter weiter ragt eine schwarz-rot-goldene Grenzsäule aus dem Boden, gleich daneben ein DDR-Grenzmarkierungsstein, auf dem ein Blumentopf steht. 


Zwischen Hohengandern und Kirchgandern komme ich bei einem kleinen Industriegelände an einer ehemaligen Grenzerkaserne vorbei. Am Straßenrand wird sie mit einem Schild als Pension beworben, im Obergeschoss hängt an einigen Fenstern die Leuchtschrift "Club Swing" Alles klar, so kann man es auch machen. Und wenn ich mir da jetzt telefonisch ein Zimmer genommen hätte? Ob die mir gesagt hätten, worauf ich mich einlasse? Mal sehen, was noch so kommt ...


In Kirchgandern mache ich meine erst Rast mitten im Dorf bei einer Sitzgruppe. Inzwischen sehe ich auch die ersten Erwachsenen. Eine Frau stellt Gelbe Säcke an den Straßenrand, ein alter Mann hackt in seinem Vorgarten Unkraut und eine junge Frau quält sich mit ihren Stöckelschuhen über das grobe Kopfsteinpflaster der Straße zur Bushaltestelle. Die Straße links von mir hoch muss es zur ehemaligen Demarkationslinie gehen, viel mehr als 500 m dürften es nicht sein. Dort war die Grenze zwischen der sowjetischen und der britischen Besatzungszone, später zwischen der DDR und der BRD, heute zwischen Thüringen und Niedersachsen. Jawohl, damit habe ich jetzt auch Hessen hinter und Niedersachsen für die nächste Zeit vor bzw. neben mir. Bundesland Nummer fünf für mich. 


Dieser Grenzübergang war aber ein besonderer. Es ist das ehemalige "Tor der Freiheit". An dieser Stelle überquerten jahrzehntelang Menschen mit großen Hoffnungen die Grenze zwischen den Zonen und wurden von einer heute noch dort stehenden kleinen Baracke aus in das nahegelegene Durchgangslager Friedland weitergeleitet. Das kleine Dorf Friedland, etwa fünf Kilometer von Kirchgandern entfernt, war an einer gut ausgebauten Straße gelegen und hatte einen kleinen Bahnhof, der der letzte war in der britischen Besatzungszone vor der Grenze zur SBZ. Ein landwirtschaftlicher Versuchshof der Uni Göttingen hatte Stäĺle frei. Die Ställe wurden Wellblechhütten, Baracken, Wohncontainer. Nach den Evakuierten, den Flüchtlingen und den Vertriebenen des II. Weltkrieges kamen die Heimkehrer aus der russischen Gefangenschaft. Es kamen Boatpeople, Asylsuchende und Spätaussiedler. Bis heute wurden über vier Millionen Menschen durch das Lager Friedland offiziell nach Deutschland eingeschleust.


Ich gehe weiter einen Kreuzweg hinauf. Nicht sehr anstrengend zieht er den Heidkopf hoch bis zur kleinen Magdalenenkapelle mitten im Wald, unmittelbar am alten Grenzstreifen. 1850 wütete in den Nachbardörfern von Kirchgandern die Cholera und forderte viele Tote. Aus Dankbarkeit, weil Kirchgandern verschont wurde, machte der damalige Pfarrer mit der Gemeinde das Gelübde, einen Stationsweg und eine Kapelle im Freien zu bauen. Bereits 1852 wurde beides eingeweiht. Schon bald darauf fanden erste Wallfahrten statt. 1952 fand das ein jähes Ende. Das Grenzgebiet wurde festgelegt und Kirchgandern und der Kreuzweg lagen im verbotenen Gebiet. Auf genau 500 m entsprach der Weg exakt dem Grenzverlauf, Kreuzwegstationen standen unmittelbar hinter dem Grenzzaun. Nach dem Fall des Zaunes bot sich den Kirchgandern ein Bild der Zerstörung. Kreuzweg samt Kapelle waren verwüstet. Trotzdem entschloss man sich zum Wiederaufbau. 1991 wurde die Kapelle im Wald wieder eingeweiht, der Stationenweg fünf Jahre später. 


Kaum 100 m nach der Kapelle treffe ich auf den Kolonnenweg, genau an der Stelle, wo sich nach dem Mauerfall der Zaun für die Menschen von Reiffenhausen (Niedersachsen) und Rustenhausen (Thüringen) öffnete. Noch heute feiern beide Orte diesen Tag gemeinsam.


Rustehausen habe ich schnell erreicht und auch schnell durchschritten, aber am letzten Haus muss ich anhalten. Ein Mann kommt zu mir an den Gartenzaun und fragt mich aus. Die üblichen Fragen halt. Als er mitbekommt, dass ich auch in Asbach übernachtet habe, fragt er sofort nach: "Bei wem?" Als er von mir den Namen Mike Meder hört, ist er ganz aus dem Häuschen. "Mensch, der Mike! Wie geht's dem denn? Mensch, die Welt ist klein! Jahrelang habe ich von dem nichts gehört, und jetzt erzählen Sie mir von ihm. Was für ein Zufall! Mit Mike habe ich doch lange Zeit zusammen gearbeitet. " Als ich dann noch Walter erwähne, ist es ganz vorbei. "Also die beiden rufe ich heute Abend an und sage denen, dass wir uns hier getroffen haben." Ich bitte, meine Grüße weiterzuleiten und gehe weiter. 


Eine halbe Stunde später bin ich in Rohrberg, genau zwei Stunden bevor mein Bus fährt. Tja, das sind exakt die zwei Stunden, die ich heute Morgen auch früher als normal von Bornhagen aus losgelaufen bin. Was soll's!? Ich setze mich auf die Haltestellenbank, lese, esse, trinke, lasse mal kurz im seeligen Schlaf meinen Kopf kreisen, werde durch einzelne Regentropfen geweckt, lese wieder usw. Die Zeit vergeht schneller als ich dachte, der Bus ist pünktlich, der Busfahrer will nicht nur das Fahrgeld für mich, sondern auch den halben Preis für meinen Wheelie. "Ist schließlich sowas wie ein Fahrrad!" Dem kann ich nicht ganz widersprechen, obwohl ich nicht weiß, für was dann die anderen Busfahrer meinen Begleitwagen gehalten haben. Für einen Schoßhund?


Nach einer halben Stunde Fahrt bin ich in Heiligenstadt am ZOB. Aber noch lange nicht in meiner Unterkunft. Dazu muss ich einmal quer durch die Stadt. Nicht schlimm, dann habe ich den Stadtrundgang schon mal erledigt. Mein Zimmer bei Frau Herwig liegt im ältesten Stadtteil von Heiligenstadt, in Heimenstein. Und in Heimenstein ist am Pfingstwochenende immer Kirmes. Eines der ältesten Kirchweihfeste Nordthüringens bzw. des Eichsfelds. Höhepunkt ist immer der traditionelle Kirmesumzug am Pfingstmontag, den man in etwa mit den Karnevalsumzügen im Rheinland vergleichen kann. Ein paar Tausend Zuschauer säumen dann die mit Eiergirlanden (auch Tradition), Fahnen und Birkengrün geschmückten Gassen und langen anschließend im Festzelt auf dem großen Festplatz ordentlich zu. Und dieser Festplatz grenzt unmittelbar an meine Unterkunft. Frau Herwig hatte mich schon bei der Buchung vorgewarnt: "Vielleicht finden Sie keinen Schlaf. Die grölen rum bis nachts um vier!" 


Heute Morgen war auf dem Festplatz der abschließende traditionelle Frühschoppen, der aber bis zu meiner Ankunft im Zimmer nebenan anhält."Griechischer Wein" schallt zu mir durchs offene Fenster, aber nicht in Gestalt von Udo Jürgens' Tonträgerstimme, sondern von einer Dicke-Backen-Kapelle im Wettstreit mit dörflichen Edelbarden nach dem dreißigsten Bier. Ich schließe das Fenster, ziehe mich für ein Stündchen ins Bett zurück, denn die letzte Nacht war kurz, und stopfe mir Ohropax in die Ohren. Wo ist hier Lärm, Frau Herwig? Ich schlafe wie ein Brett.


Nach meinem Nickerchen packt mich der Hunger. Mir steht der Sinn nach einer Currywurst vom Festplatz und ich gehe rüber. Offiziell soll gleich um 18 Uhr Schluss sein, aber mindestens 200 Menschen sind noch da - wenn auch nicht mehr so richtig. An oder in der Nähe zur Theke stehen etwa 50 Männer, die sich wohl alle miteinander seit etwa 10 Uhr morgens an hefehaltiger Flüssignahrung festhalten. Sie werden morgen früh große Schwierigkeiten haben, wenn sie versuchen sollten zu rekonstruieren, wie viele Alkoholeinheiten sie in den vergangenen Stunden durch ihre Leber gepumpt haben. Die meisten schwanken bedenklich wie die Fahnen im Wind, haben eine tiefrote Gesichtsfarbe und permanent halbgeschlossene Augenlider. Sie stehen sich grundsätzlich zu nah gegenüber, drücken auch schonmal liebevoll ihre Stirnen gegeneinander und küssen sich auf dieselben. Irgendwo singt einer immer, auch wenn die Kapelle mal nicht spielt. Kränze mit Bier machen die Runde, alle greifen eigentlich nur noch mechanisch zu, bezahlen tut keiner. Hinten bei der Kapelle ist es nicht viel anders, nur dort sieht man auch Frauen, allerdings meist mit Sektgläsern in der Hand. Eine von ihnen versucht noch, ihren Mann mit rhythmischen Bewegungen über die Tanzfläche zu schieben. Es soll wohl ein Tanz sein, sieht aber für den nüchternen Beobachter mehr nach einem Ringkampf aus. Es wird hier sich gedrückt, dort sich geküsst, der Alkohol macht alle zu einer großen, glücklichen Familie. Das ist dann Traditionspflege.


Ich esse meine Currywurst und verlasse den Festplatz, schlendere noch ein wenig durch Heiligenstadts Gassen und gehe dann wieder zurück auf mein Zimmer. Vom Festplatzlärm ist bereits am frühen Abend nichts mehr zu hören. Kopp voll - Flasche leer!


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Wespen im Kuhstall

Asbach - Bornhagen (18 km)


Bei Mike Meder werde ich noch ein zweites Mal schlafen. In Bornhagen, meinem heutigen Tagesziel, gibt es zwar eine schöne Übernachtungsmöglichkeit im Klausenhof, aber nicht für mich. Das Haus ist voll belegt. Glücklicherweise! Bei Mike in Asbach bin ich gut aufgehoben, der Preis ist mehr als günstig und er und sein Bruder machen für mich auch noch die Taxifahrer. Mike holt mich heute Nachmittag, nach Anruf von mir, aus Bornhagen ab, sein Bruder Walter fährt mich morgen früh auf seinem Weg zur Arbeit nach Bornhagen zurück, damit ich dort meinen Weg wieder aufnehmen kann. Die schlechte Alternative wäre für beide Fahrten ein Taxi gewesen. Aber so ..., alles bestens! Irgendwie fügt sich oft alles.


Heute Morgen kann ich etwas länger schlafen. Mein Frühstück nehme ich im Zimmer zu mir. Bei Mike gibt es kein Frühstück, aber der Wirt vom Gasthaus "Zur alten Schmiede", Andreas, auf dessen Vermittlung ich ja bei Mike gelandet bin, hat mir gestern noch zwei belegte Scheiben Brot mitgegeben. Mike hat mir einen Wasserkocher und eine Tasse aufs Zimmer gestellt, Cappuccino in der Tüte führe ich mit. Also bin ich bestens und vor allem ausreichend versorgt.


Um kurz vor 8.30 Uhr mache ich mich auf den Weg, schließlich bin ich für spätestens eine Stunde später zum Kaffee im Wohnwagen verabredet. Mein Wheelie ist wieder im Zimmer geparkt und freut sich, dass er seine Räder wiedermal stillhalten kann. Ich freue mich, dass ich ihn heute nicht mitnehmen muss, denn im zweiten Teil des Tages steht ein saftiger Aufstieg bevor, der mir schon solo viel Freude bereiten wird. So geht es flott voran und schon bald durchquere ich den schönen kleinen Ort Sickenberg. So klein Sickenberg und auch Asbach auch sind, so haben sie doch auch Grenzgeschichte geschrieben.


Asbach und Sickenberg gehörten ursprünglich zu Hessen. Als die Amerikaner 1945 jedoch feststellten, dass ein Abschnitt der Bahnlinie Bebra - Göttingen durch Thüringen verlief, verhandelten sie mit den Sowjets im September 1945 in Wanfried, einem nahegelegenen hessischen Ort im Werratal, über eine Grenzkorrektur. Damit sie die Bahnlinie weiterhin störungsfrei betreiben konnten, wurden zwei thüringische Dörfer der amerikanischen Besatzungszone zugeschlagen. Im Tausch erhielt die sowjetisch besetzte Zone Asbach, Sickenberg und noch drei andere Dörfer in der Nähe. Da die Mythe besagt, das auf einem Stück Papier formulierte "Wanfrieder Abkommen" sei durch den Austausch landesüblicher Getränke besiegelt worden, wurde die Bahnlinie in der Folge volksmündlich die "Whiskey-Wodka-Linie" genannt. Den Bewohnern der vom Gebietstausch betroffenen Orte musste die neue Zuordnung zu den neuen Deutschlands zufällig und willkürlich erscheinen, und was das letzlich bedeuten sollte, wurde erst später klar.


Als ich mich dem "Grenzmuseum Schifflersgrund" nähere, sehe ich schon das Wohnmobil meiner lieben Verwandtschaft auf dem dortigen Stellplatz stehen. Mats hat mich auch bereits entdeckt und kommt mir entgegengelaufen. Die Mannschaft ist auf und gesund und der Kaffee fertig und servierfähig. Ich trinke ihn im Inneren des Wohnmobils, nicht weil es dort wärmer ist als draußen, sondern angenehm kühler. Die Morgenfrische ist vorbei und es wird zunehmend wärmer, drückender. Pünktlich zum Beginn der Öffnungszeit um 10 Uhr stehen wir allesamt an der Kasse.


Ist es normal, wochenlang die deutsch-deutsche Narbe entlangzuwandern und somit zwangsläufig Spezialist für Grenzmuseen zu werden? Das hiesige heutige, um einen Originalwachturm herum auf einer Anhöhe über dem Schifflersgrund errichtet, ist eines der ganz frühen, der sehr schnell gegründeten. Vor allem als Touristenmagnet, denn die Grenzgucker blieben nach der Wende ja plötzlich weg. Dokumente, Fotos, Videos, Schaufensterpuppen mit Uniformen, Hubschrauber, Panzer, Grenzfahrzeuge. Vieles, was es in anderen Grenzmuseen auch schon gab, aber üppiger, noch umfangreicher. Erwachsene gehen ruhig an den vollgehängten Wänden und Stellwänden vorbei, lesen intensiv oder flüchtig, manchmal mit offensichtlichem Erstaunen oder mit Kopfschütteln, während die Kinder einzelne Fahrzeuge oder sogar einen Helikopter entern und dieses Abenteuerland hier prima finden. Nils, Ole und Mats sind sehr interessiert und aufmerksam, stellen Fragen. Warum ...? Warum ...? Warum ...? Ich kann viele Fragen beantworten, habe unterwegs ja schon viel "gelernt". Wenn der Onkel das erzählt, ist das vielleicht sogar interessanter, wird eher behalten. Sonst müsste man ja alles lesen. Und das hält auf.


Aber die Anlage besitzt einen Punkt, an dem man das ganze Grenzmuseum im Rücken hat und ins Tal, in den Schifflersgrund, hinabschaut. Auf ein Stück schwarz gerosteten Zaun, auf einen geeggten Streifen Erde, auf den Kolonnenweg daneben, kurvig, nach hinten weg in einer Kurve verschwindend. Auf der anderen Seite des Zaunes, wo es steil den Hang hinaufgeht und immer noch ein weites Feld üppig wachsendes Grün vor Westdeutschland lag, steht ein einfaches Kreuz aus Birkenholz. Zum Gedenken an den Baumaschinisten und Traktorfahrer Heinz-Josef Große. Mein Gastgeber Mike Meder hat als Kind bei ihm auf dem Schoß gesessen und Große hat für seinen Vater, kurz nachdem dieser für sich und seine Familie das alte Pastorenhaus gekauft hatte, in einer Art Nachbarschaftshilfe die Klärgrube ausgeschachtet, dort, wo jetzt Mikes alter Trabbi steht. Große hatte über Jahre immer wieder als Zivilist im Grenzstreifen gearbeitet. Er galt als zuverlässiger Staatsbürger, wurde zwar stets bewacht, aber gelegentlich nicht so streng wie andere. Am 29. März 1982 baggerte er einen Graben aus, in dem Kabel zu dem neu errichteten Beobachtungsturm verlegt werden sollten. Als ihn seine beiden Bewacher am Nachmittag kurz alleine ließen, um ein Stück Patrouille zu gehen, fuhr er mit seinem Vorderlader zum Grenzzaun, legte die Ladeschaufel auf einem Pfosten vorsichtig ab, kletterte auf die Schaufel - und machte dann einen dramatischen Fehler. Er drehte um, kletterte in sein Führerhaus zurück, um seinen dort vergessen Geldbeutel mit Geld zu holen. Ohne etwas Geld wollte er nicht in den Westen. Als er dabei war, die Ladeschaufel erneut zu erklimmen, kehrten die beiden Grenzer zurück, erkannten die Situation, riefen ihn an. Große erreichte die Schaufel und sprang über den Zaun, mehr als drei Meter tief. Er glaubte sich damit im Westen, kletterte den Hang hoch. Dort trafen ihn neun Schüsse in den Rücken. Die wahre Grenzlinie lag erst etwa zehn Meter weiter, oben an der Straße. Große verblutete.


Nach zwei Stunden Grenzmuseum Abschied von Wagner-Diederichs. Danke für euren Besuch aus der "Westzone", Ihr habt mir damit eine große Freude gemacht! Nehmt ein wenig von dem mit, was Ihr hier gesehen habt, und freut euch, dass Ihr, solange es euch gibt, in Freiheit leben dürft.


Jetzt aber zügig weiter! Mit Mike habe ich morgens verabredet, dass ich mich so zwischen 15 und 16 Uhr melde, um den "Trabbi-Taxi-Dienst" anzufordern. Ich muss mich sputen, sonst wird es eng mit der Zeit. Steil geht es auf dem Kolonnenweg durch den Schifflersgrund und anschließend zur Werra hinab. Unten strampeln sich auf einem Radweg die Pfingstradfahrer die Seele aus dem Leib, jedenfalls sind entschieden mehr Fahrradfahrer unterwegs als Autos. 


Ich komme nach Wahlhausen, ein weiterer Ort mit einer kuriosen Grenzgeschichte: März 1989: DDR-Bürger hatten sich in die Botschaften in Budapest und Prag geflüchtet, um ihre Ausreise zu erzwingen. An der Grenze von Ungarn nach Österreich war man dabei, den Grenzzaun zu demontieren. Die DDR brauchte dringend "Stoff" für die Medien, um von diesen Geschehnissen abzulenken. Der DDR-Nachrichtendienst meldete einen Angriff auf die DDR. Von Bad Sooden-Allendorf aus, der Kurstadt gegenüber auf der hessischen Seite der Werra, seien Schüsse auf Wahlhausen abgefeuert worden. An der Werra gegenüber Wahlhausen fand man tatsächlich 20 Patronenhülsen, an einem Wohnhaus Einschusslöcher. Die Familie des Hauses wurde im Fernsehen der DDR vorgeführt und beschwerte sich bitterlich über den Klassenfeind. Karl-Eduard von Schnitzler, der Chefkommentator, geiferte im "Schwarzen Kanal" des DDR-Fernsehens. Verängstigte Bürger wurden vorgestellt. Mike Meder erzählt mir später, dass das Ehepaar des "betroffenen" Hauses unmittelbar darauf einen neuen Trabbi vor der Tür stehen hatte. "Das war doch eine abgekartete Sache! Unsere haben doch selbst geschossen!" Fest steht, die Stasi hat diesbezüglich, so gut sie konnte, ihre Unterlagen vernichtet. Bald sprach kein Mensch mehr davon. Nur viele Wahlhausener und andere Menschen aus den benachbarten Orten dachten sich ihren Teil.


Auf der kaum befahrenen kleinen Landstraße gehe ich strammen Schrittes weiter bis Lindewerra. Hier beginnt meine "Bergetappe" der Kategorie 3, was soviel heißt wie: sausteil! Doch ich habe ja meinen Wheelie nicht dabei, wird also wohl nur halb so schlimm. Doch vorher muss ich was essen. In der Ortsmitte fällt mir beim "Werrakrug" ein aufgestelltes Schild in den Blick: "Erbseneintopf mit Würstchen". Das will ich, möglichst sofort! Dazu einen Kaffee! Als beides mir vorgesetzt wird, kommt die Lachnummer des Augenblicks: Bevor ich die kleine Zuckertüte aufreiße, lese ich die aufgedruckte Werbung. Genauer gesagt, ich schaue auf ein Foto: Ein alter Bauer mit Deutschlandfahne über der Schulter - Sprechblase: "Im Fußball sind wir die BESTEN!" Daneben die alte Bäuerin mit dümmlichem Gesicht - Sprechblase: "Waaas? Im Kuhstall sind wieder WESPEN???" Untertitel: "Guter Fußball macht einen guten Eindruck. Gutes Hören auch. Wir beraten Sie gerne!" Ein Hörgeräteakustiker lässt grüßen! Ich könnte mich wegschmeißen!


Gut gestärkt und kolossal aufgeheitert nehme ich den Aufstieg zur Teufelskanzel in Angriff. Der ist richtig gut! Wheelie soll froh sein, dass er sich das nicht antun muss. Ein Hohlweg mit tiefem, altem Laub, Baumwurzeln, Steinblöcke, volles Programm. Aber zu leisten. Nach einer Dreiviertelstunde bin ich oben auf dem Aussichtspunkt an der Teufelskanzel, einem leicht überhängenden Sandstein-Monolithen, der mir für Minuten einen wunderbaren Ausblick auf die große Werraschleife bei Lindewerra eröffnet. Ein Motiv, das seit über hundert Jahren Postkarten schmückt. Direkt hinter der Kanzel versteckt sich ein Ausflugsrestaurant mit Biergarten unter den Bäumen. Der Biergarten ist voll. Hinauf gewandert sind garantiert nur ein paar von denen, die sich da jetzt gerade den Bauch mit Essen und/oder Getränken vollschlagen. Der Parkplatz steht voller Autos.


Jetzt geht es auf einem ebenen Waldweg weiter, immer an der Felskante des Berges entlang. Dann lichtet sich der Wald. Vor mir kommt die Burg Hanstein ins Bild, am Fuß des Burgbergs der kleine Ort Bornhagen, mein Ziel. Ich zücke mein Handy, gebe Mike Bescheid, dass er mich abholen kann und sitze eine halbe Stunde später in seinem Trabbi. Der fährt sogar, mit saftigem Motorgeräusch, richtig schnittig um die Kurven!


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Sch... Empfang!

Kloster Hülfensberg - Asbach (25 km)


Den Abend von gestern muss ich nochmal etwas ergänzen. Beim Abendessen saßen wir alle beisammen, die Brüder Rudolf, Rolf, Jordan, Bernhard und Johannes, sowie Pilgerin Melanie und ich. Wir teilten Brot, Käse, Wurst und Quark mit frischen Kräutern aus dem Klostergarten. Zu trinken gab es Tee. Nach dem Essen gingen die Brüder in die Küche, um das Geschirr zu spülen. Melanie und ich schlossen uns ihnen an. Während Bruder Bernhard mit flinken Fingern spülte, Rolf und Johannes klosterinterne Angelegenheiten besprachen und alle anderen die Trockentücher schwangen, fragte Melanie unvorsichtigerweise, ob sich der Franziskanerorden keine Spülmaschine leisten könne. Daraufhin bekam sie eine klare Ansage. "Wir wollen ganz bewusst keine Spülmaschine", belehrte sie Bruder Bernhard. "Auch keine anderen teuren Gerätschaften. Wir haben z.B. nur einen einfachen Herd, auf dem die Mittagsmahlzeiten zubereitet werden. Wir Franziskaner haben uns Gott und einem Leben in Armut verschrieben. Die gemeinsame Küchenarbeit ist aber auch ein Kommunikationsritual. Wir unterhalten uns, lachen und scherzen viel beim Spülen." Jetzt weiß das Melanie auch. 


Nach dem Frühstück wiederholt sich das Spülritual. Ich verstehe das mit der Kommunikation sehr gut, habe ich doch früher beim Spülen auch immer sehr gerne mit mir selbst kommuniziert. Bruder Rolf begleitet mich zum Abschied noch vor die Tür. Geld möchte er von mir nicht. "Gastfreundschaft ohne Wenn und Aber ist für uns auch eine Art Ritual. Leben Sie wohl und Gottes Segen!" Irgendwie beschwingt gehe ich los.


Der Weg vom Hülfensberg hinunter geht direkt in die Knie. Aufstiege am Anfang, also von Null auf Hundert, sind nix, Abstiege "in Falllinie" auf Asphalt aber auch nicht. Das knallt sofort in die Füße und lässt sie fackeln. Bis Großtöpfer geht's abwärts, dann habe ich meinen tiefsten Punkt (geographisch gesehen) für heute auch schon erreicht. Glockengeläut empfängt mich. Natürlich nicht, um mich angemessen zu begrüßen, sondern schlicht und ergreifend, um die gläubigen Seelen des Dorfes zum Pfingstgottesdienst zusammenzurufen. Die Leute strömen herbei, denn die Menschen hier im Eichsfeld sind sehr gläubig und dem Katholizismus verbunden. 


Seit Jahrhunderten liegt das einst zum Fürstbistum Mainz gehörende katholische Eichsfeld wie eine Insel inmitten vom evangelischen Thüringern, Hessen und Niedersachsen. Zu Beginn der Reformation tendierten auch die Eichsfelder überwiegend zur Lehre Luthers, aber verschiedene Maßnahmen des Bischofs von Mainz brachten die Eichsfelder wieder auf "den alten Glauben" zurück. Von 1945 bis 1990 verlief etwa zwischen Oberem und Unterem Eichsfeld die innerdeutsche Grenze. Doch trotz aller staatlichen Einflussnahme blieb im DDR-Abschnitt des Eichsfelds auch während der Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang eine starke katholische Volksfrömmigkeit erhalten. Ihr Zentrum war und ist übrigens das Kloster Hülfensberg, von dem ich hinter Großtöpfer jetzt auch die Glocken herunterklingen höre.


Langgezogen aufwärts gehe ich, dann wieder runter in ein Bachtal und wieder rauf in das kleine Bergdorf Kella. Oben, auf dem Kamm des den Ort umgebenden Berges, verlief die politische Grenze, der Grenzstreifen unmittelbar hinter den letzten Häusern am Hang her. Ich will hier Rast machen, finde aber zunächst im ganzen Dorf keine Bank. Erst vor der kleinen Kirche steht eine. Sogar mit Begleitmusik. Aus dem Innern der Kirche klingen Lieder. Der Gottesdienst hält dort immer noch an. Als die Kirchentür aufgeht und die Menschen herausströmen, mache auch ich, dass ich weiterkomme. Und jetzt erst recht bergauf. 


An Kreuzwegstationen vorbei kämpfe ich mich hoch. Auch Kreuzwege können steil sein, nicht nur Kolonnenwege. Aber hier liegen sie eng beieinander. Bei einer Wallfahrtskapelle kreuzen sie sich. Die Kapelle war Ende des 19. Jahrhunderts neben dem bereits existierenden Kreuzweg gebaut worden. 1939 zerstörten Nazis die Fenster, Türen und das Altarbild. Nach dem Ende des Dritten Reiches begannen die Einwohner von Kella sofort mit den Reparaturarbeiten. 1950, ein Jahr nach der Gründung der DDR, erstrahlte sie in neuem Glanz. Noch im gleichen Jahr wurde auf Anordnung der Grenztruppen der Kapellen-Gottesdienst eingeschränkt. Die Kapelle lag unmittelbar an dem 500 m - Schutzstreifen, den die DDR-Regierung 1952 längs der Grenze ausgewiesen hatte. Prozessionen am Kreuzweg waren nicht mehr möglich. Nach der Verschärfung des Grenzregimes 1961 wurde der Besuch der Kapelle gänzlich untersagt. Während der nächsten zwei Jahrzehnte lag sie zwischen zwei Grenzzäunen. Grenzsoldaten nutzten sie als Unterstand. Bald, an Fronleichnam, wird die nächste Prozession hier hochführen.


Jetzt muss ich erst mal hoch, noch höher. Mit mir steigen Männer mit überdimensionalen "Rucksäcken" den Waldweg hoch, der später in einen schmalen Pfad einmündet. Ich lass mir sagen, dass diese "Rucksäcke" im Schnitt 25 kg schwer sind und die Jungs schnaufen genauso wie ich. Allesamt sind sie Paraglider, die zu ihrem Startplatz auf dem Gobert unterwegs sind. Bei diesem Sport hat der liebe Gott wirklich den vergossenen Schweiß vor den Spaß gesetzt. Nur zu den wenigsten Paragliding-Startplätzen kann man mit dem Auto oder mit einer Bergbahn anfahren, meist muss man für sein Vergnügen noch steigen, steigen, steigen ...


Als die Paraglider und der Wanderer oben schweißtropfend ankommen, ist die Wiese hinter der Startrampe schon voll mit ausliegenden Paraglides und den dazugehörigen Männern und Frauen in angelegter Ausrüstung. Alle schauen sie gebannt auf die wenige Meter hangabwärts an kleinen Stangen angebrachten weißen Stoffstreifen, die ihnen zeigen, woher und wie stark der Wind weht. Er weht zunächst kaum. Alle warten, man berät sich, hilft sich gegenseitig, fachsimpelt. Dann wird der Wind stärker, kommt als Aufwind - und die ersten reißen ihre Schirme hoch, laufen an und stürzen sich in die Tiefe. Der Rest wartet ab, beobachtet diejenigen, die unterwegs sind. Die nächsten springen, einer nach dem anderen. Irgendwann kreisen etwa zehn Ikarüsse am Himmel und ziehen ihre Bahnen. Eine halbe Stunde sitze ich auf der Wiese und bestaune das ganze Spiel, dann zwinge ich mich zum Weitermarsch. 


Der Startplatz hat einen großen Vorteil: höher geht es hier nicht. Direkt hinter der Wiese komme ich auf den Kolonnenweg und jetzt geht es wieder kilometerweit und nur leicht geschwungen über eine Hochfläche, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Abbruchkante des Goberts zur Werra hinunter. Direkt an der Abbruchkante entlang verlief mal wieder der Grenzstreifen, jetzt ist es ein breites grünes Band, das über einen weiten Abschnitt durch Ziegenbeweidung vor der Verbuschung bewahrt und so gepflegt wird. Heute sind es nicht nur die unzähligen Schmetterlinge, die Bussarde und Milane, ein Fuchs und ein Reh, die mir auffallen, sondern auch viele Menschen, die hier ihren Pfingstausflug absolvieren. Und trotz der Menschen ist es ruhig hier oben, kein Trubel.


So tappse ich dahin, den Kolonnenweg entlang, bevor es mit ihm bergab geht, auf Asbach zu. Asbach ist ein Straßendorf und lag zu DDR-Zeiten in seiner kompletten Länge unmittelbar entlang des Grenzzaunes. Die Hangseite jenseits des Baches war schon der "Goldene Westen". 


Ich stehe gerade noch geschwitzt und etwas erschöpft in meinem heutigen Quartier, da klingelt mein Handy. "Wagner!?" - "Krrrtschfff" - Es folgen einige Buchstaben von Worten, aus denen ich mir keinen Reim machen kann. Dann bricht der Kontakt ab. Selbiges wiederholt sich noch zwei Mal. Doch immer wieder nur: "Krrrtschfff - Buchstaben" - Ende! Wer will da was von mir??? Eventuell mein Kronprinz Daniel, der mir mitteilen möchte, dass gerade SEIN Kronprinz heute planmäßig zur Welt gekommen ist? Himmel nochmal, Sch... Empfang! Ein viertes Mal klingelt es - und ich höre eine klare Stimme! " Ein Scheiß Empfang hier in dem Dorf! Wo bist du?" - ????????????? - Jetzt erkenne ich die Stimme: Volker, der Mann meiner ältesten Nichte Heike. -"Wie jetzt? Was heißt 'Wo bist du'?" - "Ja, ich bin hier an der einzigen Bushaltestelle in diesem Kaff und habe einen Scheiß Empfang! Wo bist du?" - Mir dämmert es: "Moment mal, willst du mir sagen, Ihr seid in Asbach?" - "Na klar Mensch! Wo bist du???" Jetzt wird doch der Hund in der Pfanne verrückt, da kommen die hierhin nach ... Ich bin sprachlos. Da kommt die Truppe mit ihrem Wohnmobil hier angerauscht und will den alten Onkel überraschen. Also die Überraschung ist ihnen gelungen! 


Drei Minute später stehen sie vor dem alten Pastorenhaus neben der kleinen Kirche, da, wo ich bei Mike Mäder wohne. Großes Hallo, blöde Fragen von mir, Erklärungen von ihnen. Nach einer Viertelstunde Begrüßungsfreude auf den Treppenstufen vor der Haustür, verabreden wir uns für in etwa einer Stunde im Gasthaus "Zur alten Schmiede", unten im Dorf. Vorher muss ich noch duschen, ein paar Klamotten waschen, ich mag mich selbst nicht mehr riechen. Wenn ich jetzt nicht wasche, sind die Sachen bis morgen früh nicht trocken. 


Gesagt - getan! Ungefähr zur vereinbarten Zeit treffe ich Heike, Volker und die Jungs Mats, Ole und Nils im Biergarten wieder. Es wird ein schöner Abend, mit viel Fröhlichkeit und Gelächter. Ihr Wohnmobil steht bei Sickenberg, am Grenzmuseum Schifflersgrund, auf einem Stellplatz. Bis dahin müssen sie heute Abend noch ca. drei Kilometer zurückwandern. Da mich mein Weg morgen sowieso an Sickenberg und dem Grenzmuseum vorbeibringt, verabreden wir uns dort für gegen 9.30 Uhr. Gemeinsam wollen wir uns dann das Freilandmuseum ansehen. Aber vorher gibt es für mich noch einen Kaffee im Wohnmobil!


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Agentenschleuse, Führungsturm und Kloster

Treffurt - Kloster Hülfensberg (22 km)


Von meiner Pension in der Weiherstraße komme ich morgens früh direkt zur Egon-Bahr-Straße, um auf ihr bis zum Marktplatz von Treffurt zu gehen. Egon Bahr ist ein Sohn der ehemaligen Grenzstadt und die Menschen hier halten viel von ihm. Bahr war der Konstrukteur der deutschen Ostverträge. Anfang der 70er-Jahre wurden unter der Regierung Willy Brandt nach Vorarbeit von Egon Bahr der Moskauer Vertrag, der Warschauer Vertrag sowie das Transitabkommen und der Grundlagenvertrag mit der DDR unterzeichnet. Verträge, ohne die Jahre später eine Wiedervereinigung Deutschlands kaum vorstellbar ist.


Treffurt ist ein Zuckerstückchen: enge, zum Teil steile Gassen Richtung Burg Normannstein hinauf, ein geschlossenes Fachwerkensemble, auch wenn an dem ein oder anderen Haus bald etwas getan werden müsste, ein wunderbares Fachwerk-Rathaus mit Laubeneingang und das alte, unregelmäßige Kopfsteinpflaster ist noch im im Original vorhanden. Hinzu kommen viele kleine Accessoires, die in den rundum erneuerten westdeutschen Fachwerkstädten oft abhanden gekommen sind: Treppenaufgänge mit Schuhabkratzern, steinerne Wasserfänge, liebevoll gestaltete Hauseinfahrten, zum Fachwerk passende Fenster. Und wenn für einen Auftritt von Karat plakatiert wird, schwingt wohl auch noch ein wenig Ostalgie mit.


Am Marktplatz treffe ich einen Mann mit großem Rucksack. Ein "Grenzgänger"? Nein. Wie sich in einem kurzen Gespräch herausstellt, ist er Pilger. Ein Jakobsweg geht durch Treffurt. In Etappen ist er unterwegs und wird in Eisenach bald wieder seine Pilgerschaft unterbrechen. Vor einiger Zeit hat er auf der "Via Scandinavica" in Flensburg an der deutsch-dänischen Grenze seinen Weg begonnen. Irgendwann hofft er, in Santiago di Compostela zu sein. Aber das wird noch etwas dauern.


Für ein paar Tage muss ich mich nun von der Werra verabschieden. Keine Talwanderungen mehr, ich werde sie auf ihren flankierenden Höhen begleiten - und das heißt: Kolonnenweg! Als ich mich auf ihm die ersten Höhenmeter empormühe, staune ich nicht schlecht: In einer von den beiden Lochbetonreihen sind die Löcher komplett mit Beton ausgegossen! Wer hat denn hier mal intensiv an die Wanderer gedacht? Jetzt ist der K-Weg teilweise nur noch steil, sehr steil. Der Weg führt mal wieder bis zum Himmel, nichts anderes ist oben zu sehen. Besser, ich gucke geradeaus, auf die Platten, die ausgegossenen. Nur nicht denken! Einfach einen Schritt vor den anderen setzen. Kann ich aber nicht lange, dann muss ich wieder gucken. Hinter dem Scheitelpunkt geht es noch steiler weiter, diesmal aber abwärts. Sieht aus, als würde der Weg in ein riesiges Loch verschwinden. Doch am gegenüberliegenden Hang setzt er sich fort, das kann ich sehen. So geht es einige Zeit. Jedes Mal, wenn ich denke: geschafft! - noch ein Berg und wieder ein Tal.


Ich erreiche eine besondere "Sehenswürdigkeit". Schon seit einiger Zeit wird eine "Agentenschleuse" angekündigt, vor der ich jetzt stehe. Der Heimatverein Wendehausen hat sie 2003 entdeckt. Nach Minenräumarbeiten war sie teilweise verschüttet. Unter einem Stück Streckmetallzaun, den man nachträglich wieder aufgebaut hat, führt ein Rohr durch. Wie Recherchen des Heimatvereins ergaben, wurde das Rohr Anfang 1980 unter dem damaligen Grenzzaun als "Wasserdurchlass" gebaut. Dabei wurde ein Rohr von einem Meter Durchmesser verwendet, obwohl ein Rohr von 20 cm weitaus gereicht hätte. Wie nachträgliche Beobachtungen des Heimatvereins ergaben, bleibt die Röhre selbst nach ergiebigen Regenfällen so gut wie trocken. Die Heimatkundler zogen daraus den Schluss, dass die versteckte Betonröhre zum Schleusen von Agenten diente, was ein ehemaliger Major der DDR-Grenztruppen auch bestätigte. Ein Gitter verschloss den Zugang für "Unbefugte". Das Rohr, das jetzt auf der anderen Seite wieder unmittelbar jenseits des Zauns zutage tritt, verlief damals im Zickzack unter dem gesamten Grenzstreifen hindurch. Der Ausgang lag hinter einem Gebüsch noch auf DDR-Gebiet verborgen. Bei Nacht- und Nebelaktionen krochen die "Kundschafter des Friedens" hier durch, um in der einsamen Region unterzutauchen. Der Abschnitt war dann tagelang für Grenztruppen tabu, nur hohe Stasioffiziere hatten Zutritt. Bezeichnenderweise lag ein Hubschrauberlandeplatz in der Nähe.


Nach einer Pause an diesem denkwürdigen Ort ist mein nächstes Ziel ein Wachturm am Weg. Noch vier Kilometer bis dahin. Mittlerweile bin ich auf einer Hochfläche angekommen, neben mir ein recht breiter "Grenzstreifen", der jetzt aber nur grünt und blüht. Links vom - immer noch "gefüllten" - Kolonnenweg zieht sich eine Gehölzreihe durch die Wiese. Junge Weiden und Eschen haben sich im Kfz-Sperrgraben etabliert, Schmetterlinge und Hummeln fliegen vor mir hier und ich fühle mich wie im Urlaub.


Etwa einen Kilometer vor dem immer wieder angekündigten "Mahnmal Grenzturm" treffe ich auf einen ganz "normalen" Grenzwachturm, Sorte "viereckig, schlank", in dem Mannschaftsgrade ihren Dienst versahen. In Sichtweite erkenne ich aber schon, und so waren sie bei zulässigen Geländebedingungen auch errichtet, den Führungsturm, Sorte "viereckig, dick". Er steht etwa 200 m abseits des Kolonnenweges, der hier über eine Kuppe verläuft. Nicht, um in erster Linie den Grenzstreifen zu kontrollieren, die Übersicht dazu war an dieser Stelle gar nicht so günstig. Der Mann des Heimatvereins Wendehausen, der gerade um den Turm herum den Rasen mäht, sagt mir, warum der Turm weg vom Kolonnenweg am etwas tiefer gelegenen Hang steht. "Hauptbeobachtungsrichtung war ja nicht der Westen, der Feind. Den konnte man von hier aus über die Kuppe hinweg kaum einsehen. Die "Feinde" waren doch eigentlich im Osten, im eigenen Land, die, die abhauen wollten, aus der Sperrzone heraus. Die musste man sofort im Auge haben."


Während er arbeitet, darf ich mir den Turm auch von innen ansehen, ansonsten ist hier nur sonntags geöffnet, und das auch nur von Mai bis Oktober. Drinnen befindet sich ein kleines Grenzmuseum, das vom Heimatverein betreut wird. Vor 20 Jahren schon sollte der Turm eigentlich abgerissen werden, "im Prinzip von denen, die ihn gebaut haben". Eine Ausstellung zeigt den Aufbau der Sperranlagen, schildert das Leben im Sperrgebiet, dokumentiert den Briefverkehr des Grenzabschnittskommandeurs mit Erich Honecker höchstpersönlich nach gescheiterten Fluchtversuchen, zeigt Bilder und Texte der Grenzöffnungen an verschiedenen Stellen der näheren Umgebung. Ich erfahre aber auch kuriose Details, z.B., dass man die Wegweiser an den Straßen abmontiert hatte oder Landkarten mit Gebieten jenseits der Grenze ohne jede Kennzeichnung veröffentlichte, um Ortsfremden die Orientierung zu erschweren.


Doch ganz abgesehen von dem musealen Aspekt des Turmes, ist es für mich schon interessant, solch einen Führungsturm überhaupt mal von innen zu sehen. Der Herr vom Heimatverein macht mit mir eine "Führung": Die ersten Grenztürme waren aus Holz gebaut. Da viele von ihnen auf freiem Feld standen und wehrlos den Stürmen ausgesetzt waren, kippte der eine oder andere auch schon mal um. Deshalb verschwanden sie mit der Zeit. Beton kam zu Einsatz, hässlich, aber mit stabilem Fundament. Ästhetik spielte an der Grenze sowieso keine Rolle. Nützlichkeit pur regierte, eben frei Sicht und freies Schussfeld. 1980 wurde diese Sorte Türme also neu aus Betonfertigteilen errichtet. Die "Führungstürme" haben einen Grundriss von vier mal vier Metern und sind mit ihren vier Etagen neun Meter hoch. Im Keller stand die Stromversorgung mit Notstromaggregat, im Erdgeschoss befanden sich die Versorgungseinrichtungen mit Stromverteiler und Waschgelegenheit samt Toilette, aus der das Abwasser in einen Außenkübel floss, der von der nächstgelegenen LPG entleert wurde. Im ersten Obergeschoss beherbergten sie die vier Grenzer der Alarmgruppe mit Feldbetten, Tisch, Stühlen und Waffenschrank oder -haltern. Deren Wagen stand direkt vor dem Turm immer startbereit. Im zweiten Obergeschoss residierte die Führung, also meist ein Offizier, mit Telefon und direktem Draht zum Kommandeur der Grenzsicherung, der auch "privat" erreichbar war, und zu den benachbarten Einheiten. Über der Führungsstelle war das Dach mit einer Leiter erreichbar. Auf dem Dach waren starke Scheinwerfer und die Funkantenne montiert. Nur wenige der Türme stehen noch, die meisten sind abgerissen worden.


Ich frage den Herrn vom rührigen Heimatverein, der sich ja sowohl um die Agentenschleuse als auch um den Führungsturm kümmert, ob sie auch für das Verfüllen der Plattenweglöcher verantwortlich seien. Da lacht er nur kurz: "Nein, nein, das kam vom Landkreis, Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Ich möchte nicht der arme 1-Euro-Jobber gewesen sein, der das kilometerlang machen durfte. Aber gleich ist das auch vorbei." - Tolle Nachricht! 


Endlich wieder mal fällt der Kolonnenweg unmittelbar hinter dem Führungsturm in ein "Loch", runter zu einer Landstraße, nur um unmittelbar dahinter wieder in den Himmel zu steigen. Jawoll! Das stählt die Lunge, das stählt die Beinmuskulatur, das verbrennt ordentlich Körperfette - ich bin begeistert. Überhaupt nicht begeistert bin ich, als plötzlich und unerwartet tatsächlich die Löcher wieder Löcher sind. Auf halber Platte! Genau an dieser Stelle ist das Geld ausgegangen. Dabei hätte doch der 1-Euro-Jobber nur zu gerne, von Landkreis zu Landkreis weitergereicht, die Löcher weiter bis an die Ostsee "gestopft".


Nochmal komme ich auf eine Hochebene, nochmal geht es steil abwärts, dann liegt Döringsdorf auf einem Sattel vor mir. Und dahinter, gaaanz oben auf einem Berg, sehe ich die Kirchturmspitze von Kloster Hülfensberg aus den Bäumen hervorlugen. Ich brech zusammen ... da oben muss ich noch rauf ... da ist mein Quartier für heute.


Eine halbe Stunde später bin ich oben - und etwas überrascht. Der Komplex sieht gar nicht nach einem Kloster aus. Oder sagen wir: Die Klöster, die ich bisher gesehen habe, sahen anders aus. Das Hauptgebäude ist ein langgezogener Holzbau, der eher an ein früheres Schullandheim erinnert. Zwei Geschosse, neben der Pforte die Worte "Franziskaner-Kloster", ins Holz geschnitzt.


Der Mann, der mir öffnet, sieht auch nicht aus, wie ich mir einen Klosterbruder vorstelle. Er trägt keine Ordenstracht, stattdessen schwarze Jeans, ein normales graues Oberhemd, darüber einen Pullunder. Eine ruhige Stimme, ein gütiges Gesicht: Bruder Rudolf. Er lädt mich direkt in den Speiseraum ein. Er, sein Mitbruder Rolf und eine Pilgerin, die auf dem Jakobsweg sei, säßen gerade beim Kaffee. Bruder Rolf trägt das Franziskanergewand aus braunem grobem Wollstoff mit Kapuze und einem weißen Strick als Gürtel. Freundlich lächelnde Augen hinter Brillengläsern, grauer Vollbart, spärliches Kopfhaar und immer zu einem Scherzchen aufgelegt. Mit Melanie, der Pilgerin mittleren Alters, komme ich natürlich zuerst über das Stichwort "Jakobsweg" ins Gespräch. Dann wird das Kloster zum Thema und Bruder Rolf und Bruder Rudolf werfen sich die Bälle zu:


Das Kloster und die Wallfahrtsstätte hier oben auf dem Hülfensberg, suchen Gläubige bereits seit dem Mittelalter auf. Die Wallfahrtskirche St. Salvator entstand im 14. Jahrhundert. Das Hülfenskreuz darin, das die Pilger anbeten, ist noch älter. Zur DDR-Zeit lag der Hülfensberg, genauso wie Döringsdorf, im Sperrgebiet. Nur wer in den umliegenden Dörfern wohnte oder einen Passierschein bekam, durfte an den Wallfahrten teilnehmen, nie mehr als tausend Gläubige. Für die tiefgläubigen katholischen Christen des Eichsfelds, durch das ich mich inzwischen bewege, ein schwer zu ertragender Umstand. Am 4. November 1989, als es politisch brodelte und die Grenze nur noch fünf Tage bestehen sollte, wagten sich etwa 3000 Menschen aus den Hülfensberg-Dörfern und dem Südeichsfeld mit einer Prozession in die verbotene Sperrzone. Lediglich 300 von ihnen hatten eine ausgestellte Genehmigung. Alle anderen folgten spontan. Die Grenzer ließen sie erstaunlicherweise passieren. Der damalige Pater Erwin begrüßte die Mutigen und feierte mit ihnen einen unvergessenen Gottesdienst. 


Nach dem Kaffee zeigt Bruder Rudolf mir mein Zimmer im Dachgeschoss, mit Blick auf die Kirche St. Salvator und die Bonifatiuskapelle, die auf dem Platz vor dem Kloster stehen. Unter der Dachschräge ein schmales Bett, das ich mir selbst beziehen muss. Gegenüber ein Schreibtisch mit Stuhl, daneben ein schlichter Kleiderschrank aus hellem Holz. An der Wand ein kleines Holzkreuz.


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Erdbeeren durch den Zaun

Lauchröden - Treffurt (27 km)


Solch einen nett zurechtgemachten Frühstückstisch hatte ich auf meinem Weg bisher noch nie. Nicht nur die Brötchen, den Wurstteller und die Marmeladentöpfe hingeknallt, sondern hier Blümchen, da eine kleine Deko, ein buntes Schildchen "Wir wünschen Ihnen einen schönen Tag!" und selbst dem Ei wurde ein strahlendes Gesicht aufgezeichnet. So läuft doch der Tag gleich ganz anders an.


Mit Frau Bracke, die rührend um mich besorgt ist, komme ich natürlich ins Gespräch. Und natürlich geht es um die Grenze. "Ich wollte unbedingt rüber. Vielleicht einen Tunnel bauen, unter der Werra durch, hatte ich mir mal gedacht. Aber mein Mann meinte: ' Wo willst du mit der ganzen Erde hin, das geht doch nicht.' Er hatte ja Recht, aber ich wollte unbedingt raus. Dann haben wir immer die Hubschrauber vom Bundesgrenzschutz fliegen und auf den Wiesen auf der anderen Seite der Werra landen sehen. Da dachte ich, wir hängen ein großes, weißes Bettlaken an den Teil unserer Hauswand, den die Grenzer nicht einsehen können, und schreiben da drauf: 'Holt uns hier raus!' Aber das ging natürlich nicht, das wusste ich ja auch. Aber ich war alles so leid. Drüben, auf der anderen Seite der Werra, wo jetzt nur Wiesen sind, führten zwei Asphaltstraßen von links und rechts bis auf einen großen Parkplatz hier genau gegenüber. Da kamen die Busse mit Touristen und die haben dann zu uns rübergekuckt, als wären wir Affen im Zoo. Aber Verwandte von mir aus dem Westen sind auch mal dorthin gekommen und haben zu uns rübergewinkt. Als ich zurückgewinkt habe, sind am nächsten Tag Stasileute bei mir gewesen und haben mir eine "sozialistische Belehrung" erteilt. Ein Polizist, der bei uns im Haus wohnte, hatte mich angeschwärzt." 


Auf meine Frage hin, ob mit den Grenzern, die ja unmittelbar vor dem Haus patrouillierten oder auf Posten standen, irgendein Verhältnis aufgebaut werden konnte, antwortete sie mir: "Mit manchen ging das, mit anderen wieder überhaupt nicht. Die waren ja immer zu zweit und wussten ja nie, ob nicht der andere ein Stasispitzel war. Als ich einmal Geburtstag hatte und es erst nur den einen Zaun am Uferhang gab, habe ich mal die zwei Grenzer zu einem Stück Kuchen eingeladen, draußen vor dem Haus. Sie konnten wohl nicht widerstehen und haben sich tatsächlich zu uns gesetzt. Die ganze Zeit über rückten sie aber auf den Stühlen hin und her und schauten sich unruhig um. Als es dann die zwei Zäune gab, waren die Grenzer ja selbst wie in einem Käfig gefangen. Machmal standen sie dann in der größten Hitze am Haus auf ihrem Posten und schwitzten fürchterlich. Dann haben sie uns schonmal gefragt, ob wir ihnen nicht einen Wasserschlauch durch den Streckmetallzaun stecken könnten, damit sie sich erfrischen könnten. Einmal habe ich ihnen sogar frische Erdbeeren aus unserem kleinen Garten durch den Zaun zugeschoben. Die Erdbeeren waren so dick, dass ich sie richtig durch die Zaunlöcher quetschen musste. Nach der Wende haben uns einige von den Grenzern besucht und haben dabei ihrer Frau und ihren Kindern gezeigt, wo sie mal Wache geschoben haben. Dabei habe ich sie mal gefragt, ob sie auf uns geschossen hätten. Ich habe keine Antwort bekommen. Was sollten sie auch sagen ...?"


Es sprudelte förmlich aus ihr heraus und ich glaube, ich hätte noch den ganzen Tag ihren Erzählungen zuhören können. "Sie wissen doch bestimmt, dass man bei uns in der DDR 'wählen' konnte zwischen der Jugendweihe und der Konfirmation. Als unser Junge soweit war, hat man uns gesagt: "Wenn Sie die Jugendweihe machen, können alle Ihre Verwandten Sie besuchen kommen. Wählen Sie die Konfirmation, dann nicht.' Natürlich haben wir uns daraufhin für die Jugendweihe entschieden. Als es dann so weit war, wurde trotzdem jeder Einreiseantrag unserer Verwandten abgelehnt. Immerhin durften wir uns im Konsum zur Feier des Tages eine Tüte Chips und eine Tüte Erdnüsse abholen. Außerdem gab es für die Kinder und für die Alten je eine Banane. Und ich hätte so gerne auch mal eine Banane gegessen. Apfelsinen gab es sowieso nur zu Weihnachten, für jeden eine."


Ich muss bei Frau Bracke den ewigen Sprudel der Erinnerungen abdrehen, sonst komme ich überhaupt nicht mehr weg. Jetzt genießen die Brackes ihr Leben hier an der Werra, pflegen mit viel Liebe ihren phantasievollen Garten, der jetzt dort liegt, wo seinerzeit der Grenzstreifen war, und sind hervorragende Gastgeber für ihre Pensionsgäste, die jetzt zu ihnen kommen dürfen, ohne einen Antrag stellen zu müssen.


Direkt hinter Lauchröden geht es über die Werrabrücke, rüber, "in den Westen". Die Brücke hatten 1945 die Amerikaner gesprengt, die einfachste Möglichkeit, die noch von der deutschen Armee mit Sprengsätzen gespickte Brücke zu "entschärfen". Jetzt ist es nur eine schmale Fußgängerbrücke. In der Mitte hängt ein Foto mit Text am Geländer, zur Erinnerung an den Tag, an dem nach der Maueröffnung in Berlin die Herleshausener über eine schnell zusammengezimmerte Holzbrücke in einer Menschenschlange ihre Nachbarn in Lauchröden besuchten. Erst später ist die jetzige Brücke gebaut worden. Dass es nur eine Fußgängerbrücke geworden war, regte damals niemanden auf, denn eine breite Brücke für den Autoverkehr gab es nur wenige Kilometer werraabwärts bei Wartha, sie musste nur noch hergerichtet werden. 


Eine wunderschöne Lindenallee führt nun auf Herleshausen zu, links und rechts die Wiesen der Werraauen, so weit das Auge reicht. Wieder sehe ich Graureiher regungslos wie Plastikskulpturen in den Wiesen stehen und zwei Storche durch dieselben staksen. Vielleicht sind es die beiden Adebars von Lauchröden, die sich vor wenigen Minuten erst von ihrem Schornstein aufgemacht haben, um für ihre Jungen das Frühstück zu besorgen. 


Herleshausen ist nicht viel mehr als ein Dorf, mit schönen alten Fachwerkbauten und einer stattlichen Kirche. Doch berühmt geworden ist es aus anderen Gründen. Herleshausen, zwischen Werra und A 4, hat viel Grenze erlebt: Herleshausen - Wartha war ein großer Kontrollpunkt und Grenzübergangsstelle zwischen Rudolphstein - Hirschberg an der A 9, wo ich schon war, und Helmstedt - Marienborn an der A 2, wo ich noch hinkommen werde. Am ersten Wochenende nach dem 9. November 1989 wurde der Ort von 28.000 DDR-Bürgern besucht und in dem dortigen Gemeindezentrum betreut und versorgt.


Mitte der 50er-Jahre wurden die letzten deutschen Kriegsgefangenen aus Russland hierher transportiert und am Bahnhof ausgesetzt. 10.000 sog. Spätheimkehrer taten nach über zehn Jahren Sibirien in Herleshausen ihre ersten Schritte auf neuem deutschen Boden, und wenn es nur vom Zug in den Bus war, der sie ins Grenzdurchgangslager Friedland fuhr. Aber in Herleshausen standen damals Wartende Spalier und riefen und jubelten und hießen willkommen und hielten Schilder hoch mit den Namen oder Bildern der Männer, Verlobten, Väter, Söhne, Brüder, die vermisst worden waren seit elf, zwölf, dreizehn Jahren.


Es gab aber auch noch andere Kriegsgefangene in Herleshausen. Sie sind nicht nach Hause gekommen. Etwas außerhalb von Herleshausen gibt es im Wald einen Friedhof. 1593 sowjetische Soldaten im Alter von 15 bis 65 sind hier beerdigt. Sie waren als Zwangsarbeiter zum Bau der "Reichsautobahn" abgestellt, und zum Sterben ins "Seuchenlager Herleshausen" gebracht worden.


In Herleshausen befand sich außerdem eine der wichtigsten deutsch-deutschen Grenzübergangsstellen, über die auch Freikäufe von politischen Häftlingen aus der DDR abgewickelt wurden. Von hier aus fuhr 1964 der erste Bus mit 50 "Politischen", die ins Notaufnahmelager Gießen kamen. Freikäufe fanden aber auch schon früher statt. Einmal wurden 15 Gefangene gegen drei Waggonladungen Kalisalz eingetauscht. Später lieferte die BRD für jeden Häftling Waren im Wert von 40.000 D-Mark. Diese Summe erhöhte sich in den 70er-Jahren auf fast Hunderttausend. Bis zur Wiedervereinigung kamen rund 33.000 DDR-Bürger auf diese Weise in die Bundesrepublik.


Hinter Herleshausen beginnt der Ringgau, einer Staffelung von Höhenzügen, die sich von nun an bis nach Treffurt querlegt. Das bedeutet schwitzen. Aber ich schlage mich erstaunlich gut. Die letzten beiden nicht so langen Flachetappen im Werratal haben mir gut getan und ich bin jetzt richtig bissig. Ich fletsche die Zähne und ziehe bergan, nässe ordentlich ins Hemd, aber habe das Gefühl, dass es mir und meinem Bauchspeck guttut. Ich triumphiere, wenn ich wiedermal oben angekommen bin, und lasse mich dann rundum zufrieden wieder den Berg runtertrudeln - bis zum nächsten. So komme ich auf den Heldrastein.


Ein sagenumwobener Kalksteinfelsen ist er, 504 m hoch, der "König des Werratals". Auf seiner Spitze trägt er den "Turm der deutschen Einheit", einen mit viel grenzüberschreitender Eigeninitiative nach der Wende zum Aussichtsturm überbauten ehemaligen Abhörturm der Stasi. Direkt unterhalb des Felsmassivs verlief die Grenze. Jahrzehntelang war der Heldrastein Sperrgebiet, niemand durfte hier rauf, außer den Grenztruppen. Heute kann jedermann hier hoch, kann die Aussicht direkt von der Abbruchkante ins etwa 350 m tiefer gelegene Werratal genießen oder sich von einem Lehrpfad-Rundweg über den deutschen Wald belehren lassen. Und man kann den Turm besteigen.


Ich zähle die Stufen, wie man das halt immer so tut, um sich bei dem langweiligen Emporklettern die Zeit zu vertreiben, und lande bei 165. Oben ist die Rundum-Aussicht in der Tat imponierend, obwohl ich mich eigentlich mehr damit aufhalte, die gesammelten und eingerahmten Zeitungsausschnitte zu studieren, die links und rechts neben den Ausguckfenstern hängen. Fotos und Texte dokumentieren die jüngere Geschichte: Aufbau der Grenzanlagen, von der Werra angeschwemmte Flüchtlingsleichen, DDR-Abhöranlagen, Wiedervereinigungsfeiern. Ich drehe mich die Wendeltreppe wieder runter. Diesmal sind es 166 Stufen. Mhmm. Muss also jemand, während ich oben war, unten eine weitere dranmontiert haben.


Gleichzeitig mit dem Aussichtsturm wurde von einer fleißigen Interessengemeinschaft unmittelbar nach der Wende auch eine Wandererhütte gebaut. Aber während ich mich hier aufhalte, bekomme ich weder einen Wanderer zu Gesicht noch eine Flasche Wasser. Das Pfingstwochenende fängt erst morgen an, und ich würde als Wirt auch nicht nur für mich auf den Berg gehen und die Bude öffnen. Mein Tagesziel Treffurt ist außerdem schon unten im Tal sichtbar, sehr weit unten. Ich mach mich runter.


Nun überwindet man eine Höhendifferenz von 350 m auf einer Strecke von etwa sechs Kilometern nicht mal eben so. Dazu braucht man kniestauchende steile Abstiege oder Treppen. Der Weg nach Treffurt hat beides zu bieten. Zunächst einen steilen Treppenweg durch gestufte Kalkwände voller Klüften und Spalten, dann kaum minder steile Waldpfade, die alle zusammen mir, meinen Knien und meinem Wheelie alles abverlangen.


Für meine Verhältnisse ist es heute spät, als ich bei meiner Pension an der Tür klingel, doch ich fühle mich frischer als an manch kürzerem Tag. Und abends gibt es dann noch "Schnitzel an Spargel" und alles ist perfekt.


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Haus am Zaun

Berka - Lauchröden (15 km)


Na das war doch was anderes als letzte Nacht! Ich konnte ohne zu zögern den großen Zeh unter der Bettdecke rausstrecken, ohne dass er mir abfror, Wärmewellenofen sei Dank! Ich esse Nudelsalat mit Joghurt zum Frühstück, beides ist noch von gestern Abend übrig geblieben. Der Instantkaffee aus den Beständen von Herrn Stoll spült alles runter. So marschiere ich denn um kurz nach 8 Uhr wieder wohlgelaunt zum Städele hinaus.


Durch die Werrawiesen geht es an Obersuhl vorbei nach Gerstungen. Stattliche Fachwerkhäuser stehen am großen Marktplatz, und um den Storchenbrunnen herum ist Blumenmarkt. Eine Blumenfrau kommt auf mich zu, als ich ihren Stand fotografiere, und steckt mir drei Tulpen an den Wheelie. "Soll Ihnen Glück bringen!" lacht sie mich freundlich an. "Egal ob bei Ihrer Wanderschaft oder im Leben." Irgendwie bin ich gerührt. Ich würde glatt einen Strauß Blumen bei ihr kaufen, aber an wen soll ich ihn verschenken? 


Der Storchenbrunnen steht nicht umsonst auf dem Marktplatz. Da Storche schon seit Jahrhunderten ein Nest auf dem Schornstein des kleinen Schlosses belegen, ist der Storch praktisch das Wappentier der Stadt. Es ist recht rührig im Städtchen. Autos fahren in angemessenem Tempo am langgestreckten Marktplatz entlang, Radfahrer mit vollgepackten Gepäcktaschen sind auf dem Werratal-Radweg unterwegs. Zu DDR-Zeiten war das anders. Damals war Gerstungen für Besucher unerreichbar, es lag im Sperrgebiet. Sein Grenzbahnhof hatte mit seinen schikanösen Personenkontrollen eine genauso traurige Berühmtheit wie der Bahnhof in Probstzella. 


Der Grenzwanderweg entlang des Grünen Bandes folgt ab Gerstungen nicht mehr dem Werratal. Er bleibt zu einem großen Teil dem ehemaligen Grenzstreifen treu und steigt in die Berge des Thüringer Zipfels hinauf. Ich beschließe, nicht mitzusteigen. Der Thüringer Zipfel umfasst ein großes, menschenleeres Waldgebiet, das auf 14 Kilometer halbkreisförmig vom Grenzstreifen umschlossen wird. Erst bei Sallmannshausen zieht sich die ehemalige Grenze wieder in die Werra-Aue hinunter. "Honiwood" war der Spitzname für den riesigen Staatsforst, der Stasi-Generälen und eben auch dem Staatsratsvorsitzenden persönlich zur Jagd vorbehalten war. Mich drängt es absolut nicht, steil aufwärts durch tiefsten Wald zu stapfen und dann genauso wieder runter, nur um dort anzukommen, wo ich drei Stunden vorher nach einer angenehmen Wanderung durch das Werratal auch schon hätte sein können. Ich gönne mir also die wesentlich angenehmere Variante und habe überhaupt kein schlechtes Gewissen dabei.


Ich wandere am östlichen Rand des Werratales entlang und sehe am gegenüberliegenden Hang die Autos auf der A4 entlanghasten. Jetzt können sie das wieder, zur Zeit des DDR-Regimes war das nicht mehr möglich. Die Autobahn Frankfurt - Dresden querte damals eben nicht nur den Thüringer Zipfel, sondern führte damit auch zwei Mal über die Grenze. Ein potentielles Fluchtrisiko. Die DDR sperrte die Autobahn, und mit der Zeit zwängten kleine Bäumchen ihre Wurzeln in die Straßenritzen, eine Autobahn wurde komplett von der Natur vereinnahmt. Zaun und Kontrollstreifen verliefen auf der Fahrbahn, selbstverständlich war jedes Betreten verboten.


Anstatt nun den "Honiwood" hinauf- und hinunterzusteigen, gehe ich unten im Werratal durch eine Bilderbuchlandschaft. Die Werra mäandriert frei durch die Aue, der Wald rechts von mir reicht zeitweise bis an den Fluss hinunter und der gesamte Talraum wird von Wiesen eingenommen. Zwei Schwäne fliegen mit synchronem Flügelschlag darüber hinweg, einen Graureiher und wenig später auch einen Storch sehe ich in der Wiese stehen und nach Beute Ausschau halten. Ich gehe mit angezogener Handbremse, genieße den Tag.


In Sallmannshausen, wo die Werra nach Osten Richtung Herleshausen schwenkt, komme ich wieder auf eine kleine Landstraße und gehe auf ihr noch vier weitere Kilometer bis nach Lauchröden, meinem Ziel für heute. Ich bin besonders früh dran, dank der drei Stunden, die ich mir durch Vermeidung des Thüringer Zipfels geschenkt habe. Es ist erst kurz nach 13 Uhr, und Herr Bracke, mein Pensionswirt, bittet mich, mich noch einen Moment in den Garten zu setzen, das Zimmer sei noch nicht ganz bezugsbereit. Gerne tue ich das. 


Der Garten ist eine Ruheoase. Direkt vor dem Haus fließt ruhig die Werra dahin, Blumenrabatten, ein Teich, unterschiedliche Sitzgruppen. An der Wäscheleine flattert die bunte Bettwäsche des letzten Gastes, eine Kanu liegt bereit, um ins Wasser gelassen zu werden. Unten am Angelsteg ein wichtiger Hinweis, handgeschrieben auf einem kleinen Holzbrett: "Genitiv ins Wasser, weil Dativ ist". Herrlich! 


Gerade als ich mich frage, wo denn hier die Grenze verlief, kommt Herr Bracke wieder aus dem Haus und ich frage ihn. "Die Grenze verlief in der Flussmitte", erklärt er mir. "Und wo war dann der Zaun? Ihr Haus steht doch fast am Flussufer." - "Das ist richtig! Der Zaun ging auch hier nur knapp einen Meter am Haus vorbei. Die Fenster auf der Flussseite hat man uns zugemauert und den Balkon, den wir hier hatten, hat man abgerissen. Über den Zaun kucken ging nicht. Auf der anderen Seite des Hauses konnten wir uns einen neuen Balkon bauen. Dafür gab es dann staatlicherseits Unterstützung. Da, wo der Hang zum Ufer runtergeht, also keine fünf Meter von dem anderen entfernt, stand der zweite Zaun. Umd dazwischen, wo jetzt unser Garten ist und das Kanu liegt, verlief der Kolonnenweg. Da marschierten sie hin und her. Hier oben an der Hausecke, wie überall an der Werra, waren Lampen angebracht, die die ganze Nacht über den Streifen beleuchteten. Nächtliche Dunkelheit kannten wir hier nicht. Allerdings zahlte uns der Staat auch Fördermittel, wenn wir unsere in den Westen gerichteten Fassaden verschönerten. Das war gewollt. Die im Westen sollten sehen, wie schön es im Osten ist." Ich kann wiedermal nur fassungslos darüber den Kopf schütteln, unter welchen Bedingungen man an dieser Grenze leben musste und kann nur ehrfürchtig darüber staunen, wie friedlich und schön es jetzt hier aussieht.


Während ich schreibe, schaue ich aus meinem Zimmer über die Werra hinweg. Die einst zugemauerten Fenster sind schon lange wieder aufgebrochen. Keine 30 m von mir entfernt liegt das andere Werraufer, der damalige "Westen". Dahinter die weiten Wiesen. Damals lag dort die Freiheit - und war doch so weit weg.


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Vogelparadies

Berka - Dankmarshausen - Berka (19 km)


Gestern Nachmittag war es in meiner Hütte mehr als warm. Die Sonne hatte es drinnen dank mangelnder Isolierung richtig aufgeheizt. Die geöffnete Tür schaffte es, den Aufenthalt drinnen erträglich zu halten, die meiste Zeit saß ich sowieso draußen auf meiner kleinen Terrasse. Doch als die Sonne nach ihrem Tagwerk dann verschwand und eine sternenklare Nacht begann, drehte sich alles um. Langsam aber sicher kroch die Kälte ins Häuschen und die Nacht überstand ich nur, weil ich die Decken der anderen drei Betten zusätzlich über mich warf. 


Der Morgen beginnt gewöhnungsbedürftig. Drinnen ist es wohl nicht viel wärmer als draußen und draußen ist die Welt grau, windig und regenschwanger. Ich überlege, ob ich überhaupt aufstehen will, reiße mich dann aber zusammen und hüpfe aus dem Bett. Jetzt nur nicht schwächeln! Auch wenn die Verlockung groß ist, den Tag einfach lustvoll zu versumpfen. Eine Wanderung ist heute zwar geplant, bringt mir aber auf dem Weg bis zur Ostsee nicht einen Kilometer Streckengewinn. Das einzige, was heute ansteht, ist das Abwandern des Grenzverlaufs, der hier bei Berka und Dankmarshausen weit nach Westen in das hessische Gebiet hineinragt. Dorthin, wo er nach Westen abbiegt, kommt er auch nach manchen Grenzkilometern fast wieder hin zurück. So erklärt sich, warum ich im Kanu-Camp von Berka gleich zwei Mal übernachte. Berka ist eben zwei Mal Etappenziel.


Was nun? Die etwas demotivierende Tagesschleife ohne Streckengewinn ausfallen lassen und sich lieber der lustvollen Faulenzerei hingeben? Einen Ruhetag einlegen? Ich entscheide mich, mich erstmal nicht zu entscheiden. Der Duschraum im Camp ist genauso kalt wie meine Hütte, dafür wird das Wasser schnell heiß und ich taue allmählich auf. Das Frühstück, das ich mir selbst bereite, und die überraschende Erkenntnis, dass es draußen ja immer noch nicht regnet, bringt mich dann zu dem Entschluss, doch loszugehen.


Der Wheelie bleibt in der Hütte - Schonzeit für Lastenesel. Dann geht es auf Radwegen durch die Werraauen, immer den Monte Kali vor Augen. Kaum eine Menschenseele ist unterwegs, nur zwei Frauen perforieren mit ihren Walking-Stöcken den Radweg-Asphalt, ein radelndes altes Ehepaar kommt mir entgegen und kurz vor Dankmarshausen führt ein Rentner seinen Hund Gassi. Dankmarshausen streife ich nur am Rand und strebe stattdessen zügig auf Kleinensee zu. Ohne Wheelie bin ich so schnell, dass ich mich bald selbst überhole. Kurz vor Kleinensee kreuze ich mal wieder den Kolonnenweg, aha, jetzt bin ich mal wieder in Hessen. Der kleine Ort dann wie ausgestorben, nur ein paar Katzen streunen herum. Auf einem Fachwerkbalken eines Hauses lese ich einen Spruch, den ich für bemerkenswert halte: "Schaff und erwirb, zahl Steuern und stirb." Ein ganzes Leben mit sieben Worten erzählt, reife Leistung!


Fünf Minuten später bin ich am alten Grenzstreifen zwischen dem größeren Kleinensee und dem kleineren Großensee. Die beiden Dörfer liegen gegenüber, nur einige Schritte entfernt. Großensee war DDR, Kleinensee Bundesrepublik. Man hätte einander in den Garten schauen, zur Erdbeerbowle oder zur Bratwurst bitten können. Allein dazwischen stand diese Mauer wie in Berlin oder wie in Mödlareuth. Sie wurde erst 1971 gebaut, damit keiner von Ost nach West sowie umgekehrt auch nur einen Sekundenblick schicken konnte. Einen Rest davon kann man noch sehen. Ein Stück Grenzsignalzaun ebenfalls und eine schwarz-rot-goldene DDR-Grenzsäule. Das besondere an ihr ist, dass immer noch das alte DDR-Staatsemblem an ihr heftet. Wirklich das Original? Oder eine Nachbildung, nachdem das Original, wie andersweitig so oft, Souvenirjägern zum Opfer gefallen ist?


Während ich ganz versunken eine Info-Tafel lese, steht auf einmal eine alte Frau mit ihrem Hund neben mir und fängt ungefragt an zu erzählen. "Furchterregend war hier die Mauer, genauso der Streckmetallzaun, der Stacheldraht, das verminte Gelände, der ganze bewachte Grenzstreifen. Für jeden von uns hier hatte das Konsequenzen, auch wenn sie noch so merkwürdig waren. Man musste Regeln einhalten. Wer im Garten Äpfel oder Birnen pflückte, hatte auf die Leiter zu achten. Entweder man stand selbst drauf oder man stellte die Leiter in den Schuppen. Sie durfte jedenfalls nicht frei im Hof rumstehen. Sie könnte sich ja einer schnappen und damit über den Zaun flüchten. Nur eine Straße führte nach Großensee hinein, dieselbe hinaus, der Rest ringsherum war Grenze, Hunde-Laufleine, Zaun. Wir Kinder kannten hier jeden Grashalm und jeden Grenzzaun. Stöcke haben wir in den Signalzaun geworfen, sind in Deckung gegangen und haben gewartet, bis die Streife kam. Da gab's lange Gesichter, Flüche. Entdeckt haben die uns nie." Sie kichert immer noch, als sie mit ihrem Hund weitergeht - Richtung Kleinensee.


Das Wetter ist mittlerweile etwas unfreundlich geworden. Es ist recht windig, Tropfen fallen. Gegen eine Rast in einer warmen Gaststätte hätte ich jetzt nichts einzuwenden, kann aber zu meinem Leidwesen keine finden, die geöffnet hat. Was sich als Notlösung anbietet, ist eine offen gelassene Garage. Einige Haken an der Wand, um Tagesrucksack und Kameratasche aufzuhängen, eine alte Holzkiste als Tisch und ein abgefahrener Autoreifen als Sitz - Wandererherz, was willst du mehr? Der Garagenbesitzer muss mich aus seinem Haus gegenüber beobachtet haben und steht zwei Minuten später ebenfalls in der Garage. Hat er Angst, dass ich ihm seine Reifen klaue? Als er mich aber friedlich mein Brot kauen sieht, verschwindet schnell die anfängliche Skepsis in seinen Augen. Nach den ersten Fragen und Antworten zum Woher und Wohin, stellt er mit einem Lachen fest: "Nun sind Sie ja im Herzbubenland angekommen!" Er trällert seine Worte fast. Ich verstehe trotzdem nicht gleich, was er meint. Dann zeigt er auf ein kleines Plakat über seiner Werkbank: zwei korpulente Herren in knallroten Wämsen, die Wildecker Herzbuben. "Unser nächster Nachbarort auf hessischer Seite, Obersuhl, ist nämlich ein Ortsteil von Wildeck. Und Wilfried, der Kleinere mit dem buschigen Vollbart, ist in Obersuhl geboren." Was man auf solch einer Wanderung nicht alles erfährt.


Ich marschiere auf der Straße aus Großensee hinaus, die seinerzeit als zaunbewehrter Korridor in den Ort hineinführte. Immer noch fallen einzelne Tropfen, aber gemessen an dem, wie schwarz der Himmel in einigen Bereichen aussieht, kann ich von Glück sagen, dass ich sogar ohne Schirmeinsatz auskomme. Über mir auf einmal ein deutliches Flügelschlagen. Ich schaue hoch und sehe vier große Schwäne im Formationsflug. Sie ziehen eine leichte Kurve und verschwinden hinter einem kleinen Wald. Ich vermute, sie sind im Rhäden gelandet.


Der Rhäden ist ein über 200 ha großes Niederungsgebiet in einer durch Salzauslagerungsprozesse und tektonische Vorgänge entstandenen Senke. Einst war es eine der größten Sumpflandschaften im hessisch-thüringischen Grenzland. Ab 1859 wurde er trockengelegt und lange Jahre als Grün- und Ackerland genutzt. Dann wurde der Rhäden Brachland. 1970 erkennt die Vogelschutzgruppe aus dem hessischen Obersuhl die Chance für eine Wiedergutmachung in Sachen Natur. Das Werratal bei Obersuhl liegt im Bereich einer Vogelzuglinie. Mit der Wiederherstellung von flachen Seen und schlammigen Ufern würde man Rastplätze für durchziehende Vögel schaffen. Zwar verhindern die Grenzanlagen der DDR eine umfassende Wiederherstellung der Sumpfseen. Dafür garantiert die Grenznähe jedoch Ruhe und Abgeschiedenheit. Die Vogelschützer greifen zur Tat, schieben mit maschineller Unterstützung flache Mulden aus, schütten Entwässerungsgräben zu und nach und nach staut sich Wasser auf. In Folge stellen sich durchziehende Watvögel in Scharen ein. Bis 1990 verliefen Stahlgitterzaun und Kolonnenweg mitten durch den Rhäden und es dauerte einige Zeit, bis auch das Gebiet des ehemaligen Rhäden "auf der anderen Seite" in dieses Naturschutzkonzept einbezogen werden konnte. 


Der Mensch wird von dem hochgeschützten Bereich weitgehend ferngehalten. Vom Wasser sehe ich zunächst so gut wie nichts. Auch von den Vögeln nicht. Ich höre sie nur. Zwischen dem Weg, auf dem ich entlanggehe und der Uferzone ist ein hoher Damm aufgeschüttet, möglicherweise zur Abschirmung von Mensch und Tier. Erst ein auftauchender Beobachtungsturm verspricht einen Blick auf die geschützte Vogelwelt. Und in der Tat bin ich beeindruckt. Kleinere und größere Wasserflächen mit Inseln und Schilf- und Schlammzonen am Rand oder mittendrin, kreisende, schwimmende oder staksende Vögel der unterschiedlichsten Art, Graureiher, Haubentaucher, Enten, Blesshühner, Schwäne, Möwen, eine Kormorankolonie kann ich mit dem bereitstehenden Fernrohr ausmachen. Doch viel mehr Arten sind da unten aktiv, ich kann sie nur nicht, dank meiner mangelhaften ornithologischen Fähigkeiten, genauer benennen. Nach einer Viertelstunde erst verlasse ich leise den hölzernen Beobachtungsstand, um nur ja nicht die gefiederte Mannigfaltigkeit in ihrem Paradies zu stören.


Kurz hinter dem Rhäden durchquere ich bald das Städtchen Obersuhl, kann aber beim besten Willen keine Zeugnisse zur aktuellen Existenz der Wildecker Herzbuben mehr entdecken. Sind die denn überhaupt noch in den Charts? Langsam schließt sich nun der Kreis meiner heutigen Rundwanderung und bald schon sehe ich die Störche auf dem Schornstein von Berkas ehemaliger Molkerei. 


Herr Stoll, der Betreiber des Kanu-Camps, und seine Frau betreiben gerade Rabattenpflege um die kleinen Hütten der Anlage herum. Er schaut kurz hoch und ruft mir zu: "Sagen Sie mal, soll ich Ihnen nicht einen kleinen Wärmewellenofen vorbeibringen. Die Nächte sind doch noch recht kalt." Na das ist doch mal ein Angebot, Herr Stoll!


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Grenze mitten durchs Haus

Vacha - Berka (20 km)


Beim Aufstehen hängen draußen schwere, dunkle Wolken über Vacha. Es regnet zwar noch nicht, wird sich aber nur noch um Minuten handeln. Aber ich bin optimistisch. Laut Vorhersage soll nur wenig runterkommen und bald auch wieder aufklaren. Beim Frühstück regnet es dann doch etwas, aber ich ignoriere diesen Umstand einfach. Mein Wirt bedauert mich: "Haben Sie gerade im Radio gehört? Ganz schlechtes Wetter werden Sie haben, tagelang nur Regen!" Ich habe den Radio-Wetterbericht in der Tat auch gehört, aber auch dessen zweiten Teil. Der besagte nämlich, dass es dieses angesprochene Sauwetter nur südlich einer Linie München - Bayerischer Wald geben soll, und das trifft für diese Gegend nun gar nicht zu.


In einem hat der Wirt allerdings recht. Gestern war ich die ganze Zeit der Meinung, ich gehe in Sichtweite zum "Monte Kali". Ein Irrtum! "Den Monte Kali sehen Sie heute erst, wenn Sie auf Heringen und Berka zulaufen. Gestern, das war die Halde Oberbreizbach. Mein Bruder arbeitet dort im Kali-Bergwerk. Auf 900 m Tiefe sind sie dort inzwischen angekommen. Richtige Straßen gibt es dort unten, wo Fahrzeuge fahren oder Arbeiter mit Fahrrädern. Die Dimensionen kann man sich hier oben kaum vorstellen, das muss man mal gesehen haben. Nur ungefährlich ist die Arbeit da unten auch nicht. Anfang Oktober 2013 gab es im Berg eine Explosion, die drei Bergleute in den Tod riss. Das Bergwerk in Merkers, nur ein paar Kilometer von hier entfernt, hat man nach der Wende stillgelegt. Verdrängungswettbewerb! Jetzt ist es ein Besucherbergwerk. Heiraten kann man da unten, Konzerte werden veranstaltet. Gestern Abend hat da in 500 m Tiefe die alte DDR-Kult-Rockband Karat gespielt, vor über 5.000 Zuschauern. Nicht in einem Stadion oder einer großen Veranstaltungshalle ... in einem Bergwerk. Tradition haben inzwischen sogar Marathonläufe, die da stattfinden." Ich bin beeindruckt.


Als ich die Unterkunft verlasse, hat der Regen aufgehört. Im Westen klart der Himmel schon auf. Ich bin sicher, gleich scheint wieder die Sonne. Nach wenigen Minuten stehe ich auf Vachas Marktplatz. Hier merke ich, auch Vacha ist ein ruhiges kleines Städtchen, gut zu vergleichen mit Geisa gestern. Im Gegensatz zu Geisa stehen auf Vachas Marktplatz aber noch viele Fachwerkhäuser, das Rathaus ist davon ein besonders schönes Exemplar. Viele sind renoviert, einige Gebäude harren immer noch der Sanierung. Es gibt ein paar geöffnete Geschäfte mehr, aber ein Shopping-Rummel findet auch hier mit Sicherheit nicht statt. 


Ich komme runter zur Werrabrücke. Anfang Juni 1962 entstand hier die erste Mauer an der innerdeutschen Grenze. Um freies Sichtfeld zu schaffen, hatten die Grenzsoldaten zuvor alle Bäume im Umfeld der Brücke gefällt und die Gärten am Werraufer geräumt. Auf der westlichen Brüstung der Brücke montierte man den Metallgitterzaun und auf der Fahrbahn einen Beobachtungsturm aus Beton. Um auch die Möglichkeit zu vereiteln, über die Werra und unter der Brücke durch zu fliehen, wurden die Brückenbögen mit starken Eisengittern versehen.


Jetzt gehe ich in aller Ruhe über diese Brücke hinweg. Autos können mich nicht stören, sie ist jetzt eine reine Fußgänger- und Radfahrerbrücke und heißt "Brücke der Einheit". Dort, wo die Brücke das andere Ufer erreicht, steht die ehemalige Hoßfeld'sche Druckerei. Sie war auch ein "Haus auf der Grenze", die Grenze ging genau durch dieses Gebäude. 11/12 des Hauses liegen im "Westen", 1/12 befindet sich im "Osten". 1890 wurde das Haus unmittelbar an der Landesgrenze zum Königreich Preußen und dem Großherzogtum Sachsen-Weimar von einem Adam Hoßfeld errichtet. Er war Drucker, und seine Druckerei versorgte von 1893 bis 1941 den benachbarten Thüringer Raum mit der "Rhönzeitung". Aus steuerlichen Gründen wurde das Anwesen 1928 um einen Ausbau über die hessische Landesgrenze hinaus nach Thüringen erweitert. Auch die Haustür öffnete man nach Osten. Ab diesem Zeitpunkt gehörte das Gebäude politisch zu Vacha - und damit zu Thüringen. Um bei der Aufteilung Deutschlands dem Zugriff der Sowjets zuvorzukommen, entschlossen sich die Hoßfelds, den östlichen Gebäudeteil vom westlichen zu trennen, und mauerten den Durchgang zwischen den Gebäudeteilen in der Silvesternacht 1951/1952 einfach zu und brachen eine neue Tür in Richtung "Westen". Nun wies der Ein- und Ausgang wieder nach Philippsthal in Hessen, und damit unterstanden die Hoßfelds den amerikanischen Truppen. Der östliche Gebäudeteil wurde daraufhin enteignet und durfte nicht mehr benutzt werden. Heute noch zeichnet auf der Straße eine weiße Linie den Mauerverlauf nach, wie er auf das Haus der Hoßfeld 'schen Druckerei zulief.


Bis nach Philippsthal muss ich die Werra hinabgehen, um erst dort einen Weg zu finden, der mich die Höhe hinaufbringt. Ja, ich muss mal wieder steigen, einen zweiten Tag Flachetappe kann es ja nicht geben. Erst durch Wohngebiet, dann entlang einer Birkenallee erreiche einen großen Wald, der mich wieder unmittelbar an die Grenze bringt. Jeden Moment erwarte ich meinen Freund, den Kolonnenweg, doch er taucht nicht auf. "Werra-Burgen-Weg" heißt der schöne breite Waldweg, der mich entlang vieler alter Grenzsteine dahintraben lässt. "KP" lese ich immer auf den Steinen, "Königreich Preußen". Moment mal, ich bin im "Königreich Preußen"? Na klar, ich bin hier ja noch auf der hessischen Seite, rechts von mir ist Thüringen. Bei genauem Hinsehen wird es auch klar: Links ein dichter Hochwald, rechts junges Birken- und Kieferngehölz, das Grüne Band, der ehemalige Todesstreifen. Bei der andauernden Grenzhüpferei werde ich noch ganz kirre. Da kann man nur sagen: Wer (Karten) lesen kann, ist klar im Vorteil! Der Kolonnenweg ist auf der anderen Seite des überwachsenen Grenzstreifens, hier kann ich lange auf die Lochplatten warten. Umso besser! Umso zügiger komme ich voran.


Nach einigen Kilometern als Waldläufer, geht es, wenn man seine Unterkunft am Werraufer hat, auch  wieder abwärts. Ich erreiche den Waldrand - und schnappe erstmal wieder nach Luft. Wieder ist die Aussicht umwerfend: weit hinten am Horizont das Werrabergland, davor die Schwemmlandebene der Werra bei Dankmarshausen/Gerstungen/Obersuhl/Berka und links von mir Heringen mit seinem Kalibergwerk und die riesige Kalihalde Monte Kali. Weiß, mit ein paar grauen Schlieren und extrem steilen Flanken. Ein Berg aus purem Steinsalz, so viel Salz, dass man über Jahrhunderte hinweg alle Küchen Deutschlands damit versorgen könnte. Die Kaliwerke sind seit gut 100 Jahren die größten Arbeitgeber in der Region. Ob im hessischen Obersuhl oder im thüringischen Dankmarshausen, hier lebt man nach wie vor von der Kaliförderung, wenn auch die Zahl der Kumpel inzwischen rückläufig ist.


Schnurgeradeaus zieht sich der Wirtschaftsweg nun an blühenden Ginsterbüschen vorbei ins Werratal hinab. Der Himmel ist mittlerweile wieder tiefblau mit vielen kleinen Schäfchenwolken und es ist eine Lust zu gehen. Nach alter Tippelbrudermanier marschiere ich die Landstraße zwischen Heringen und Dippach entlang, überquere dabei mal wieder die Grenze und komme vom Landkreis Hersfeld-Rotenburg (Hessen) in den Wartburgkreis (Thüringen). Noch zwei weitere Kilometer und ich bin in Berka.


Hier wartet eine besondere Unterkunft auf mich. Ich schlafe in einem kleinen Holzhüttchen auf einem Kanu- und Freizeitcamp-Gelände unmittelbar am Werraufer. Fünf dieser kleinen Hütten stehen im Camp, Kanus warten auf Interessenten, ein großer Grillplatz, ein Volleyballplatz, ein Gemeinschaftszelt - und ich habe alles für mich alleine. Kein anderer Gast weit und breit. "Am Wochenende ist immer alles voll", versichert mir der Camp-Besitzer. "Unter der Woche könnte es besser sein. Aber es kommen schon Wanderer oder Radfahrer für eine Übernachtung oder ganze Schulklassen. Seien Sie froh, dass Sie es heute ruhig haben."


Auch mal schön! Ich lege mich ins Gras ans Werraufer, setze mich vor meine Hütte und lese oder lege mich auf die Entspannungsliege und döse in den Nachmittag. Und das Beste ist: Morgen mach ich das nochmal. Ich habe nämlich für zwei Nächte gebucht!


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Geisa-ha! - Kali-puh!

Geisa - Vacha (20 km)


Von meiner Geisaer Wirtsfrau erfahre ich beim Frühstück etwas für mich Erstaunliches. Geisa ist eigentlich die Karnevalshochburg Deutschlands, noch vor Köln, Düsseldorf und Mainz. Meint sie. "Das ist ganz einmalig hier bei uns. Wir leben das ganze Jahr auf unsere sieben, acht Veranstaltungen hin. Der Karnevalsclub ist eine verschworene Gemeinschaft, die das ganze Dorf umfasst, ja, Dorf, auch wenn wir eigentlich Stadt sind. Aber alle kennen sich. Wochen vor Karneval werden die Kostüme ausgeheckt, dann wird Wochen genäht, gewerkelt und gebastelt. Dann gibt's eine Prämierung und am nächsten Tag geht's auf die Straße. Und alle laufen mit, so dass gar keiner mehr am Straßenrand stehen würde, wenn nicht so viele Auswärtige kämen, die sich das ansehen wollen. Es ist das Größte, es bedeutet Freude, Freunde und Zusammenhalt. Das hat auch die DDR nicht verhindern können. Klar, die Büttenreden wurden zensiert, aber wissen Sie was: Sie waren oft besser als heute! Man musste außenrum reden, man hatte anzudeuten, und das einzelne Wort zu schmecken, das war schön." Glaub ich ja alles, Frau Wirtin, aber jecker als in Köln? Ok, anders vielleicht! "Unser Schlachtruf heißt: 'Der alte Narrenschlachtruf tönt, dass weit ins Rhönerland es dröhnt, Geisa - ha!' Was sagen Sie jetzt?" Ich halte dagegen: "Dreimol Kölle alaaf ... alaaf ... alaaf!" Irgendwie prägnanter.


Von meiner Unterkunft aus steige ich über eine schmale Treppengasse zur "Stadt" hinauf. Um es mit einem Superlativ auszudrücken: zur westlichsten Stadt der DDR oder zur westlichsten Stadt des ehemaligen Warschauer Pakts. Kann sich doch sehen lassen. Über einen weiteren Treppenaufgang komme ich zum Schlossplatz, dann zum Marktplatz. Die Häuser hier im Ortskern sind hellgrün und rosa und altrosa und hellblau und ockergelb gestrichen oder könnten mal einen Anstrich vertragen. Fachwerkzeilen sehe ich so gut wie nicht, stattdessen Bürgerhäuser aus dem 19. Jahrhundert. Bei zwei Großbränden 1858 und 1883 ist die ganze Innenstadt abgebrannt, nur die Stadtpfarrkirche mit ihrem Fachwerkturm blieb verschont. Beim Wiederaufbau hat man sich auf steinerne Häuser verständigt. Nach diesen Erfahrungen auch irgendwie sinnvoll.


Auf dem Marktplatz sehe ich außer der Sparkasse ganze drei Geschäfte, die geöffnet haben. Bei anderen sind die Schaufensterscheiben mit Papier oder Gardinen verhängt. Beim Bäcker hole ich mir ein Puddingteilchen (seltsame Anwandlung eine halbe Stunde nach dem Frühstück) und frage, warum die Innenstadt an einem Montagmorgen und nach einem langen Wochenende wie ausgestorben ist. "So tot ist es schon lange hier", erklärt die Verkäuferin, "außer samstagsmorgens, dann ist Markt. Die Leute kaufen nur noch im Supermarkt am Stadtrand ein, weil alles ein paar Cent billiger ist. Die meisten Einzelhändler im Zentrum mussten aufgeben."


An der Kulturhalle vorbei verlasse ich das Zentrum und folge der Straße Richtung Borsch - am Supermarkt vorbei. Ich schenke mir den erneuten Aufstieg zum Point Alpha, ich schenke mir einen weiteren Tag Kolonnenweg, sondern gönne mir eine Talwanderung entlang der Ulster, die bei meinem Tagesziel Vacha in die Werra mündet. Warum Berge erklimmen, schwitzen und tunlichst Plattenlöcher vermeiden, wenn es auf netten Radwegen auch durch schöne Talauen gehen kann. Und die Strecke so ganz nebenbei auch noch um einige Kilometer kürzer ist. 


Hinter Borsch kommt bald schon Buttlar. An einigen Häusern bemerke ich kleine Blechschilder mit der Aufschrift "Via Regia". Ich befinde mich hier also auf der ehemals so wichtigen Boten- und Handelsstraße von Frankfurt nach Leipzig, und in dem Gasthof "Zum schwarzen Adler", an dem ich vorbeikomme, war eine Posthalterei untergebracht, die dem Adelsgeschlecht von Thurn und Taxis gehörte. Aber damit nicht genug. Napoleon Bonaparte, der Kaiser der Franzosen, nächtigte hier im Zimmer mit der Nummer 1. Er war im Herbst 1813 auf dem Rückzug von der für ihn verlorengegangenen großen Völkerschlacht bei Leipzig und muss wohl sehr gefrustet gewesen sein, denn am nächsten Tag ließ er Buttlar von seiner Armee plündern und in Brand stecken, um Verfolgern den Weg zu versperren. Geheimrat von Goethe wird noch Spuren davon gesehen haben, als er im Jahr darauf ebenfalls in der Posthalterei bewirtet worden sein soll. Zur Krönung hätte ich jetzt eigentlich auch noch hier einkehren sollen, aber ich gehe an ihr vorbei auf Wenigentaft zu.


Im Ulstertal steht das Getreide mittlerweile so hoch, dass es im Wind hin- und herwogt. Auf dem Weg zwischen den Feldern hindurch bemerke ich irgendwann, dass dieser über einen Damm verläuft. Ich vermute, über einen Bahndamm. Der Radweg, auf dem ich unterwegs bin, verläuft also anscheinend mal wieder auf einer alten Bahntrasse. Als ich nach Wenigentaft komme, bestätigt sich dies. Ich lege dort eine Rast ein, und die nette Sitzgruppe, bei der ich mich niederlasse, und der gegenüberliegende Kinderspielplatz stehen dort, wo einst viele Gleise lagen. Das Gebäude hinter dem Spielplatz ist offensichtlich der alte Bahnhof, ein Musterbeispiel seiner Zeit, der einem Eisenbahnerbaukasten Modell gestanden haben könnte. 


Bis Anfang der 50er-Jahre herrschte hier reges Treiben. Wenigentaft war Kreuzungsbahnhof, so erzählt es mir eine Tafel wenige Meter von meiner Bank entfernt. Über Geisa kamen die Züge aus der Rhön, nach Vacha bestand Anschluss an die Werrabahn. Vom Westen her liefen die Züge aus dem hessischen Hünfeld ein und über die Oechsenbahn, deren Trasse ich noch vor wenigen Minuten begangen habe, rollten über Buttlar Güterzüge heran, die vor allem Basalt transportierten. 1952 wurden nicht nur die Verbindungen nach Hessen gekappt, auch der Betrieb auf den thüringischen Strecken wurde eingestellt. Der Bahnhof geriet in Vergessenheit und Wenigentaft ins Abseits. Da der Ort unmittelbar an der Staatsgrenze West lag, wurde er der "Schutzgebietsverordnung" unterworfen, das hieß: nächtliche Ausgangssperre, zu beantragende Passierscheine für Besucher, in den 80er-Jahren dann die Umklammerung durch Streckmetallgitterzäune auf drei Dorfseiten. Heute dienen die Streckmetallplatten in Wenigentaft nur noch dazu, die Hühnervölker vom Nachbargrundstück fernzuhalten. 


Die Rangiergleise des Wenigentafter Bahnhofs reichten seinerzeit bis in den "Ulstersack" hinein, den ich jetzt betrete. Der Ulstersack ist praktisch eine "Enklave" Hessens im sonst thüringischen Ulstertal, die nur über einen Weg durch einen schmalen Einlass zu erreichen war. Bis 1952 fuhren Arbeiterzüge aus dem Amt Geisa zu den Kaliwerken im Werratal. Doch nachdem die DDR ihre Maßnahmen zur Sicherung ihrer Grenzen beschlossen hatte, wurde die Schienenverbindung zwischen Wenigentaft und dem nächsten Ort Pferdsdorf unterbrochen. Im Ulstersack wurde es ruhig. Nur ab und zu fuhren Bauern aus dem hessischen Dorf Mansbach die Wiesen düngen und Heu machen. Die Schienen sind längst abgebaut und verschrottet und die Trasse ist Bestandteil des Grünen Bandes.


Durch diese Einstülpung des hessischen Ulstersackes nach Thüringen hinein, die den Grenzverlauf einmal mehr zu einem Extrem-Mäander nötigt und mich völlig durcheinanderbringt (Wo war jetzt gleich hüben, wo war drüben?), überquere ich also innerhalb kurzer Zeit zwei Mal die Grenze. Was mir auffällt: Auf thüringischem Gebiet war der Radweg, gleichbedeutend mit der alten Ulsterbahntrasse, asphaltiert, im Ulstersack liegt Schotter, danach in Thüringen wieder Asphalt. Was ich damit nur sagen will: Die Radwege in Thüringen sind vom Feinsten, ebenfalls die meisten Straßen, bis in die entlegensten Dörfer hinein. Danke, lieber Soli!


Plötzlich ganz nah: ein weißer Berg. Vorgestern habe ich ihn schon von Weitem gesehen, jetzt lugt dieses erste Kali-Abraummonstrum über die gegenüberliegenden Baumreihen. Der "Monte Kali" von Unterbreizbach. Unter mir fahren jetzt riesige Maschinen im Berg herum und kratzen gigantische Löcher. Wenn schon der Abfall des herausgeholten Zeugs ganze Berge hergibt... Große Kunst-Berge. Viel größer als alle alten Original-Berge drumrum. Hier wird Landschaft verschoben, werden Straßen verlegt, Felder verlagert, Berge versetzt. Die Vorstellung, dass tief unter mir auf einer Fläche, die ungefähr so großsein soll wie München, die Erde ausgehöhlt ist, finde ich nicht gerade beruhigend. Wenn sich jetzt die Erde vor mir auftäte und mich verschlänge? Ich dürfte mich nicht wundern. Seit den 70er-Jahren wird der Berg aufgeschüttet. Wie ein riesiger Strom fließt der Abraum ohne Unterbrechung über die Förderbänder, sodass die Halde täglich um rund 16.000 Tonnen wächst. Salzhaltige Luft soll ja gesund sein. Ich finde aber den Geruch, den die Abraumhalde bis in die Entfernung verströmt, nicht gerade prickelnd. Wie am Meer riecht es jedenfalls nicht. Eher nach den weißen Toilettensteinen, wie in den Pissoirs von Kneipen und Bahnhöfen.


Immer den "weißen Berg Thüringens" an meiner linken Seite nehme ich hinter Unterbreizbach den ersten und letzten Anstieg für heute. Über den mit Windkrafträdern bestandenen Lohberg, der mir etwa 50 Höhenmeter zur Auflage macht, kürze ich einen Bogen des Grünen Bandes ab und sehe bald unten im Werratal Vacha vor mir liegen. Die Werra war Teil der befestigten Grenze. Jenseits lag die Freiheit in Gestalt des Städtchens Philippsthal. 


Eine Parallele zu Geisa: Mein Handy-Navi bietet mir den kürzesten Weg zu meiner Unterkunft in Vacha an - und der führt nicht durch das Zentrum. Mir eigentlich auch ganz lieb. Morgen früh bin ich für einen Stadtbummel auch eher aufnahmebereit, jetzt will ich die Beine hochlegen.


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Point Alpha und ein Monster

Reinhards - Geisa (18 km)


Vor dem Frühstück gratuliere ich ganz artig der Oma zu ihrem Geburtstag und frühstücke dann gemeinsam mit der Großfamilie Wassermann am runden Tisch im Wohnzimmer. Anschließend mache ich mich schnell vom Acker, denn einige Vorbereitungen zur großen Feier sind noch zu tun, auf dass das Haus voll werde. Bauer Wassermann begleitet mich noch aus dem Hof heraus und schwenkt zum Abschied seinen alten, zerknautschten Strohhut. Es war ein sehr schöner, familiärer Aufenthalt. Es gibt so Adressen, da sagt man sich immer: "Hier solltest du nochmal hin!" Es wird natürlich nie was daraus. Aber die Erinnerung bleibt.


Nachdem es schon in Reinhards nicht gerade hektisch, laut und betriebsam war, wird es jetzt "auf der Platte" wieder sehr ruhig. Entlang einer Schneise windet sich das Grüne Band durch einen Wald, dessen segensreicher Schatten die Anstiege erträglich macht. Wo Schatten, da auch Sonne, und tatsächlich scheint sie mal wieder von einem azurblauen Firmament. Damit habe ich heute Morgen gar nicht mal unbedingt gerechnet, denn gestern Nachmittag zog es zu, die Temperaturen sanken zügig ab, der Wind wurde stärker und sogar einige Tropfen fielen. Ich war also witterungsmäßig heute auf einen weniger schönen Tag eingestellt. Aber nix da - Sonne pur! 


Kilometerlang ziehe ich so dahin, rauf, runter, links rum, rechts rum, links der alte Kfz-Sperrgraben, Büsche, junge Birken, manchmal Wiesen, rechts Hochwald. Ein Hase hoppelt mal vor mir her, Bussarde starten flügelschlagend von den hohen Bäumen zu ihren Beutezügen, Eichelhäher krakelen rum und warnen vor dem menschlichen Eindringling und je mehr ich schwitze desto mehr werde ich von z.T. nervigen Insekten umschwirrt. Ich schalte irgendwann ein wenig auf Autopilot, denke ein wenig, weiß aber nicht was und komme so ganz gut voran. 


Auf einer mühsam erkämpften Kuppe dann ein plötzliches Verharren. In weiter Ferne vor mir ein riesiger Fremdkörper in der Landschaft. Ein Berg, ohne jeden Bewuchs, in der Spitze abgeflacht, weiß. Meine erste Kalihalde, es müsste die von Unterbreizbach sein, kurz vor Vacha. Morgen werde ich zu ihren Füßen marschieren und mich von ihr beeindrucken lassen, doch jetzt erstmal weiter auf Geisa zu, meinem heutigen Ziel.


Ich komme aus dem Wald heraus, die Sonne bekommt mich wieder richtig in den Griff und bald tauchen die ersten Dächer von Setzelbach auf, einem kleinen Dorf unmittelbar jenseits des Grenzstreifens auf hessischem Grund. Am Ortsrand dann eine Bank - Pause. Mir gegenüber steht ein Toilettenwagen, dreißig Meter entfernt ein Bierpavillon, Sonnenschirme, Bierzeltgarnituren, Zeugen einer feuchtfröhlichen Veranstaltung am gestrigen Abend. Jetzt ist das Aufräumkommando dort tätig, bereitet alles vor für den Frühschoppen, der gleich beginnt. Der Grill ist schon wieder in Aktion, was ich an der vorbeiziehenden Mischung aus Bratwurst- und Fettdüften erkennen kann, und drei Kampftrinker widmen sich schon wieder (oder immer noch?) ihrem hefehaltigen Lieblingsgetränk. Der Mann im Pavillon, der gerade mehr mit Gläserspülen und Thekewischen beschäftigt ist, nimmt mich wahr, hebt ein leeres Glas, zeigt mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf das Glas und nickt fragend mit dem Kopf, was wohl so viel heißen soll wie: "Lecker Bierchen gefällig?" Ich schüttle erschrocken den Kopf, wehre mit beiden Händen ab, was er mit einem bedauernden Schulterzucken quittiert. 


Zumindest ein Mal geriet Setzelbach in Panik. Während der Bauarbeiten an den Grenzbefestigungen im Jahre 1962 kam es hier zu einem spektakulären Ereignis. Am 9. August fuhr ein Artillerieschlepper, der Betonpfähle für den Zaunbau transportierte, mit hohem Tempo von jenseits der Grenze auf das benachbarte Setzelbach zu. Das Kettenfahrzeug ratterte über die Grenze und blieb dann vor dem ersten Haus stehen. Amerikaner und BGS-Beamte, die den Zaunbau beobachteten, hatten ihre Waffen im Anschlag. Es fiel jedoch kein Schuss. Die Tür des Fahrzeugs öffnete sich und ein NVA-Pionier lief mit erhobenen Händen auf die Amerikaner zu. Die GIs waren zunächst misstrauisch, doch bald wurde auch ihnen klar, dass es sich hier um eine Flucht handelte.


Als ich mich wieder aufrappel, kommt nochmal ein Ruf vom Pavillon: "Nicht doch ein Bierchen?" Ich lache nur, nehme das eher als rhetorische Frage, winke dem Aufräum- und Putzkommando zu und wünsche ihnen noch "Gute Einnahmen heute!" - "Hättest ja schonmal den Startschuss dazu geben können!", tönt es mit einem fetten Lachen zurück. 


Nur einen Kilometer weiter erreiche ich die Stelle, wo nur fünf Tage nach dem vorhin beschriebenen Zwischenfall es zu einem weiteren, noch dramatischeren kam. Die NVA-Pioniere waren mit ihren Arbeiten an der Grenzbefestigung weiter vorangeschritten. Bundesgrenzschützer beobachteten die Arbeiten. Ihnen gegenüber kauerten die Grenztruppen-Kommandos der DDR in ihren Deckungsmulden. Eine Gruppe von NVA-Offizieren saß an dem Abhang, der die Grenzlinie bildete und unterhielt sich. Als eine dreiköpfige Patrouille des BGS an der Gruppe vorbeischritt, sprang einer der DDR-Offiziere auf und rief dem BGS-Offizier etwas zu. Der wandte sich um und tippte sich angeblich an die Stirn. Dann fiel ein Schuss, die BGS-Beamten warfen sich auf den Boden. Ein zweiter Schuss, und der DDR-Offizier sank tödlich getroffen zu Boden. Die BGS-Beamten robbten zu ihrem PKW und brachten sich in Sicherheit. 


Was sich genau abspielte, wurde nie genau herausgefunden. Der BGS spricht von Feuereröffnung durch den DDR-Offizier, "Mord an Grenzoffizier" titelten die DDR-Zeitungen. Nach ihrer Ansicht hatten die BGS-Beamten eine Grenzprovokation begangen, d.h. die Grenzlinie überschritten, und Rudi Arnstadt, Hauptmann der NVA, war den Provokateuren mutig entgegengetreten. Arnstadt wurde zum Helden stilisiert, erhielt ein "Heldengrab". Schulen, Kulturhäuser und Straßen wurden nach ihm benannt, ein Gedenkstein steht immer noch bei Geisa. Es wird seit Jahrzehnten gepflegt, und ist wohl auch gelegentlich noch Treffpunkt "alter Kameraden" der Grenztruppe. Der BGS-Beamte Hans Plüschke gab später zu, den Schuss abgefeuert zu haben - aus Notwehr nach einem ersten Schuss durch einen DDR-Grenzer. Dies soll wiederum ein Warnschuss gewesen sein, so die DDR-Darstellung, weil die BGS-Beamten, sich auf DDR-Gebiet befindend, nicht auf den "Anruf" reagierten. Plüschke wurde von der DDR-Justiz in Abwesenheit zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt. Da Plüschke Racheversuche der DDR befürchtete, wurde seine Identität von den bundesdeutschen Behörden jahrelang geschützt. Seltsam dann sein Tod. Plüschke arbeitete nach seiner Dienstzeit in der Region als Taxifahrer und wurde 1998 nur etwa zehn Kilometer vom damaligen Ort des Geschehens erschossen aufgefunden. Raubmord schied aus, Plüschkes Geldbörse befand sich im Auto. Die Todesart war die gleiche wie bei Arnstadt: Einschuss über dem rechten Auge. Der Fall konnte bis heute nicht aufgeklärt werden.


Nach weiteren Kilometern teilweise schnurgeradem Kolonnenweg, kriegt dieser oberhalb Geisas auf einmal ein Dach über den Kopf. Führt jetzt ein paar Meter durch ein geheiztes Haus. Kostet aber Eintritt. Dafür kriegt man aber was geboten. Für einen Eintritt zwei Attraktionen: Einmal die DDR in diesem "Haus auf der Grenze", einmal die Amis im "Observation Point Alpha" etwa 700 m weiter. Dazwischen eine Art "Mustergrenze" im Freilaufgelände, mit den Variationen der Grenzbefestigungsanlagen durch vier Jahrzehnte DDR-Geschichte, samt Kunststoffhund.


Was es im "Haus auf der Grenze" gibt, habe ich so oder so ähnlich in den letzten Wochen schon gesehen, anders ist es beim Point Alpha. Hier standen sie sich Auge in Auge gegenüber, DDR-Grenzposten und Amerikaner, Warschauer Pakt und die NATO. Bereit für das letzte Zahn-um-Zahn-Gefecht. Hier würden die Russen durchbrechen, so war man sich sicher, hier im "Fulda Gap", durch die Lücke, die schon immer alle Mongolen und Kosaken benutzten, wie bei der Verfolgung von Napoleons Franzosen nach der Völkerschlacht bei Leipzig. Und in zwei Tagen wären sie dann in der Wirtschaftsmetropole Frankfurt.


Die Point-Alpha-Gedenkstätte wirbt damit, der "Hottest Spot" des Kalten Krieges gewesen zu sein. Die beiden Türme, die da als allervorgeschobenste Vorposten von Warschauer Pakt und NATO einander zugewandt stehen, machen da eher einen jämmerlichen Eindruck. Der Föhrenhain um ein "Star spangled Banner" ist allerdings ein uramerikanischer Ort. Mit Barbecue-Station, Basketballfeld (jetzt Selbstbedienungsimbiss-Terrasse), Wohnbaracken und Platz zum Hufeisenwerfen. Hier taten verwegene Regimenter Dienst, wie die "Black Horses", die vor Fulda in Vietnam und nach Fulda im Irak standen. Nach der Wende wurde Point Alpha geschlossen, geplündert, als Asylantenheim betrieben und erst 2008 zu der heutigen Mahn-, Gedenk- une Begegnungsstätte.


Puh, nach so viel Grenzgeschichte will ich jetzt ankommen. Von Point Alpha aus kann ich Geisa schon gut sehen, unten im Tal. Meist über einen Wiesenpfad verliere ich an Höhe und habe bald die ersten Häuser von Geisa erreicht. Bereits am Ortseingang ein mir willkommenes kleines Schild: "Geisschänke -Biergarten" (meine Unterkunft) und es weist nach rechts. Nach etwa 500 m ein nächstes Schild: "Geisschänke - Biergarten - 500 m". Hallo?! Ich trabe am Bächlein Geis entlang, der Ort liegt oben auf dem Berg. Endlich Zieleinlauf, ich stehe vor der Geisschänke. 


Beim Biergarten ein großes Schild: "Riesenwindbeutel nach Geisschänkenart - mit frischen Früchten, Eis und Sahne". Mir schießt Speichel in den Mund. Aber erstmal einchecken und Zimmer beziehen. Dort nur Schuhe aus, duschen ist vollkommen nebensächlich. Ich will jetzt und sofort einen Riesenwindbeutel. Zwei Minuten später sitze ich im Biergarten. Was dann nach einer Viertelstunde mir vorgesetzt wird - ist ein Monster! Ein Monster in Windbeutelgestalt! Fußballgröße! Das kann man nicht alleine essen! Ich fange aber mal an. Alles kommt zusammen: Mengen an frischem Obst drumherum und auch innendrin, zusammen mit drei dicken Kugeln Eis, Sahne über Sahne, geschmückt mit Eierlikör und Schokostreuseln. Ich kämpf mich durch. Als ich den Teller dann irgendwann so leer vor mir sehe, bin ich selbst erstaunt. Allerdings ist mir auch wohlig schlecht. In meinem Zimmer lege ich mich sofort aufs Bett und beginne mit der Verdauungsarbeit. Das Abendessen ist jedenfalls gestrichen!


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Farbiges Tann

Tann - Reinhards (15 km)


Frau Rommel, meine Pensionswirtin in Tann, erzählt mir beim Frühstück etwas, was ich noch nirgends während meiner Vorbereitung auf diese Wanderung gelesen habe. "Wissen Sie eigentlich, dass wir Tanner es nur der Liebe zu verdanken haben, dass wir damals nicht zur russischen Zone und später damit zur DDR gehörten?" Mein Blick fällt überrascht und wohl auch ein wenig skeptisch aus, deshalb schiebt Frau Rommel gleich hinterher: "Ja, Sie können mir ruhig glauben. Bei unserem Stadtjubiläum vor ein paar Jahren hat unser Bürgermeister das nochmal in seiner Rede erwähnt. Also: Tann befindet sich ja in einem regelrechten hessischen "Sack", der hier nach Thüringen hineinragt. Nachdem im Tausch gegen einen Teil Berlins (dem ehemaligen Westberlin) die bis hierher zu uns vorgerückten Amerikaner mit den Russen über diverse Gebietsaustausche verhandelten, stand auch Tann und sein näheres Umland zur Diskussion. Es war fast schon abgemachte Sache, dass Tann der sowjetischen Zone zugeschlagen wird. Aber ein hoher amerikanischer Offizier, der sich in ein Tanner Mädchen verliebt hatte, setzte aĺles daran, dass die kleine Stadt amerikanisch blieb und er damit auch weiterhin den Kontakt zu seiner Liebsten halten konnte. Die beiden haben dann auch geheiratet, und als die Dienstzeit von ihm hier vorbei war, ist sie ihm in die USA gefolgt. Sie war dann ab und zu nochmal hier zu Besuch, das letzte Mal im vorigen Jahr, als ihr Schwager beerdigt wurde." Eine rührende Grenzgeschichte, fast reif für ein Filmdrehbuch.


Als ich wenig später durch die Straßen Tanns streife, muss ich immer wieder an die Geschichte von Frau Rommel denken. Wie sähe es heute hier aus, wenn damals alles anders gekommen wäre? Wäre der Ort genauso schmuck, wie er sich mir heute zeigt? Was wäre z.B. aus dem Schloss der Freiherrn von der Tann geworden, vor dem ich jetzt stehe. Ständ es dann genauso in einer gewissen Pracht und Würde vor mir?


Die Geschichte des Schlosses geht auf Eberhard von der Tann zurück, der in Wittenberg studierte und dort Martin Luther kennenlernte. Die beiden freundeten sich an und Eberhard entwickelte sich zu einem entschiedenen Verfechter von Luthers Lehren. Beseelt von den Ideen führte Eberhard 1540 in der Stadt die Reformation ein, ein mutiges Werk in dem kreuzkatholischen Umland des heutigen Landkreises Fulda. Die Fuldaer versuchten natürlich, im Zuge der Gegenreformation die Schäflein wieder auf ihre Seite zu bringen, was auch teilweise gelang. Doch im Dreißigjährigen Krieg, als die Schweden durch die Rhön zogen, wurde Tann dann wieder evangelisch und blieb es bis auf den heutigen Tag. 


Die von der Tanns gibt es noch immer, und wohnen auch noch im Schloss. Nur in drei Linien haben sie sich verzweigt, in die gelbe, in die rote und in die blaue. Die Erklärung der Farbbezeichnung ist ganz einfach: Die von der Tanns waren so bedeutend, dass sich jeder Zweig der Familie ein eigenes Schloss leisten konnte, ein gelbes, ein rotes und ein blaues. Alle drei Schlösser sind in einem Geviert vereint. Das Rote und das Blaue Schloss sind Flügel des gelben Zentralbaus. Während beim Roten und Blauen Schloss nur die Fensterumrahmungen eine entsprechende Farbe haben, ist das Gelbe Schloss schließlich der Beherrscher des Platzes und erscheint vollständig in Gelb.


Als ich den Schlosshof durch einen großen Bogen betrete, steht ein älterer Herr dort und spricht mit zwei kleinen Jungen, die den Hof gerade mit ihren Fahrrädern unsicher machen. Als er mich sieht, streichelt er einem der Rangen über die Wange, grüßt mich freundlich und geht ins Haus, besser gesagt ins Rote Schloss. Die Kinder kommen auf mich zugeradelt und sagen mit einem entwaffnenden spitzbübischen Lächeln: "Zehn Cent Wegegeld bitte!" Ich gebe eine 50-Cent-Münze und mahne zum gerechten Teilen. "Kommt ihr aus der Stadt oder seid Ihr zu Besuch hier?" frage ich den ältesten von beiden. "Nee, wir haben ja ein paar Tage keine Schule und da sind wir hier bei meinem Opa zu Besuch, dem Freiherrn", antwortet er ganz ungezwungen. Aha, die Erbfolge der von der Tanns ist also gesichert.


Am Marktplatz mit seinen vielen netten Fachwerkhäusern und dem Rathaus vorbei gehe ich durchs alte Stadttor und dann neben der Stadtmauer her bis zur Brücke über die Ulster. Eine halbe Stunde geht es an ihrem Ufer entlang und dann wieder hinauf auf die Höhe. Eine Stunde Schwitzen und Schnaufen ist angesagt, jede Menge Kühe verfolgt grasend oder widerkeuend jeden meiner Schritte. Dann habe ich den Sattel zwischen dem Selesberg und dem Boxberg erreicht und setze mich auf eine wohlplatzierte Bank in die Sonne. Ich genieße den Blick über "das Land der weiten Fernen" und mir wird wiedermal bewusst, warum ich diese "Wanderei" eigentlich mache. 


Auch wenn es jetzt ein wenig pathetisch wird, versuche ich das mal zu beschreiben: Wandern - und besonders das "Fernwandern" und das "Pilgern" - bedeuten mir Zugang zur Natur als ganz besondere 'Nahrungsquelle'. Wandern ist mir gleichzeitig Erholung und gesunde Anstrengung, Grenzerfahrung, Stille und Rhythmus. Der innere Lärm verstummt, das komplexe Leben reduziert sich Schritt für Schritt auf ein einfaches Vorwärtsgehen auf einem Weg. Das Notwendige reduziert sich auf das Nötigste, wird auf dem Wheelie hinter mir hergezogen. Müdigkeit und Erschöpfung wechseln sich ab mit Leichtigkeit und Glücksgefühl. Sonne und Regen, Wind, Kälte und Hitze. Alte Wertungen verschwinden. Regen, Nebel, Feuchtigkeit enthüllen ihre Schönheiten. Meine Augen öffnen sich für Kleinigkeiten, nicht nur für die großen Horizonte, die farbigen Sonnenuntergänge und die prächtigen Aussichten, sondern auch für die unzähligen "unscheinbaren" Schönheiten am Weg.


Zehn Minuten nach dem Verlassen meiner Bank und einem weiteren kleinen Anstieg durch einen Wald sind die "prächtigen Aussichten" wieder da: Bergwiesen, kleine Dörfer, die Wasserkuppe, die Milseburg - herrlich! Ich gehe, wie schon gestern, auf dem Hochrhöner, und dieser hat die Qualifizierung zum Premiumweg wirklich verdient. Ab und zu treffe ich auf kleine Wandergruppen und komme mit ihnen ins Gespräch, wobei immer mein Wheelie der "Aufreißer" ist. Meist sind es Tageswanderer, die in der Umgebung ein festes Quartier haben und jeden Tag eine vorgeplante Schleife drehen. Keinem von ihnen ist bewusst, dass sie teilweise gleich mit dem Grünen Band gehen, die wenigsten wissen überhaupt, was das ist und dass sie sich hier unmittelbar an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze befinden. 


Allerdings ist der Hochrhöner auch ein Weichei. Nicht ein Mal lässt er in meinem heutigen Abschnitt seine Wanderer den Kolonnenweg begehen, nie Geschichte schmecken. Die wesentlich bequemeren Wege des bundesdeutschen Zolls oder des Bundesgrenzschutzes werden markiert und genutzt. Doch wenn sie zum großen Teil nur max. 50 m voneinander entfernt parallel durch Wald und Flur ziehen, so ist es schon eine weise Entscheidung, den Wanderer nicht über den Kolonnenweg stolpern zu lassen.


Heute ist es wieder nur eine kurze Etappe, am frühen Nachmittag ist der Reinhard schon in Reinhards. Einst das westlichste Dorf der DDR, mit knapp dreißig Einwohnern auch wohl eins der kleinsten. Hier lag nun wirklich der Hund begraben: auf drei Seiten vom Grenzzaun umgeben, die Sicht ins Hinterland von einem Berg versperrt. Mehr Abgeschiedenheit geht kaum.


Mein Quartier ist der Wassermannshof, ein Bauernhof im Nebenerwerb. Es ist ein stattlicher Dreiseithof mit Wohnhaus, Stallungen und dem "Auszugshaus", dem früheren Altenteil, wie mir Bauer Wassermann später erzählt. Im Auszugshaus ist eine Ferienwohnung untergebracht, in den Stallungen sind die Kühe, wenn sie nicht - wie jetzt - draußen auf den Weiden stehen, und im Wohnhaus leben vier Generationen: Bauer Wassermann mit seiner Frau, seine Mutter, Tochter und Enkelsohn Henry. An der Stallwand gurren einige Tauben in drei kleinen Taubenhäusern und eine Handvoll Katzen stromert über den Hof.


Ich habe kaum mein Zimmer bezogen und geduscht, kommt Herr Wassermann zu mir: "Willste was mitessen? Gibt nix Dolles, nur Nudeln mit Tomatensauce." Ich lehne natürlich nicht ab. Im Dorf gibt es keine Essensmöglichkeit, und wer weiß, wann ich wieder was bekomme. Die Nudeln sind von Oma selbst gemacht, die Sauce ist nicht einfach nur eine Tomatensauce, sondern köstlich mit Wursteinlage und Zwiebeln verfeinert. Natürlich essen wir nicht nur. Jeder möchte den anderen besser kennenlernen, man stellt Fragen, man bekommt Antworten. Unvermeidlich stelle ich dann auch Fragen zum Dorf, zu früher, zu jetzt. 


Die Nähe zur Grenze hat in Reinhards einen schweren Aderlass verursacht. Zur Zeit in den 50er-Jahren, als die Grenze noch offen war, flüchtete ein Teil der Einwohner in den nahen Landkreis Hünfeld nach Hessen. Drei der sechs großen Höfe wurden daraufhin niedergerissen. Lange gab es Gerüchte, dass das Dorf komplett dem Erdboden gleichgemacht wird und die Bewohner in einen bereits vorbereiteten Wohnblock nach Geisa verbracht werden. Lange Zeit saß man auf gepackten Koffern, bereit zur Flucht. Verwandte und Freunde im Westen waren verständigt und jederzeit aufnahmebereit. Glücklicherweise ist es nicht zur Auslöschung des Dorfes gekommen, keiner weiß genau, warum. Nach der Wende sind einige der geflohenen Einwohner bzw. deren Kinder und Enkel zurückgekehrt.


" Dieser Spurensicherungsstreifen, wo der Kolonnenweg unmittelbar neben herführte, maß etwa sechs bis zehn Meter in der Breite und war die nackte Erde", erzählt Herr Wassermann weiter. " Damit auch die kleinste Spur von einem Fluchtversuch zu erkennen war, musste das immer so sein. Entsprechend wurde der Boden oft planiert und geharkt. Nun blieb nur noch das Jäten, was selbst den Bonzen aber zu teuer war. Deshalb hat man einmal jährlich jede Menge Total-Pestizide und sogar Diesel ausgespritzt. Das stank nicht nur furchtbar, wir haben das auch am Wasser geschmeckt. Tja, und dann ..., beweisen können wir das ja nicht, aber ... Allein hier bei uns im Dorf hat es in einem engen Zeitraum sechs Fälle von Leukämie gegeben. Eines der Opfer war meine Schwester. Sie ist voriges Jahr daran gestorben. "


Oma hat morgen Geburtstag. Viele Leute aus dem Dorf und Verwandschaft von außerhalb werden kommen. Der Tisch unten in dem Zimmer, durch das ich gehen muss, um in mein Zimmer zu gelangen, ist bereits eingedeckt. "Viele von denen, die morgen kommen, hätten damals einen Besucherantrag stellen müssen, und genehmigt worden wäre vielleicht die Hälfte. Mensch, was waren das Verbrecher! Was haben die mit uns gemacht?!"


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Ausgesperrt

Birx - Tann (20 km)


Klopf, klopf ...! Klopf, klopf ...! - Hä? - Klopf, klopf ...! Ein Blick auf die Uhr: 1.45 Uhr. "Ja bitte?.." - "Kommen Sie bitte mal?" Ich frage mich, ob ich gemeint bin. "Bitte??" - "Kommen Sie mal bitte??!!" Ich rappel mich aus dem Bett und wanke schlaftrunken zur Tür. Davor steht der Mann aus dem Nachbarzimmer. "Ich komm nicht mehr in mein Zimmer! Ich war gerade zur Toilette und jetzt ist die Tür zu!" Fassungslos steht er da und rappelt an der Klinke. "Und da ist mein Hund drin!" Er sieht mich einigermaßen überrascht. "Auf der Toilette habe ich auch so ein 'Klick' von meiner Tür gehört. Was mach ich denn jetzt? Ich komm nicht mehr in mein Zimmer!" ????? Wie geht das bitte? Mann verlässt sein Zimmer, geht zur Toilette, kommt zurück, Tür zu, Hund drin. Einbrecher reingeschlüpft? "Glaub ich nicht, dann würde mein Murz (Ist das ein Hundename?) Randale machen." Ich schlage vor, erstmal ins Zimmer zu schauen. "Wie das denn?" Der Mann ist verwirrt. Toilette und Zimmer liegen ebenerdig nebeneinander. Ich hole meine Taschenlampe, klettere aus dem Toilettenfenster raus und schaue ins verschlossene Zimmer durchs Fenster rein. Der Hund liegt mit aufgestellten Ohren auf dem Fußboden, ein Einbrecher ist nicht drin, es sei denn, er ist unters Bett gekrochen. Und wird vom Hund bewacht, oder was? Das Fenster steht auf Kipp. Der Zimmernachbar, inzwischen auch aus dem Toilettenfenster geklettert, versucht mit Krakenarmen und natürlich vergebens das Fenster von Kipp auf Offen zu befördern. "Ich wecke jetzt Frau Hartmann", sagt er wildentschlossen. Ich vermute, beim Aufschließen hat der Gute den Schlüssel nicht ganz gedreht und dieser ist von selbst zurückgeschnackt. Ein saublöder Zufall, aber nur so kann es gewesen sein. Frau Hartmann kommt dazu, ist fassungslos. "Ja das ist ja noch nieeeee passiert! Was machen wir denn jetzt bloß?" Dietrich im Haus? Resignierendes Kopfschütteln. Einen festen Draht? Frau Hartmann geht auf die Suche. Das Festeste, was sie nach zehn Minuten anbieten kann, ist ein Stück dünnes Elektrokabel. Bringt natürlich nichts. Zimmernachbar drückt mit einem Schraubendreher den Schlüssel aus dem Schloss, dieser fällt ins Zimmer. Hund knurrt kurz. Was jetzt? "Ja ... weiß ich auch nicht. Andere Schlüssel probieren!" Ein passender Zweitschlüssel ist nicht aufzutreiben. Unter dem Türschlitz kommt man nicht durch, um eventuell den Schlüssel irgendwie rauszubugsieren. "Schlüsseldienst oder Schreiner im Dorf?" - "Schlüsseldienst nein, Schreiner ja, aber der liegt wohl besoffen vom Vatertagsausflug komatös im Bett." Na bravo! Mein Tipp: "Ich habe ja ein Doppelzimmer. Ein Bett ist also noch frei. Sie schlafen mit bei mir und morgen früh holt Frau Hartmann den Schreiner." So geschieht es. Endlich mal was los bei einer Übernachtung ...


Der Schreiner, von Frau Hartmann um sechs Uhr alarmiert, steht um 6.30 Uhr im Flur, um 6.32 Uhr ist das Schloss dank Dietrich geöffnet. Der Hund kommt schwanzwedelnd aus dem Zimmer und scheint gut ausgeschlafen zu sein. Allgemeines befreites Lachen und wir können gemeinsam zum Frühstück übergehen. Als der Schreiner das Haus verlässt, glaube ich bei ihm ein leichtes Grinsen und Kopfschütteln zu bemerken.


Frau Hartmann verabschiedet sich mit einem fetten Lachen von mir. "Sowas wie heute Nacht habe ich noch nicht erlebt, und Sie bestimmt doch auch nicht, oder?" Ich kann ihr das nur bestätigen und spanne mich wieder vor mein Wheelie. 


Wieder Sonne, wieder blauer Himmel, aber über die Bergwiesen der Rhönkuppen geht ein frischer Wind. Wieder Blicke zum blöde werden, auf der Landstraße von Birx nach Frankenheim ist kein Auto unterwegs, viele Menschen gönnen sich heute den Brückentag. Ich muss tatsächlich erstmal wieder nach Frankenheim zurück. Der Weg gestern nach Birx war eigentlich nur ein Ausflug in diesen besonders schönen thüringer Zipfel mit besonderer Grenzgeschichte, heute muss ich aus dem Zipfel wieder raus. Hinter Frankenheim geht es unkritisch weiter auf die Höhe. Ich überschreite die 800 Meter-Marke, folge dann dem Hochrhöner, dem wohl schönsten Premiumwanderweg der Rhön.


Links zweigt ein Weg zum Thüringer Rhönhaus ab. Es hat seine besondere Geschichte. Nachdem man in den 20er-Jahren an dieser Stelle zunächst eine Jugendherberge errichtet hatte, entstand dort 1930 ein Lager des Reichsarbeitsdienstes mit 14 Gebäuden und einem Appellplatz. Das deutsche Volk hatte damals angeblich nicht genug Raum und der Reichsarbeitsdienst suchte nach Betätigungsfeldern. Was lag da näher, als die Rhön "urbar" zu machen. Zwar hatten die Altvorderen die Wälder der Hochlagen schon vor Jahrhunderten gerodet und in Weideland umgewandelt, aber das Werk der Bauern konnte noch durch Entsteinung der Weiden gekrönt werden. Vor "nur" 25 Millionen Jahren wurde die Rhön durch regen Vulkanismus aufgewölbt. Vor Jahrtausenden griffen die Eiszeiten die Oberfläche der Rhön an: Basaltmassen wurden unter dem Spiel der Kräfte aufgebrochen und erschwerten in jüngerer Zeit auf den Wiesen den Bauern das Mähen. Mit Schaufeln, Kreuzhacken und Brechstangen gruben Freiwillige, die "am Spaten" ausgebildet waren, die Blöcke aus der Erde und transportierten sie mit Tragen und Schlitten ab. Ab 1935 wurde diese Arbeit von Dienstverpflichteten geleistet, in den vierziger Jahren kamen Kriegsgefangene hinzu. Die Steine wurden zu Findlingshaufen aufgetürmt oder in Reihen aufgeschichtet. Schon gestern sind mir diese Steinblöcke in Haufen oder Reihen im Bereich Frankenheim/Birx aufgefallen und ich wusste nicht, wie ich sie mir erklären sollte. Jetzt weiß ich es. 1945 lebten Flüchtlinge im Thüringer Rhönhaus, danach ein Förster. Zwischen 1947 und 1949 wurde eine Gastwirtschaft eingerichtet, in der für Ausflügler und Grenzer Bier ausgeschenkt und gekocht wurde. Später kam die Freie Deutsche Jugend (FDJ), die das Haus wieder als Jugendherberge nutzte. Doch bald wurde die Jugend vertrieben und die Grenzpolizei zog ein. Nach der Wende wurde das Haus wieder zum Gasthaus reaktiviert und renoviert.


Nach dem Abzweig stehe schneller als ich dachte auf dem Ellenbogen, mit 816 m Thüringens höchstem Rhönberg. Im Südwesten sehe ich die Wasserkuppe und die Milseburg, im Norden den Hohen Meißner, im Nordosten den Thüringer Wald mit dem Großen Inselsberg. Sagenhaft! 


Einen Steinwurf nur vom Ellenbogen entfernt steht das Eisenacher Haus, ein Berghotel mit bewegter Vergangenheit. Als ich in Anwesenheit einiger Frühstücksgäste drinnen Rast mache und einen Pott Kaffee dabei trinke, bringt mir der Chef des Hauses eine kleine Broschüre. "Während Sie hier sitzen, können Sie das lesen, dann sind Sie über das Eisenacher Haus informiert. "


Die im Jahre 1928 vom Rhönklub erbaute Berghütte hatte trotz Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit zunächst guten Zuspruch. Im Laufe des II. Weltkriegs wurde es auf dem Ellenbogen doch langsam still und mit dem Kriegsende kam das Aus. Zunächst nahmen die Sowjets das Haus in Beschlag, dann zogen die DDR-Grenztruppen ein. Das gesamte Gebiet um den Ellenbogen wurde Sperrgebiet. Die Stasi bezog es 1964 und stattete es zu ihrer westlichst gelegenen Abhöranlage aus. Auch sowjetische Nachrichteneinheiten siedelten sich in "Klein Sibirien" an. Beim Eisenacher Haus stand also eine der größten und streng geheimen Lausch- und Spähstationen des Warschauer Paktes in Richtung Westen. Bis zur Wende verschwand die thüringische Hochrhön aus den Wanderkarten. Als die Grenzer 1990 das Haus verließen, war das Gebäude völlig heruntergekommen. Doch bald erstrahlte es wieder in neuem Glanz. Heute brummt der Betrieb als Ausflugsgaststätte und Hotel.


Und wie es brummt, erfahre ich vom Chef persönlich. "Gestern (am Vatertag) waren etwa 1000 Leute hier. Das hat sich in den letzten Jahren immer mehr gesteigert. Das ist hier inzwischen Kult. Wanderer, Motorradfahrer, Ausflügler mit den Autos - am Vatertag sind sie alle hier. Von ihren geparkten Autos haben viele noch einen langen Anmarsch. Wir bauen immer ein großes Zelt beim Biergarten auf. Stellen Sie sich vor, es regnet und die Leute sind nicht geschützt. Aber gestern war es ja ideal ...!"


Hinter dem Eisenacher Haus geht es weiter: ein kleiner Wald, Bergwiesen, Ausblicke noch und nöcher. Ich erkläre die Rhön für mich zu einer der schönsten Wanderregionen, die ich kenne. Dazu zählt nicht nur die Landschaft, auch die Qualität der Wege, die Gastronomie, die Wegeauszeichnung, die Ruhestationen mit Bänken und Schutzhütten. Doch gerade hier hat der vergangene Vatertag seine Spuren hinterlassen. Essensreste verschmieren teilweise noch die Tische und leere Flaschen stehen zu Hauf herum. Sowas kann mich aufregen. Was man voll hierhergeschleppt hat, kann man doch auch leer wieder mitnehmen. Oder hinterlässt man sie als Zeichen des Triumphs? Ich war hier!!!???


Um nach Tann, meinem Tagesziel zu kommen, muss ich von den Höhen runter. In Unterweid bin ich praktisch unten und nehme mir auf dem Lutherplatz vor der Kirche und dem Gasthaus "Zum goldenen Ross" meine letzte Rast für heute. Dass ich mich noch in Thüringen befinde, merke ich am deutlichsten an den Lautsprechern, die immer noch an den Masten hängen. Diese habe ich jetzt schon in den verschiedensten kleinen Ortschaften noch gesehen, nur hier in Unterwied hängen auch neuere, kleinere. Einer davon am Lutherplatz, direkt neben einem kleinen Taubenschlag. Ich bemerke ihn, da dort die Tauben munter gurren und mir bei meiner Rast zusehen. Ich bin gerade vollkommen auf Rast-Entspannungsmodus, als es knistert und knackst. Ich schaue mich um. Was ist das? Dann knallt Musik los, in ohrenbetäubender Lautstärke. Fürchterlichster thüringischer Ethno-Schlager. Erschrocken geht mein Blick zum Lautsprecher. Eine Taube schlägt daneben in ihrem Käfig Salto, was wohl nicht eine Art von Ausdruckstanz darstellen soll, sondern pures Entsetzen und Panik. Was sagt der örtliche Tierschutzverein eigentlich dazu? Dann kommt's: "Achtung, Achtung für folgende Bekanntmachung! Am kommenden Samstag werden Hasen geimpft. Interessenten bitte anmelden! Außerdem ist ab Samstag der Grünschuttplatz wieder geöffnet. Ich wiederhole: Am kommenden Samstag ..." Ich schmeiß mich weg! Ich kann nicht mehr! Hasen werden geimpft!!! Eine alte Frau schaut mich im Vorübergehen etwas ratlos an, wie ich da so auf der Bank von Lachkrämpfen geschüttelt zusammensacke, und schlufft weiter.


Auf diese Art und Weise hochgradig in gute Laune versetzt, mache ich mich an die letzten Kilometer. Und kreuze den Kolonnenweg. Am 23.12.89 war hier Grenzöffnung, morgens um 9 Uhr. Abseits der Straße liegen Lochbetonplatten auf einem hohen Haufen, man hat sie aufgenommen, warum auch immer. Jetzt sehe ich erstmal, wie dick diese Dinger sind. Das erste Mal wechsel ich hier von Thüringen nach Hessen, Bayern ist out. Mein viertes Bundesland, das ich auf meinem Weg hoch zur Ostsee betrete. Es sollen noch einige dazukommen.


Am frühen Nachmittag bin ich in Tann. Meine Pension liegt etwas außerhalb. Den Ort werde ich mir morgen früh näher ansehen, wenn ich ihn sowieso durchqueren muss und noch bei frischen Kräften bin. Jetzt bin ich etwas müde, ich habe etwas Schlaf nachzuholen. Die letzte Nacht war zu kurz.


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Vatertag

Fladungen - Birx (13 km)


Beim Aufstehen gratuliere ich mir zu meinem "Ehrentag". Heute ist Vatertag! Mal sehen, wie die Rhöner Väter so drauf sind. Ziehen sie noch durch die Gegend oder gehen sie direkt in die Kneipe? Bleiben sie unter sich Testosteronträgern oder können sie sich auch mit einem Familienausflug anfreunden? Ich werde sehen.


Die Pension Sonne verlasse ich mit gemischten Gefühlen. Die letzten Tage hielten sich längere Anstiege sehr zurück, genauer, sie fanden überhaupt nicht statt. Das Rhönvorland ist eben nur ein Vorland, da geht es steigungsmäßig eher besinnlich zu. Heute mache ich erste Bekanntschaft mit den ersten Rhönbergen, dem Rhönkopf und dem Salkenberg, die schon hart an die 800 m heranreichen. Ich werde kräftig zu ziehen haben. Es werden aber kaum 15 km werden, ich habe also viel Zeit. Ich gehe mal wieder im T-Shirt los. Es scheint wieder warm zu werden. Mal sehen, wie sich blauer Himmel und Sonnenschein in der Höhe auswirken.


Zunächst ist es ganz harmlos. Leicht steigt die kleine Landstraße hinter Oberfladungen an, es windet leicht, ich komme kaum außer Atem, mein Wheelie rollt. Auch als der Friedensweg als Wirtschaftsweg rechts abbiegt, den ich eigentlich einschlagen soll, bleibe ich auf der unbefahrenen Straße. Sie geht als Serpentine weiter, der Wirtschaftsweg wäre steiler. Der Zeitaufwand ist vielleicht derselbe, aber ich spare Kraft. Doch dann ist "der Weg in den Himmel" unvermeidbar. Als schmaler Pfad windet er sich durch einen Wald hoch. Hoch, hoch, immer höher. Der Kolonnenweg einiger Abschnitte bekommt Konkurrenz, nur ohne Beton, ohne Löcher. Im Gegenteil, ich gehe auf einem Nadel- und Blätterteppich, was mir die Sache leicht macht. Ich steige langsam bergauf, bemühe mich, meinen Schritt zu bremsen, keine Sauerstoffschuld einzugehen. Und siehe da, es klappt. Natürlich schwitze ich, atme ich schwer, aber ich komme hoch, mit einer gewissen Leichtigkeit. 


Dann kommt der Waldrand - und ich sehe eine riesige Wiese vor mir. Ich bin auf dem Gipfel. Nur in der Rhön haben die Berge eigentlich keine Gipfel, sondern abgerundete Kuppen mit Bergwiesen und niedrigen Bäumen und Büschen. Es ist herrlich hier oben - aber auch frisch. Der Wind weht kräftig über die kahle Höhe und kühlt meinen Aufstiegsschweiß empfindlich schnell ab. Es wird Zeit, dass ich eine Pause einlege und mir den Anorak anziehe. Die Gelegenheit dazu kommt beim "Heimatblick".


Am Rand der Wiese steht eine bemerkenswerte Schutzhütte, die einer Hirtenunterkunft nachempfunden scheint. Aufeinandergeschichtete Basaltsteine wehren die Westwinde ab, starke Rundhölzer tragen ein mit Gras bewachsenes Dach. Im Innern ist eine Gedenktafel angebracht: "Wanderer, der du hier vorüberziehst, unten im Tal unsere Heimat siehst, verhalte im Schritt. Grüße sie Drüben und sage, dass wir ihr treu geblieben (1967)" Thüringer, die aus der gegenüberliegenden Grenzregion geflohen waren, haben hier diese Gedenkstätte errichtet. Der Ort dafür ist gut gewählt. Von einem steilen Wiesenhang, auf dem noch einige Bänke und Sitzgruppen stehen, blickt man weit hinein ins Thüringische, bis hinüber zum Inselsberg im Thüringer Wald.


Als ich nach einer Rast über die weite Hochfläche weitergehe, bleibt der Anorak an, zumal sich immer wieder kleine Wolken vor die Sonne verirren. Auch wenn ich jetzt über nahezu ebenes Gelände gehe, bin ich langsam unterwegs. Der Blick über diese so große, mit Blumen bestandene Wiese, mit anderen Rhönbergen im Hintergrund, faszinert mich und ich bleibe immer wieder stehen. Für den Rest meines heutigen Wandertages wird das so bleiben, morgen auch noch, und das bei diesem herrlichen Wetter, ich bin begeistert.


Und dann kommen sie: die ersten Vatertagsausflügler! Gegenüber treten sie im kleinen Rudel aus dem Wald heraus. Aber nicht nur Väter, sondern genauso viele Mütter. Kinder sind nicht dabei. Doch der Trupp ist in einem Alter, da sind die Kinder selbst als Väter oder Mütter unterwegs. Einer der Männer stemmt gerade ein Bierfässchen aus seinen Rucksack und stellt es auf einem großen Holzstapel ab. Aus den Taschen kramen alle ihre Gläser hervor und es wird eingefüllt. Als ich um ein Vatertagsfoto bitte, stellen sich alle in Positur. Kaum habe ich den Apparat wieder verpackt, habe ich ein gefülltes Schnapsglas in der Hand. Ein Bier hätte ich ja mit Vergnügen genommen, aber einen Schnaps ... ? Er schießt auch direkt voll durch. Anscheinend geht er nicht den Weg durch den Magen, sondern dockt direkt im Gehirn an. Ehe ich mich versehe ist das Pinnchen nochmal voll und alle prosten mir zu und lachen. Soll ich den Schnaps jetzt wegschütten? Geht auch nicht, also runter damit! Jetzt aber flüchten, sonst nimmt das ein böses Ende! Mit ungeplantem Alkoholgenuss habe ich auf meinen Wanderungen in den letzten Jahren schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn ich jetzt schon in meiner Unterkunft wäre, wäre ich ja einer gewissen Geselligkeit, die sich zwanglos ergibt, nicht abgeneigt. Aber um diese frühe Zeit schon? Ich habe ja jetzt bereits prompt ein leichtes Taubheitsgefühl im Gehirn. Noch ein Schnaps und ich laufe drei Stunden im Kreis!


Kaum habe ich mich von der ersten Vatertagsgesellschaft losgerissen, kommt die nächste Truppe aus dem Wald. Diese ist aber eindeutig als Familienausflug definiert. Zwei Väter ziehen einen mit Decken und Picknickutensilien bepackten Bollerwagen, andere junge Väter und Mütter folgen laut schnatternd (nur Milch haben die auch nicht getrunken!) und eine Schar Kinder rennt allen, mit Fußbällen ausgestattet, aufgeregt vorweg. Wahrscheinlich startet gleich beim "Heimatblick" ein Väter-Kinder-Fußballspiel, während die Mütter die Würste grillen und den selbstgemachten Nudelsalat auspacken. Ob die mir auch eine Wurst abgeben würden? Und etwas Mayonnaisensalat ...? Könnte meinem etwas verlorengegangenen Gleichgewicht wieder auf die Sprünge helfen. Aber vielleicht hilft strammes Wandern bei klarer, frischer Rhönluft auch. Also weiter!


Der Weg nach Frankenheim ist ein Traum! Leicht absteigend geht es weiter über Bergwiesen.Wie soll ich den Blick beschreiben? Atemberaubend schön? Überwältigend? Aber es geht nicht allein um den Blick, unzählige Blicke. Das hier oben hat auch sehr viel mit Gefühl zu tun, mit einer ganz besonderen Stimmung, die einen erfasst. Ich will nicht sagen, es wäre ein religiöser Moment, aber es geht schon sehr tief.


Jenseits eines kleinen Wäldchens treffe ich wieder auf den Kolonnenweg, kreuze ihn aber nur, "mache rüber" von Bayern nach Thüringen. Genauer gesagt, ich komme in einen schmalen thüringer Zipfel, der hier wie eine Speerspitze nach Bayern hineinragt. Frankenheim, der höchstgelegene Ort der Rhön, liegt am Anfang des Zipfels, Birx, mein Tagesziel, in der Spitze. Arm waren die Menschen hier zu früherer Zeit. So arm, dass sie in Gruppen durch die benachbarten Regionen zogen, um sich ihren Lebensunterhalt zusammenzubetteln.


Fünf Minuten vor dem Ortsbeginn sitzen zwei Frauen auf einer Bank am Wegesrand und schnattern und gibbeln vor sich hin. Zwischen sich eine Schachtel "Kleiner Feigling". Als sie meinen etwas irritierten Blick registrieren, lachen beide und eine ruft mir zu: "Da staunen Sie, junger Mann (!), wie? Unsere Männer sind unterwegs und wir machen es uns hier gemütlich! Und wie!" Ich gönne es ihnen von Herzen, lache mal kurz und mache, dass ich weiterkomme. Nicht dass die beiden auf die Idee kommen, mir noch einen "Feigling" anzubieten.


Von Frankenheim klingt Dicke-Backen-Musik zu mir herauf und je näher ich komme desto lauter. Menschen scheinen sich kräftigst zu amüsieren und es ist noch keine 12 Uhr. Jetzt heißt es, hohe Aufmerksamkeit an den Tag zu legen. Die Gefahrenzone muss umgangen werden! Nicht drei Kilometer vor dem Ziel versacken! Wie die Sirenen des Odysseus zieht mich die ausgelassene Fröhlichkeit an, doch ich muss widerstehen. Ich schaffe es, die Menschen in der Frankenheimer Hochrhönhalle müssen weiterhin ohne mich abfeiern.


Weiter gehe ich auf Brix zu. Eine nächste Vatertagstruppe kommt auf mich zu, allesamt junge Männer, wahrscheinlich noch kein einziger Vater darunter. Aber hochgradig fröhlich und auch sympathisch. Sie fragen nach dem Inhalt meines Wheelies, vermuten in mir vielleicht doch den einsamen Vatertagseinzelkämpfer, der sein ganz persönliches Bierfässchen in einer Karre hinter sich herzieht, möglicherweise mit direktem Schlauchanschluss. Als ich das aufkläre, fragen sie nach dem Gewicht meines Lastenträgers, woher ich komme, wohin ich noch will und überhaupt, warum ich das überhaupt mache. Und außerdem könnte ich jetzt auch eine Flasche Bier mit ihnen trinken, dann redet es sich doch besser. Sofort klingeln bei mir wieder die Alarmglocken, ich danke, wünsche den Jungs noch eine schöne Tour und bin auch schon weiter.


Eine halbe Stunde später klingel ich bei Frau Hartmann, meiner netten, alten Zimmerwirtin für die heutige Nacht. "Sie wollen sich jetzt bestimmt erstmal ausruhen und sich etwas hinlegen. (Hat sich das eigentlich inzwischen rumgesprochen?) Wenn Sie wieder bei Kräften sind, koche ich Ihnen einen schönen Kaffee!" So passiert's. In ihrer kleinen Stube sitzen wir fast eine Stunde zusammen und Frau Hartmann erzählt. 


Sie sei ja nicht von hier. Ihr Mann, der aus Birx stamme, sei noch vor dem Mauerbau geflüchtet und sie hätten sich im Westen kennengelernt. Dann habe er von seinem Onkel dies Haus hier geerbt und nach der Wende sei er mit ihr zurück. "Und da habe ich erst gemerkt, wie die Menschen hier gelitten haben müssen. Stellen Sie sich vor, von drei Seiten war das Dorf von einem Zaun umgeben, nur nach Osten, über Frankenheim, konnten sie raus. Da sie aber in der Sperrzone wohnten, war dies auch nur mit beantragten Passierscheinen möglich. Nach einer Geburtstagsfeier in Frankenheim zum Beispiel, musste man bis 22 Uhr wieder zurück sein oder man kam erst ab morgens sechs Uhr wieder rein. Nächtliche Ausgangssperre sozusagen. Als uns meine Schwägerin mal im Westen besuchen durfte, raffte sie sofort immer ihre kleine Tasche mit den Ausweispapieren unter den Arm, reflexartig. Sie war das so gewohnt. Immer den Ausweis parat haben, sobald man vor die Tür ging. Wenn nicht, wurde man erstmal "weggesteckt". Ich hatte Mühe, ihr begreiflich zu machen, dass das im Westen nicht nötig ist. Nach der Wende, als sie mittlerweile hier wohnten und manchmal mit anderen Birxern auf der Straße zusammenstanden und sich unterhielten, kam oft ein älterer, inzwischen wohl verwirrter Mann panisch auf sie zu und ermahnte sie, nicht so zusammenzustehen, das sei doch verboten. Stelllen Sie sich vor, die durften sich damals höchstens zu zweit auf der Straße unterhalten, zu dritt war schon verboten. Beim ersten Mal wurde man noch ermahnt, dann wurde man "weggesteckt". Noch heute merke ich ganz genau, wer damals "dazu" gehörte. Die haben eine ganz andere Sprache. Die Älteren sprechen heute nicht mehr über früher. Man hat sich arrangiert, aber es ist immer noch etwas zwischen ihnen. Bei den Jüngeren ist das mittlerweile anders, die wachsen mit dem Westen zusammen. Für die kam die Wende nochmal gerade früh genug." 


Das ist nur einiges von dem, was sie erzählt, ich kann unmöglich alles wiedergeben. Aber es beschäftigt mich. Immer noch wirkt viel nach in den Köpfen der Menschen. Nachdenklich gehe ich abends nebenan in den Gasthof und beginne meinen Blog.


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Grenzkunst

Eußenhausen - Fladungen (27 km)


Frau Euring hat um eine frühe Frühstückszeit gebeten. 7 Uhr, wenn möglich. "Ich mache mit meiner Seniorengruppe einen Ausflug nach Bad Mergentheim. Da geht es früh los!" Na, da bin ich doch voll mit einverstanden! Wenn es nach mir ginge, wäre das jeden Morgen meine Zeit, nur viele Beherbergungsbetriebe spielen da nicht immer mit. Von wegen der Brötchen, die ja dann noch nicht frisch vom Bäcker da wären. In Pensionen und bei Privatvermietern klappt das schon eher, da sie oft Monteure als Gäste haben, und die müssen früh raus.


Gestern Abend zog ein schweres Gewitter vorbei, aber eben nur vorbei. Zumindest der Regen war mehr als dürftig. Die Region jammert wegen der andauernden Trockenheit. Ich beobachte auch schon seit Tagen die aufgerissenen Böden an den Rändern der Äcker. Ich persönlich beklage mich natürlich nicht. Es hat schon was, jeden Morgen aus dem Fenster einen blauen Himmel zu sehen, der sich dann auch noch mehr oder weniger den ganzen Tag so zeigt.


Der Gewitterregen von gestern Abend, der dann doch irgendwo in der Region heruntergekommen sein muss, hat jedenfalls die drückende Hitze verdrängt und es ist recht frisch, als ich losgehe. So frisch, dass ich meinen Atem sehe, als ich von Eußenhausen aus die Landstraße hochziehe. "Hochkeuche" muss ich eigentlich treffender sagen, denn es geht flott bergauf. Die Straße ist recht gut befahren, denn es ist Berufsverkehr. Manche Autos düsen so knapp an mir vorbei, dass ich mir überlege, ob ich eventuell unsichtbar geworden bin. Andere entgegenkommende Autos erschrecken sich andererseits offensichtlich vor mir, denn sie fahren bis auf die andere Straßenseite hinüber. Das halte ich nun auch wieder für etwas übertrieben.


Nach einer Stunde bin ich oben auf der Alten Schanze, einer Wasserscheide zwischen Main und Weser, ein Grenzübergang seit altersher. Ein mannshoher, mit dem Wappen des Herzogtums Sachsen-Meiningen verzierter Stein markiert heute die Landesgrenze zwischen Bayern und Thüringen. 1973 wurde hier die deutsch-deutsche Grenze ein klein wenig durchlässiger. Nach langwierigen Verhandlungen wurde an diesem Grenzübergang Henneberg-Eußenhausen der "kleine Grenzverkehr" eingerichtet und damit ein Übergang in Hektargröße, den man heute nur noch erahnen kann. Das Sperrgebiet hatte ein kleines offizielles Loch bekommen. DDR-Bürger aus grenznahen Landkreisen durften hier in den Westen, um Verwandte zu besuchen, umgekehrt auch. Auf dem Papier. In der Umsetzung geriet es zu einer recht einseitigen Angelegenheit. 96 Prozent der Grenzüberquerer kamen aus der Bundesrepublik. Von den wenigen DDR-Bürgern, die in den Westen reisen durften, waren das zu 97 Prozent Rentner, Menschen, die nicht mehr für den Sozialismus rackerten, den Staat nur noch kosteten. Man dachte wohl, wenn die vielleicht drüben bleiben, kosten sie uns hier keine DDR-Rente.


Von der Grenzübergangsstelle ist nichts geblieben außer einer großen geteerten Fläche, einem im Verfall begriffenen Grenzturm, stark abblätternd, von wo das gesamte Areal überwacht wurde, und einem unvollendeten Backsteinbau, der als Grenzkaserne geplant war. Für sie kam wohl der 9. November 1989 dazwischen. Hundert Meter Richtung Eußenhausen, auf dem ehemaligen bayerischen Grenzparkplatz, fallen mir eine rot-weiß gestrichene Schranke und eine Ampel auf. Hier wurde ein Teil der Grenzübergangssperranlagen wieder aufgebaut: Schranken, ein Postenwachhäuschen, Grenzzäune, ein tonnenschwerer Rammbock, den man zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen über die Straße schieben konnte. Unglaublich, welche Mühe sich die DDR mit der Sicherung eines Grenzübergangs gemacht hat, an dem de facto vom "Osten" her nur Rentner passieren durften.


Ins Auge fällt hier oben auf der Alten Schanze etwas anderes. Mitten auf dem ehemaligen Grenzstreifen steht Kunst, jede Menge davon, frei zugänglich: der "Skulpturenpark Deutsche Einheit". Das gesamte Areal ist reich an Symbolen und Botschaften. Die größte Skulptur, wenn man sie so bezeichnen will, soll eine Brücke darstellen, die zwei alte Grenzsteine überspannt. Eine Hälfte steht auf bayerischem Boden, die andere auf thüringischem. Von der Bauart erinnert sie mich etwas an ein Element aus einem Kinderbaukasten. Kaiser Barbarossa und sein Knappe, übermannsgroß und im durchscheinenden Buntglas, deren Symbolik sich mir im Zusammenhang mit der wiedergewonnenen Einheit der Deutschen nicht sofort erschließt, ein buntes "Feld der Fahnen" von Gymnasiasten beiderseits der Grenze. Die für mich eindringlichste Skulptur benötigt kein Wort der Erklärung: " Auf der Flucht erschossen". Die stählerne Nachbildung eines Menschen, der, vor Schmerz schreiend, auf die Knie sackt. In seiner linken Brust klafft ein Loch. Mich schaudert es, als ich aus einer gewissen Perspektive durch dieses Loch im Hintergrund das Gerippe des alten Grenzturms ausmache.


Am Skulpturenpark beginnt der Friedensweg, der von nun an über vierzig Kilometer entlang der ehemaligen Grenze bis nach Birx führt, meinem morgendlichen Tagesziel. Auf vielen aufgestellten Tafeln, vierzig sollen es sein, erfährt der Grenzwanderer so einiges, was in diesem Grenzabschnitt damals passierte. Zum Beispiel über einen der letzten DDR-Flüchtlinge (ein 62jähriger aus Meiningen, der Ende Mai 1989 die Grenzübergangsstelle mit einem Kehrfahrzeug säubern sollte, einfach Gas gab, bis er auf bayerischem Boden ankam), über den Stützpunkt des Geheimdienstes der US-Armee auf einer nahen Bergkuppe oder über einen DDR-Grenzer, der im Oktober 1985 desertierte. So werden Einzelschicksale mit Ort und Zeit und Drama an der Geschichte festgemacht. Das beeindruckt. Andererseits glaube ich, wenn ich morgen alle 40 Tafeln "durchhabe", hinterlässt diese Serie auf die Dauer das Sättigungsgefühl von zu vielen Anekdoten: Mannomann, hier ging es ja wild zu. Fluchten nach Schießereien nach Feten mit Alkohol und Frauen im Spiel, Abenteuergeschichten, ein bisschen Billy the Kid. So war der Wilde Osten. Bin ich zu mäkelig?


Steil führt der Friedensweg von der Alten Schanze wieder abwärts, als schmaler Trampelpfad durch den Wald hinunter, der aber immer wieder auch einen Blick auf die sich nun mehrenden Rhönhöhen erlaubt. Unten angekommen "durchwate" ich mal wieder ein Rapsmeer, und mitten aus dem Raps heraus erhebt sich die Anhöhe des Dachsbergs. Auf ihm der nächste Wachturm - und das Weltfriedenskreuz. Acht Meter hoch ist das Holzkreuz, eines von sechs Weltfriedenskreuzen, die der Leiter der singenden Heerscharen, Gottfried Fischer, seit 1980 in fünf Kontinenten hat aufstellen lassen. Durch den Zoom meiner Kamera lese ich die Inschrift auf dem Querbalken: "Frieden sei dieser Welt beschieden". Ein frommer Wunsch. Der Friedensweg führt direkt am Fischer-Kreuz, oh, Entschuldigung!, am Weltfriedenskreuz, vorbei, wäre aber ein Umweg. Schenke ich mir, geht auch einfacher.


Dann wieder das Unvermeidliche - der Kolonnenweg. Mittlerweile muss ich fast lachen, wenn er sich ankündigt. Ich habe meinen Frieden mit ihm gemacht. Ich weiß, wie ich ihn zu gehen habe. Ich weiß, dass auch der steilste Anstieg mal sein Ende hat, ich muss mir nur Zeit lassen. In der Ruhe liegt die Kraft. Steil geht es auch jetzt wieder hoch, doch sein Umfeld ist herrlich. Bunte Blumenwiesen dort, wo einst das Minenfeld war, würziger, lichter Kiefernwald auf beiden Seiten. Ein Milan landet auf einer Kiefernspitze und ein großer Fuchs kreuzt, keine zwanzig Meter vor mir, in aller Ruhe die Lochplatten. Für den Milan bin ich mit meiner Kamera schnell genug, für den Fuchs nicht.


Betroffenheit bei mir dann wieder bei der Wüstung eines Dorfes, Schmerbach hieß es. An einer kleinen Straße, inmitten einer riesigen Feldflur, nur 250 m vom Kolonnenweg entfernt, steht unter einer kleinen Birke ein Gedenkstein: " Über 300 Jahre stand hier das Dorf Schmerbach". Ursprünglich war Schmerbach ein Gutsdorf nebst Ziegelei. 1945 wurde der Gutsbesitzer enteignet und das Land an die Arbeiter und Neusiedler (meist Flüchtlinge) verteilt. "Bodenreform" hieß das damals. Jede Familie erhielt 8,5 Hektar und ein Häuschen. Doch das Glück vom freien Bauerntum war nicht von langer Dauer. 1974 machten die Grenztruppen das Gutsdorf dem Erdboden gleich. Nur die Trafostation und der Friedhof blieben erhalten. Sie stehen mitten im weiten Acker, kein Weg führt zu ihnen hin. Die Menschen, die man 19 Jahre zuvor mit eigenem Grund beglückt hatte, wurden zwangsweise umgesiedelt.


Die Sonne strahlt auf dies alles hinab. Alles sieht so freundlich, so heiter, so naturschön aus. Und dann diese Geschichte. Passt hierzu nicht besser Regen, Nebel, Sturm eher als Sonne und blauer Himmel? 


Dann endlich kommt, jenseits von Kontrollweg, Kfz-Sperrgraben und mittlerweile überwachsenem Grenzstreifen, Weimarschmieden. Ein kleiner Ort, am Ortseingang stolz beschrieben als das nördlichste Dorf Bayerns. Ein Foto zeigt auf einem kleinen Anschlagbrett den Moment, an dem eine Menschenschlange aus dem thüringischen Nachbarort Gerthausen an einem der euphorischen Tage unmittelbar nach der Grenzöffnung den Grenzstreifen überquert, um Weimarschmieden einen ersten Besuch nach 40 Jahren abzustatten. Unter den machtlosen Blicken eines Grenzers. Die Blicke der Menschen sind gespannt, fast ängstlich, als fürchteten sie doch noch ein Eingreifen des Uniformierten. "Richtig Angst hatten sie, als sie da kamen", sagt ein alter Mann, der auf einmal neben mir steht. " Erst als sie an dem Grenzer vorbei waren und nichts passierte, waren sie nicht mehr zu halten. Losgerannt sind sie, geschrien haben sie, gejubelt, sie sind uns in die Arme gelaufen. Sie glauben ja nicht, was wir hier für ein Fest gefeiert haben."


Vorm "Gasthof zur Weimarschmiede" mache ich nun endlich Rast, wurde auch Zeit. Die Füße glühen nach fünf Stunden Durchmarsch. Im Gasthof wollte ich eigentlich übernachten, aber schon bei meiner Anfrage im Januar wurde mir negativ beschieden. An der Tür hängt jetzt auch ein großes Pappschild: "Wegen einer privaten Sache haben wir heute nicht geöffnet. Wir freuen uns morgen wieder auf Ihren Besuch!"


Eine halbe Stunde gönne ich mir, dann geht es an den Rest für heute. Und die haben es in sich. Sechs Kilometer Landstraße, in knalliger Sonne, bis Fladungen. Sie ziehen sich gnadenlos hin, doch irgendwann habe ich auch das geschafft. Ich kämpfe mich noch durch die kleine Altstadt, dann bin ich am Ziel: "Pension Sonne". Der Herr des Hauses sitzt auf einer kleinen Bank im Schatten vor der Tür und lächelt mir entgegen. "Haben Sie's geschafft für heute?" - "Ich hab's geschafft und ich bin geschafft!", fällt mir als Antwort nur ein und ich spanne mich aus meinem Wheelie-Geschirr.


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Relaxen im Garten

Irmelshausen - Eußenhausen (24 km)


Dieser Mensch ist mir schon gestern Abend beim Abendessen in der gemütlichen Gaststube auf den Nerv gegangen. Jemand, der sich selbst so gerne reden hört, ohne Punkt und Komma schwätzt. Einer der vorgibt, von allem eine Ahnung zu haben, im Berufsleben ganz wichtig und wirklich maß-gebend war und der beste Jäger unter Deutschlands Hubertusjüngern ist, über alles ein Buch schreibt, für den regionalen Touristik-Verband mal eben den hiesigen Keltenweg kontrollieren muss und jetzt t-e-l-l-e-r-g-r-o-ß-e Blasen unter den Füßen hat, weil diese Deppen hier den Weg nicht richtig auszeichenen können. Ich bleibe konsequent bei meinen "Aha", "Is ja 'n Ding!" oder ""Da kann man mal sehen!", höre aber irgendwann überhaupt nicht mehr zu. Beim Frühstück dann dasselbe Spiel. Er tut mir auch nicht den Gefallen, eine halbe Stunde später zu erscheinen. Ich habe selten so schnell meine Brötchen verputzt. Gottseidank ist er auf dem Keltenweg und nicht auf dem Grünen Band unterwegs, sonst hätte er sich wohlmöglich noch an mich gehängt und mir unterwegs Knöpfe an die Backe gelabert.


Beim Abmarsch aus Irmelshausen ist es schon richtig warm, morgens um halb neun. Das kann ja heiter werden. Keine zwei Kilometer hinter dem Ort bin ich schon wieder am Grenzstreifen. Der Kolonnenweg lockt, doch für ein Weilchen kann ich ihn austricksen. Ich nehme den Zollweg auf der Westseite. Galgenfrist - doch dann ist es soweit. Und wie! Steil geht's mal wieder rauf. So steil, dass ich mir vorkomme, wie auf den letzten Metern einer Gipfelbesteigung in den Alpen. Zehn Meter Stapfen, dann Stopp, nach Atem ringen, weiter, zehn Meter Stapfen, Stopp ... Glücklicherweise liegt hier die "volle Platte" und nicht die üblichere Variante mit Lochgittermuster. So brauche ich mich "nur" auf die Steigungsprozente und auf meinen Körper konzentrieren, und damit habe ich schon genug zu tun.


Hier im Grabfeld habe ich mit solchen Steigungen nicht unbedingt gerechnet, eigentlich soll es doch nur ein heiteres Hügelland sein. Als ich das erste Mal etwas vom Grabfeld hörte, dachte ich: Was für ein schauriger Name. Hat das mit Tod und Finsternis zu tun? Doch das fränkisch-thüringische Grabfeld ist alles andere als düster. Gestern und heute, wo ich das Grabfeld einmal komplett über knapp 50 Kilometer durchquere, erlebe ich es als eine freundliche Gegend mit weiten Feldfluren und lichten Wäldern, in denen vor allem Eichen und Hainbuchen wachsen. "Grab" ist in den slawischen Sprachen das Wort für Hainbuche und da im Mittelalter slawische Stämme bis weit nach Franken vordrangen, erklärt dies vielleicht den Namen des Landstrichs.


Nach zwei heftigsten Kolonnenweg-Anstiegen ist es dann aber auch schon wieder vorbei. Wahrscheinlich wollte sich mein treuer Grüne-Band-Begleiter nur mal in Erinnerung bringen, nachdem ich ihn ja gestern komplett ignoriert habe. Ich muss ihn zwar für ein paar Kilometer weiterhin abtrampeln, aber in "gemütlichem Terrain". Ich weiß nur nicht, ob das Wild in dieser Gegend das genauso sieht. Schon gestern ist mir das aufgefallen und heute setzt sich das fort. Die Jagdsitze hier nehmen nahezu inflatorische Ausmaße an. Nirgends auf der Strecke bisher war die Jagdsitz-Dichte so hoch. Hat sich da nach der Wende entlang des ehemaligen Todesstreifens ein neues Eldorado für die deutsche Jägerschaft aufgetan? Der Slogan "Vom Todesstreifen zur Lebenslinie" kann für das hiesige Wild wohl nur eine böse Ironie bedeuten. Muss gerade in diesem so sensiblen Bereich in diesem so offensichtlichen Ausmaß herumgeballert werden? 


Schon von weitem sehe ich in Verlängerung des Kolonnenwegs einen Wachturm, Exemplar "Führungsturm". Ich komme zum "Deutsch-Deutschen Freilandmuseum Behrungen". Außer dem Turm sehe ich beim Näherkommen noch einen in Tarnfarben gestrichenen kleinen Beobachtungsbunker, etwa hundert Meter Grenzzaun hinter dem Kfz-Sperrgraben. Alles steht irgendwie harmlos da in der Landschaft. Rechts vor einem Zauntor hat man Panzersperren aufgebaut. Vor dem rostenden Metall blühen Blumen. Über eine Zaunlücke gelange ich auf das ehemalige Minenfeld. Hier stoße ich auf eine kleine Gedenkplatte, mit der an die Begebenheit erinnert wird, dass hier im März 2001 ein zehnjähriger Junge eine noch aktive Mine gefunden hat und dank seines besonnenen Verhaltens und dessen der anwesenden Erwachsenen eine menschliche Katastrophe verhindert werden konnte. Die eigentliche Grenzlinie markiert heute wie damals ein schwarz-rot-goldener Grenzpfahl. Dahinter, an einer Waldecke, taucht der weiß-blaue Schlagbaum der Bayern auf. Und auch der Westzoll hat einen Grenzpfahl aufgestellt, der weiß-blau und nicht etwa schwarz-rot-gold gestrichen ist. Gegen dem Verbleib von Turm und Grenzzaunresten hatte es nach der Wende große Vorbehalte gegeben. Man wollte in Behrungen alles, was mit Grenze zu tun hatte, nicht mehr sehen. Doch es gab auch Menschen, die die Erinnerung erhalten wollten. 1994 fasste das Gemeindeparlament - nicht einstimmig aber mehrheitlich - den Beschluss, dass ein Ensemble aus Wachturm und Sperranlagen unter Denkmalschutz gestellt werden sollte, und das Thüringer Landesamt für Denkmalpflege entsprach dem Mehrheitswillen der Behrunger. Hinten am Beobachtungsbunker toben mittlerweile Kinder einer Schulklasse herum. Der Beobachtungsbunker als Kletter-Spielzeug. Recht so, Kinder! 


Die alte Grenzerkaserne am Ortseingang von Behrungen ist nicht, wie viele andere, dem Verfall anheimgegeben. Anscheinend ist ja doch bei der einen oder anderen noch was zu retten. Diese wird heute - grundsaniert und modernisiert - als "Senioren-Oase" geführt. Mich stört nur der Hartgitter-Zaun, der das komplette Anwesen umgibt. Hatten die alten Menschen nicht Zaun genug?


Hinter Behrungen geht es leicht aufwärts auf Berkach zu. Jenseits der A 71 treffe ich auf ein heckenumstandenes Geviert am Feldrand. Ein kleiner Friedhof, ein paar Schritte ab vom Weg. Alte Gräber, keine frischen Blumen, bemooste Grabsteine, auf manchen liegen kleine Kieselsteine. Verzierungen mit Sternen, Davidssternen. Ich zähle knapp 150 Grabsteine. Sie sind hebräisch beschriftet. Auf der zugewandten Seite. Auf der anderen haben sie deutsche Inschriften. Ich fühle mich wie ein Eindringling auf diesem Friedhof, als stünde mir nicht zu, hier zu sein, als störte ich durch bloßes Da-sein die Totenruhe. Das ist wohl ewiges Vermächtnis unserer Geschichte: jüdisches Deutsches als Exotisches zu empfinden.


In Berkach treffe ich auf eine Synagoge. Ein großes, schlichtes Gebäude, in Grau- und Grüntönen vor nicht allzu langer Zeit gestrichen, mit großen rundbogigen Glasfenstern, die über zwei, drei Etagen reichen. Hinein kann ich nicht. Die Tür ist abgeschlossen. Im Internet habe ich gerade gelesen: Seit 1700 gab es eine jüdische Gemeinde in Berkach. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren etwa ein Drittel der knapp 500 Einwohner jüdische Gemeindemitglieder. In den 1870er Jahren, dann am Anfang des 20. Jahrhunderts und in den 1930er Jahren ging die Zahl der jüdischen Berkacher zunächst durch Aus- und Abwanderung, dann zunehmend durch Verfolgung stark zurück. Im Novemberprogrom 1938 wurde die Synagoge zwar nicht zerstört, musste aber auf Druck an die politische Gemeinde Berkach "verkauft" werden, die das Gebäude an den Sparkassen- und Darlehensverein weiterveräußerte. Zur DDR-Zeit wurde die ehemalige Synagoge durch die LPG als Lagerraum und Schmiede benutzt. Seit 1989/90 wurden auf Initiative der Denkmalbehörde mit der Jüdischen Landesgemeinde Thüringens die jüdischen Kulturstätten in Berkach restauriert: die Synagoge, der Friedhof, ein kleines Badehaus.


Am Ortsausgang von Berkach öffnet sich im zweiten Stockwerk des letzten Hauses ein Fenster und eine Frau mittleren Alters lacht mir entgegen. "Aber wir haben doch noch gar nicht Donnerstag!" Erst muss ich kurz nachdenken, dann dämmert es mir. Donnerstag ist Christi Himmelfahrt, "Vatertag". Schon in der "Linde" in Irmelshausen hatte ich gehört, dass hier die Väter (oder die, die es noch werden wollen) an diesem Tag noch mächtig unterwegs sind, und vielleicht hält die Frau mich mit meinem Wheelie ja für sowas wie eine Vorhut. Vielleicht sind die Männer hier manchmal auch mit so einem Gefährt unterwegs, nur transportiert dies dann nicht das Gepäck eines Wandersmanns, sondern ein Fässchen Bier. Ich kläre das auf und die nette Frau lacht nur, wünscht mir noch einen guten Weg und schließt wieder das Fenster.


Schon seit gestern lese ich an den Ortseingangsschildern, dass ich mich inzwischen im Landkreis Grabfeld-Rhön befinde. Doch nicht nur daran erkenne ich, dass ich mich immer mehr der Rhön nähere. Auch ganz hinten am Horizont tauchen ihre Höhen im dunkelblauen Dunst auf und ich mag mir gar nicht so gerne ausmalen, wie ich mich dort die Kolonnenwege empormühen werde. Doch ich merke jetzt schon: Meine Form wird immer besser, und wenn ich dort angekommen bin, werde ich die Kolonnenwege niederringen, ich werde sie auslachen ... glaube ich.


Noch eine Stunde ist es bis Eußenhausen, meinem Tagesziel. Die Temperaturen sind mittlerweile immer weiter angestiegen und ich denke, wir nähern uns der 30°C. Unter meinem Hut brutzelt es mir so langsam das Gehirn weg und ich bin froh, als ich die Kirchturmspitze und die ersten Hausdächer meines Übernachtungsortes vor mir erkenne. Ein Gewitter ist für die späten Nachmittagsstunden, für den Abend oder für die Nacht vorhergesagt. Ich bitte darum! Eine kleine Abkühlung wäre schon angesagt. Und wenn das alles außerhalb meiner Wanderzeit passiert - noch besser! 


Frau Euring öffnet mir strahlend die Pensionstür, führt mich auf mein Zimmer und offeriert mir als erstes "eine schöne, kalte Flasche fränkisches Schwarzbier, aus einer kleinen Brauerei hier aus der Nachbarschaft". Ich nicke nur begeistert und sie holt sie mir. Noch bevor wir alles bezüglich Abendessen ("Ich mach Ihnen leckere Rouladen mit selbstgemachten Nudeln und frischem Salat aus dem Garten!"), Frühstück und Internetanschluss geklärt haben, ist die Bierflasche leer. Ich war aber auch irgendwie ausgedörrt. "Ich denke, Sie wollen sich jetzt erstmal ein wenig ausruhen und schlafen (Woher weiß die Frau das?), und wenn Sie wieder wach sind, setzen Sie sich doch einfach hinten in meinen Garten." So soll es denn sein, liebe Frau Euring, und ich stimme begeistert zu.


Nach meiner - inzwischen obligatorischen - Siesta mache ich mich dann tatsächlich auf in Frau Eurings Garten - und bin baff. Ein kleines Paradies! Eine Wiese mit Obstbäumen, ein Teich mit üppigen Blumenstauden rundherum, Hochbeete, ein Gewächshaus, Blumen- und Gemüsebeete, ein kleiner Hühnerstall - und Frau Euring steht mittendrin und arbeitet. Eine weitere Frau hilft ihr dabei, ein Gast aus Hagen, der seit fast dreißig Jahren hierher kommt und zur Freundin geworden ist. Ich setze mich unter das Dach einer halboffenen Gartenlaube und beginne meinen Blog. Frau Euring geht in ihr Gewächshaus und pflückt Salat. "Für Ihr Abendessen gleich!"


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Kolonnenweglos

Zimmerau - Irmelshausen (20 km)


In meiner Unterkunft "Landgasthof zur Linde" in Irmelshausen habe ich mich zum Schreiben ins "Raucherzimmer" zurückgezogen. Allen, die sich jetzt darüber bei mir als fanatischen Nichtraucher wundern, sei gesagt: Das "Raucherzimmer" ist der große Balkon im 1. Obergeschoss, gleich neben meinem Zimmer. Das einzige, was ans Rauchen erinnert, ist der eine Aschenbecher, der sauber geputzt auf einem Tisch steht. Da der Landgasthof heute eigentlich Ruhetag hat und ich der einzige Übernachtungsgast bin, kann kein Stinker hier auftauchen. Die Luft ist noch warm, ich höre die wenigen Geräusche des Dorfes, die Schwalben fliegen tief (morgen soll es gewittern!), eine Monsterhornisse kreist herum, die Kirchturmglocke schlägt, eine Katze ist gerade aus dem Fenster des Nachbarhauses gesprungen und findet ihren Weg über ein Wellblechdach zu mir auf den Balkon. Jetzt sitzt sie auf dem Balkon neben mir auf meiner Bank und beginnt zu schnurren.


Der Morgen fängt fantastisch an: Im Berggasthof Bayernturm raffe ich die Gardine beiseite und trete - noch in sportlicher Funktionsunterhose - auf den kleinen Balkon. Frische Morgenluft umgaukelt mich, samtweich, vom nahegelegenen Wald aromatisiert. Tief geht mein Blick hinunter auf Zimmerau und die wellige Grenzlandschaft, die seinerzeit schon die Grenz-Kucker so begeistert hat. Der Himmel ist blau, durchkreuzt von jeder Menge Kondenzstreifen. Ich kann es nicht lassen und schicke ein lautes "Moiiiin!!!" in die Welt. Der Tag kann beginnen. Mich juckt's in den Füßen, ich will los.


Eine halbe Stunde später bereits ziehe ich mein Wheelie über einen Waldweg. Wie sich herausstellen wird, werden dies die ersten und die letzten Meter auf einem Waldweg sein, der Rest sind asphaltierte Feldwege, Landstraßen oder betonierte, ehemalig westdeutsche Zollwege. Falls jemand bei dieser Aufzählung meinen geliebten Kolonnenweg vermisst, vermisst zu Recht. Ich bleibe heute den ganzen Tag über auf bayerischem Hoheitsgebiet. Entschuldigung, auf fränkischem! Das ist in dieser Gegend ein großer Unterschied. 


Der Kolonnenweg schlägt hier in der Gegend wiedermal tolle Kapriolen, zieht dabei in die Berge der sogenannten Schlechtsarter Schweiz hoch, würde unverhältnismäßig Kraft kosten. Dabei geht es auch anders. Das Image eines lupenreinen Grenzgängers habe ich sowieso schon abgelegt, also was soll's. Zur Selbstkasteiung bin ich nicht angetreten, sondern zur Erkundung der ehemaligen deutsch-deutschen Grenzregion, auf und (ich ergänze) in unmittelbarer Nachbarschaft zum Grünen Band. Und das ist mehr als stupide Lochplatten-Tappserei!


Erster kleiner Halt ist die Quellfassung der Fränkischen Saale, nicht zu verwechseln mit der Saale, die Dieter und mir schon bei Hirschberg, Blankenberg oder Blankenstein im Thüringer Schiefergebirge begegnet ist. Über 135 Kilometer fließt sie von dieser Quelle über Bad Königshofen und Bad Kissingen bis nach Gemünden und mündet dort in den Main. Mein Weg ist länger als deiner, liebe Fränkische Saale! 


Rast machen will ich hier noch nicht, obwohl die stabile hölzerne Sitzgruppe förmlich dazu einlädt. Wäre ja auch noch schöner, nach einer Dreiviertelstunde! Die Temperaturen klettern langsam, und als ich durch die (wiedermal) schier unendlichen Rapsfelder auf Markt Trappstadt zugehe, gratuliere ich mir dazu, dass ich gerade dabei bin, die Höhen der Schlechtsarter Schweiz rechts von mir liegenzulassen. Die Kübelwagen der Grenzer mussten die dortigen steilen Auf- und Abstiege bewältigen, ich nicht. Ich hab's bequem, genieße weite Ausblicke und lasse den lieben Gott einen netten Mann sein.


Markt Trappstadt betrete ich durch ein interessantes Fachwerk-Stadttor, an dem mich nur das Riesenbanner des örtlichen "Grenzcafés" stört, auch wenn dies mich damit zu einer Rast einladen möchte. Werbung für sich kann man auch anders machen, als damit solch ein historisches Bauwerk zu verschandeln. Schon aus Protest ziehe ich 100 m weiter an dem Café vorbei, auch wenn gerade drei junge Frauen an einem kleinen Tisch davor in der Sonne sitzen und Cappuccino trinken. Na ja, soviel Protest ist nun nicht, ich brauche einfach noch keine Pause. Es rollt!


Und so rolle ich denn vom Ortsausgang an eine Landstraße entlang, auf der mir irgendwann der Gedanke kommt, ob ich eventuell hier eine Vollsperrung übersehen habe. Es fährt nicht ein einziges Auto, weder in die eine, noch in die andere Richtung. Ich, der alleinige König der Landstraße! Meine Karte sagt mir, dass sich gleich der Kolonnenweg der Straße annähern und sie dann für einige Zeit begleiten wird. Richtig, da ist er auch schon! Vollkommen unscheinbar zieht er durch die Feldflur, nur einige junge Birken markieren seinen Verlauf. Bei genauerem Hinsehen erst erkenne ich auch die davor verlaufende Vertiefung, die Kfz-Sperre. Früher fuhren die Reisebusse mit den Grenz-Kuckern hier langsamer, heutzutage wissen vielleicht nicht mehr viele, wenn sie hier entlangfahren, dass dort, vielleicht 50 m entfernt, eine Todeszone verlief. Ich schaue nach "drüben", nach Thüringen hinein, zum Großen und Kleinen Gleichberg, und bin ehrlich froh, dass dieser Sch... vorbei ist.


In Breitensee ist es dann endlich so weit - Rast. Der Ort ist gut gewählt: Etwas abseits der Kirche, auf dem Dorfplatz neben dem ehemaligen kleinen Feuerwehrhäuschen, steht eine Holz-Sitzgruppe. Wheelie abgestellt, Tagesrucksack abgeworfen, Bauchgurt und Fototasche daneben, Schuhe aus, hinsetzen, abstöhnen, lächeln - zwei Drittel des Tagespensums sind schon geschafft und es ist erst 12.30 Uhr. 


Ich sitze gerade, da hält ein kleiner Bus neben mir, offensichtlich der Grundschulbus. Ein kleines Mädchen steigt aus, schultert umständlich seinen Ranzen, schaut sich etwas grimmig um. "Huhuuu, Franziska, hier bin ich!" Eine Stimme ertönt vom naheliegenden Spielplatz. Die Oma mit dem kleinen Bruder. Das grimmige Gesicht des Mädchens hellt sich auf und sie stürmt Oma und Brüderchen entgegen. Die Mühen des Schultages sind vergessen, jetzt wird erstmal, unter den fürsorglichen Augen der Oma, gespielt. Vorzugsweise Rutschen. Brüderchen Simon klettert immer brav die Rutschenleiter hoch, Franziska nimmt die Rutsche selbst zum Aufstieg und versperrt damit dem Brüderchen konsequent den Weg abwärts. Brüderchen schreit. Ein sehr schönes Spiel. Oma versucht beständig, pädagogisch wertvoll einzugreifen, scheitert aber. Als sie mein hilfreiches Grinsen bemerkt, lässt sie die Kleinen alleine "spielen" und kommt zu mir hinübergeschlendert.


"Naaa, und Sie machen hier bei uns in Breitensee Rast?!" Was folgt, sind Ausführungen über die Kinder heutzutage im Allgemeinen und das sorglose Aufwachsen der Kinder in Breitensee im Speziellen. Da ich über Fragen der Kindererziehung allgemein und speziell im ländlichen Raum eigentlich ganz gut informiert bin, versuche ich ihr Mitteilungsbedürfnis in eine Richtung zu lenken, die mich hier besonders interessiert. Wie hat man hier im Grenzgebiet, wenn auch auf westlicher Seite, zu Zeiten der deutschen Teilung gelebt?


"Wir waren ja im Halbkreis von diesem Zaun umgeben, haben immer davorgekuckt. Nur wir konnten hintenraus überall hin, die drüben ja nicht. Wir haben oft die Minen gehört, wenn sie hochgegangen sind. Da liegen bestimmt heute noch Minen, nur keiner weiß wo. Wir lassen heute noch unsere Kinder da nicht alleine hin. Dahinten im Wald haben sie immer sieben bis acht Hunde rumlaufen lassen, da hatte keiner, der rüberkommen wollte, eine Chance. Wenn wir auf der Straße, die Sie wohl gerade auch gekommen sind, mit dem Fahrrad nach Trappstadt gefahren sind, haben wir immer wieder die Grenzposten entlangziehen sehen. Manche haben sogar gewinkt. Die, die nicht gewunken haben, waren bestimmt von der Stasi. Wenn einer von denen mitbekommen hat, dass einer winkt, wurde der sofort von der Grenze zurückgezogen und weit ins Hinterland verfrachtet. Als dann die Grenze geöffnet wurde, war das unbeschreiblich. Das war solch ein Jubel. Ich hatte Verwandte drüben in Eicha, jahrzehntelang konnten wir uns nur schreiben, Bilder von uns hin und her schicken. Manche Briefe kamen gar nicht erst an, die wurden ja alle gefilzt. Und dann haben wir uns wiedergesehen ..., Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das war." Als sie das sagt, stehen ihr Tränen in den Augen. "Unmittelbar nach der Grenzöffnung sind sie aus Eicha und Milz mit Blasmusik zu uns rübergekommen, an Silvester haben wir mit Tschingderassabumm unseren Gegenbesuch gemacht. Es waren so wundervolle Tage ..."


Auf dem Spielplatz droht die "Geschwisterliebe" zu eskalieren. Oma ist gefragt. Mit einem Seufzer verabschiedet sie sich von mir. "Na ja, wir waren früher ja auch nicht besser. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Weg und grüßen Sie die Ostsee von mir!" 


Lächelnd mache ich mich an mein letztes Drittel. Nochmal asphaltierte Wege durch riesige Felder, ein schöner lichter Wald mit Tausenden von Maiglöckchen am Wegesrand, dann im weiten Bogen auf Irmelshausen zu, meinem Tagesziel. Der Himmel ist nicht mehr so strahlend blau, Schleierwolken ziehen immer mehr auf. Die Sonne umgibt sich mit einer großen Corona und der Wind, der morgens noch für etwas Abkühlung sorgte, legt sich völlig. Es wird drückender, meine Wasserflasche schnell leerer. Das Gewitter morgen kündigt sich schon an. 


Die Katze neben mir hat inzwischen ihren Kopf auf meine Oberschenkel gelegt. Dabei schnurrt sie so intensiv, dass ich nahezu mitvibriere. Wenn ich jetzt meine Sachen packe und zum Abendessen gehe, ist sie bestimmt beleidigt.


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Vereinigungsverlierer

Lindenau - Zimmerau (22 km)


Der alte Irische Setter steht schon am Tor der Hirschmühle, um mich zu verabschieden. Ich streichle ihn, er gibt mir unaufgefordert Pfötchen und trottet dann auf den Hof zurück. Ich bin gerührt. Das Taxi ist wiedermal auf die Minute pünktlich. Eine Viertelstunde später bin ich in Lindenau. Im Dorf ist noch nichts los, nur ein Hund und eine Katze wechseln partnerschaftlich die Straßenseite. Nur wenige Schritte und ich bin in der offenen Feldflur. 


Auf einmal donnern die Glocken der Lindenauer Kirche hinter mir her, stimmt, heute ist Sonntag, Gottesdienstzeit. Aber um 9 Uhr schon? Hat der Küster sich vertan? Die Glocken verstummen auch erstaunlich schnell wieder. Kolonnenweg ist erstmal nicht, kommt später an die Reihe. Ich werde schon meine tägliche Dosis bekommen. 


Auf Wirtschaftswegen und einer kleinen Landstraße komme ich nach Gleismuthhausen, auf der anderen Seite der Grenze, nach Bayern, das erste Dorf für heute mit einer Zwiebelturm-Kirche, weitere werden folgen. Es riecht nach Kuh im Dorf, kräftigst. In einem großen Stall spricht der Bauer mit seinen Kühen, liebevoll, besänftigend. Ich glaube, hier sind die Kühe glücklich. Eine Katze beleckt sich ihre Pfoten auf einem hohen Torpfosten und schaut mir dabei relativ uninteressiert nach, vier Tauben gurren auf dem Dach eines schönen Fachwerkhauses und in einem Haus schreit ein Baby. Irgendwie stimmt alles.


Dann wieder zurück auf Thüringer Seite, ich kreuze ein zweites Mal den Kolonnenweg, grüße ihn kurz, aber entkommen werde ich ihm auch heute nicht. Ich komme in den südlichsten thüringischen Zipfel, in den südlichsten Ort Thüringens und damit in den südlichsten Ort der ehemaligen DDR, Käßlitz. Richtig schmuck ist es hier: Schönes Fachwerk allerorten, gepflegte Gärten, ein altes Brauhaus, die alte Schmiede. Beim Ortsgasthaus sehe ich den ersten von ihnen, weitere werden folgen: An einem schweren Betonmast ist noch ein alter Lautsprecher installiert. Als der Wirt der Kneipe herauskommt, um seinen Hühnern auf der anderen Seite der Straße Essensreste in den Pferch zu werfen, frage ich ihn eher rhetorisch: "Die Dinger sind wohl noch aus alten Zeiten, oder?" Er grinst. "Ja, zu DDR-Zeiten hat unser Bürgermeister immer direkt aus seinem Bürgermeisteramt über diese Dinger Ansprachen und Ankündigungen an sein Volk gehalten. Die waren so laut, die konnte man nicht überhören. Babys, die schliefen, sind davon oft wach geworden." Einmal auf sie aufmerksam geworden, entdecke ich jetzt diese Lautsprecher etwa alle 20 Meter. Benutzt werden sie seit 25 Jahren nicht mehr, es hängt sie aber auch niemand ab.


Vom Wirt erfahre ich noch eine nette Geschichte: Ab dem Kriegsende gehörte Käßlitz zur sowjetisch besetzten Zone, ihr Nachbarort Dürrenried zur amerikanischen Zone. Die Käßlitzer Bauern benötigten dringend eine Dreschmaschine, konnten aber in der gesamten sowjetischen Zone keine auftreiben. Die Dürrenrieder Nachbarn kamen zu Hilfe. Aus dem Erlös des Holzeinschlages im Käßlitzer Wald, der auf bayerischem Gebiet lag, beschafften sie eine neue Dreschmaschine und fuhren sie im Schutz des Morgennebels in den Nachbarort. Dass sie dabei niemand bemerkte, lag vielleicht daran, dass die Grenzschützer am Abend zuvor zu einer ausgiebigen Feier eingeladen waren.


Hinter Käßlitz kommt jetzt der große tendenzielle Richtungswechsel meiner Grenzwanderung. Ging es bisher immer grob westwärts, geht es ab nun nach Norden, nach oben, hinab, aufs Meer zu, noch etwa 1.100 Kilometer.


Und jetzt schlägt auch wieder der Bestimmer dieser Tour zu, dem ich im wesentlichen zu folgen habe: der Kolonnenweg. Eine halbe Stunde nach Käßlitz biege ich wieder auf ihn ein. Ich balanciere wieder zwischen Lochreihe zwei und drei, damit die Wheelieräder zwischen den Reihen eins und zwei bzw. drei und vier materialschonend rollen können. Inzwischen ist das schon fast Routinesache. Der Blick bleibt aber auf die Löcher geheftet, umherschweifendes Schauen könnte sich rächen. 


Wer hat überhaupt diese vielhunderttausend Platten verlegt? Wer hat die Tausende Kilometer Zäune gezogen und Gräben ausgehoben? Wer hat Minen verlegt und Selbstschussanlagen montiert? Wie dachten diese Menschen? Bin nur ein Rädchen. Sind eben Befehle. Auch dieser Tag geht vorbei. Übliche Scheiße halt. Der Honecker wird es schon wissen. Für etwas müssen die Bonzen ja gut sein. Rückwärts nimmer. Dienst ist Dienst. 


Wenn der Blick beim Gehen nicht abgelenkt werden kann durch die Natur links und rechts, schießen die Gedanken ins Kraut: Wenn die Platten drei Meter lang sind und in zwei Reihen verlegt wurden, sind das pro Kilometer 666 Platten, sind das auf 1.394 Kilometer - halt, es gibt den K-Weg nicht auf jedem Meter Grenze, ab und zu kürzt er Zipfel ab. Dafür wurden die Platten manchmal auch quer verlegt, also eine Platte pro Meter. Und die ganzen Zu- und Abgänge, Querwege im Wald, von der Grenze zur Straße, zur Kaserne. Wer hat all die Platten gegossen? Und wo überhaupt? Wer hat sie transportiert? Zu wievielt haben sie die eine Platte von wo heruntergehoben? Wie wurde zuvor der Untergrund behandelt? Und hier eine Variante: nicht vier auf sieben Reihen Schlitze, sondern drei auf sechs. Zehn Schlitze weniger pro Platte. Irrtum oder Experiment? Hat sich offensichtlich nicht durchgesetzt. Oppositioneller oder fahrlässiger Fehlguss? Und dann noch die ungelöcherten, die blanken, der volle Beton, die geschlossene, die plane Platte. Nach welchen Kriterien wurde wo welche gewählt? Eine Frage von Herstellungsdistrikt oder Verlegungsbezirk? Es kann doch hier keine Zufälle geben? Was kann ich für meine Gedanken.


Endlich wird der K-Weg mal zerschnitten, von der Verbindungsstraße Hellingen (Thüringen) und Allertshausen (Bayern). Am 12.12.89 wurde hier die Grenze geöffnet. Menschen von beiden Seiten, zu denen sich die Öffnung wie ein Lauffeuer herumgesprochen hatte, kamen zusammen, fielen sich in die Arme. Verwandte, ehemalige Freunde, Fremde. Ein Gedenkstein am Straßenrand erinnert an diesen Tag, ein Foto auf einem Großplakat zeigt die Szene. Was ich sehe, lässt mich reflexhaft sentimental werden angesichts der Verbrüderungsbilder aus dieser frühen Wendezeit. Da waren die Glücksgefühle frisch und tief und sie steckten an. Es waren jeweils nur ein paar Minuten Weltgeschichte, aber sie waren groß.


Noch ein paar Kilometer K-Weg, dann verlasse ich ihn wieder, kürze etwas ab über Schweickershausen, dort gibt es ein Gasthaus. Nicht irgendein Gasthaus, sondern ein Schloss-Gasthaus. Schweickershausen ist wieder so ein Dorf, dass mir sofort ausnehmend gut gefällt. Fachwerk, kleines Brauhaus, kleines Backhaus, bunte Gärten, Zwiebelturm-Kirche auf dem Dorfhügel - und direkt in Nachbarschaft dazu das ehemalige kleine Schloss. Bis in die 70er-Jahre war es noch Kaserne, bevor die Truppe woanders hin verlegt wurde. Ab 1974 war das Schloss ein Krankenhaus. Nach der Wende wurde es zunächst als Schullandheim genutzt und dann zum Schlosshotel ausgebaut. Für den Zeitraum von gerade mal 40 Jahren eine ganz schön bewegte Geschichte. 


Draußen auf der Schlosswiese sind Tische und Stühle aufgebaut, es sitzen aber kaum Leute dort in der Sonne. Ich parke mein Wheelie und gehe in die Gaststätte, um mir eine Suppe zu bestellen. Drinnen ist es voll mit Menschen. Sonntag - Muttertag - Ausflugswetter. Es herrscht dicke Luft, riecht essensschwanger. Hätte ich größeren Hunger, wäre ich jetzt schon vom Geruch halbsatt. Wirt und Kellnerin haben Stress, nehmen aber freundlich meine Bestellung entgegen. Nur Minuten später löffel ich zufrieden eine äußerst schmackhafte Spargelcremesuppe


Dann geht es auf den Endspurt für heute. An den alten LPG-Gebäuden vorbei, durch weite Felder, nochmal zwei Kilometer K-Weg, dann ein breiter Weg durch einen wunderschönen Wald. Hochstämmige Fichten, gesprenkelt vom Sonnenlicht. Ich atme tief die Luft ein. Inhaliere. Höre Vögel, höre den Wind, sonst nichts. Macht mich ganz ruhig. Naturtherapie.


Als ich aus ihm heraustrete, sehe ich Zimmerau vor mir, und den Bayernturm, und den Berggasthof, meine Unterkunft. Aber es sind noch fast drei Kilometer. Ich arbeite mich ran.


Es war in den Sechzigern. Der Bürgermeister von Zimmerau hat zusammen mit seinem Kollegen aus dem Nachbardorf Sternberg und dem damaligen Landrat das Ding ausbaldowert: Wir bauen einen Turm. Dann kommen alle zu uns, zahlen eine Mark, klettern hoch, kucken runter und haben einen schönen Blick auf die Grenze und darüber hinweg, in die Zone, also hinein ins Thüringische. Und so geschah es. Sie bauten ein Treppenhaus auf eine Höhe von 40 m, setzten oben eine Plattform drauf, verschalten alles mit Eternit-Wellplatten und nannte es - obwohl in Franken! - Bayernturm, um ein paar Fördergelder aus München zu bekommen. Dann stellten sie am Wochenende eine Bratwurstbude davor und Männer mit Uniformmützen, die die Autos auf Parkplätze einwiesen. Die Bratwurstbude wurde größer, scharte Biertische um sich, wurde ein Gasthof, wuchs zur Pension heran, bekam einen Anbau mit weiteren Zimmern für ganze Busladungen von Turmbesteigern und DDR-Kuckern. Der Bürgermeister hatte seine kleine Brauerei längst aufgegeben und war Wirt geworden - und seine Frau die Jodler-Wirtin. Ihre Single behauptet bis auf den heutigen Tag den zentralen Platz in der Musikbox des Berggasthofs Bayernturm, neben Marianne und Michael und den Flippers.


Viel Volk strömte nach Zimmerau, die deutsch-deutsche Grenze war eine Attraktion. Man sah den Turm von weitem und machte Pause: mit fränkischer Brotzeit in schöner Gegend, mit kommunistischem Grenz-Grusel aus sicherer Entfernung und mit der jodelnden Wirtin. Alles lief gut. Bis 1989. Als alles anders wurde. Na ja, nicht ganz. Es lief noch fünf Jahre länger: bis alle Ossis, die den Turm ja auch vom Sehen kannten, den Fernblick zu sich nachgeholt hatten. Schließlich noch ein paar Reisegruppen von Holländern, denen die Berge schon hoch genug waren und die Biere billig. 


Das alles erzählt mir der heutige Wirt, der Sohn des damaligen Bürgermeisters, und fügt mit süß-saurem Gesichtsausdruck hinzu: "Es muss auch Verlierer der Wende geben." 


Als ich beim Turm ankomme, stehen drei Autos und zwei Motorräder auf dem Parkplatz. Der Wind greift unter die losen Eternitplatten und rüttelt an ihnen. Ich besteige ihn nicht, die Aussicht ist von hier oben auch so gut. Der TÜV scheint in Franken sehr großzügig zu sein.


In den Berggasthof scheint der Bürgermeistersohn dennoch nochmal etwas investiert zu haben. Die Außenwände sehen frisch gestrichen aus, mein Zimmer ist gepflegt und sauber und mit einem Blick vom Balkon bis weit nach Thüringen hinein. Das Abendessen in einem der drei hintereinanderliegenden Gasträume, in dem außer mir noch sechs weitere Personen sitzen, schmeckt vorzüglich und dazu klingt Oldie-Musik. Irgendwann geht der Wirt zur Musikbox, wirft ein Geldstück ein, drückt einen Knopf - und dann erklingt die jodelnde Wirtin, Gott hab sie selig. Einmal am Tag muss das wohl sein, ein Kult, der gepflegt wird.


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Filmkulisse

Bad Rodach - Lindenau (20 km)


Der Start am Morgen geht schnell. Ich kann in meinem Zimmer alles stehen und liegen lassen, sogar mein Wheelie. In meinem heutigen Zielort soll es keine Übernachtungsmöglichkeit mehr geben, daher bleibe ich zwei Nächte in der Hirschmühle. Was mich etwas mehr bekümmert, ist die Tatsache, dass es zwischen Lindenau und Bad Rodach keinen Busverkehr gibt. Das bedeutet für mich wieder kräftige Taxikosten. Aber was soll ich machen?


Am Holztor der Hirschmühle verabschiedet mich der hofeigene Irische Setter, ein bereits etwas ältlicher Herr. Er sabbert mir einmal über die hingehaltene Hand, das soll wohl "Tschüss, bis nachher!" heißen. Auf den ersten hundert Metern fliege ich förmlich die Straße entlang und ich frage mich, woran das liegt. Dann wird mir klar, dass ja mein Wheelie nicht hinter mir herrollt. Schon komisch und ungewohnt ...


Ich schenke mir den Aufstieg zur Henneberger Warte, dem Aussichtsturm auf dem Georgenberg, sondern umgehe ihn auf einem Radweg der wenig befahrenen Straße nach Heldburg. Ich werde sowieso den Verdacht nicht los, dass die Wegführung hier bewusst so gelegt ist, damit die dortige Ausflugsgaststätte Kundschaft erhält. Nach knapp drei Kilometern kann ich die Straße hinter mir lassen und auf einem breiten Waldweg einen wunderschönen Mischwald genießen. Die Sonne scheint durch die Zweige bis auf den bemoosten Waldboden, es riecht schwer erdig-waldig und der Kuckuck begrüßt mich in seinem Revier. Aus dem breiten Waldweg biege ich bald in einen schmalen Pfad durch einen reinen Eichenwald ein, treffe auf dicke alte Grenzsteine mit den eingeschlagenen drei Buchstaben "HSC" für "Herzogtum Sachsen-Coburg" und weiß nun, dass ich mich an der bayerisch-thüringischen Grenze befinde. Lange Zeit war sie eine problemlose Grenze, dann wurde sie zum Eisernen Vorhang. Zwischen zwei Büschen sehe ich auch plötzlich den Kolonnenweg hindurchblitzen, wie er sich mal wieder einen Steilhang empormüht. Minuten später wendet sich der Pfad nach rechts, ich verlasse den Hochwald und gehe durch relativ junges Gehölz. Sofort merke ich: Jetzt überquerst du gerade den Grenzstreifen, der Wald hat nur damit begonnen, ihn wieder in Besitz zu nehmen. Dann der Kolonnenweg - da isser widder!


Zwei Kilometer beschäftigt er mich heute nur, ist wieder auf Schmusekurs. Wie eine kleine Kinderachterbahn schlängelt er sich über harmlose Höhen, die mir aber auch deshalb noch einfacher als in den letzten Tagen vorkommen, da ich keinen Wheelie hochziehen muss. In den Löchern wachsen immer öfter schöne Wiesenblumen, so als wollten sie mich mit diesem Weg versöhnen. Heute ist der Kolonnenweg also nett, irgendwann wird er mich wieder mehr ärgern.


Nah bei der Grenze, keine 500 m entfernt, liegt Billmuthausen, d.h. lag Billmuthausen. Wie z.B. Liebau lag das kleine Dorf der DDR-Regierung zu dicht an der Grenze. Einige Familien setzten sich bereits 1952 nach Bayern ab. 1961 wurden 50 Bürger im Zuge der "Aktion Kornblume" zwangsausgesiedelt. Eine der Begründungen lautete: "Durch Übergriffe aus dem nahen Bayern gefährdet!" Denen, die blieben, wurde Mitte der 70er-Jahre nahegelegt, sich andere Bleiben zu suchen. Da war die Dorfkirche bereits abgerissen. Es folgten die Mühle und 1978 dann der Rest. Das Gelände wurde komplett mit Muttererde überdeckt. Im Arbeitsbericht hieß es hinterher: "Gewinnung von einem Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche ..." Aus dem Friedhof wäre wahrscheinlich auch Acker geworden, hätten sich die Hinterbliebenen nicht geweigert, ihre Begrabenen exhumieren zu lassen. Wenigstens vor den Toten zeigten die Behörden Respekt. An das Dorf erinnern nur noch der kleine, gepflegte Friedhof mit einer Gedenkkapelle und ein schlankes Trafohäuschen, das man hat stehen lassen, wie so oft bei den geschleiften Dörfern, um die Grenzer mit Strom zu versorgen. Den Dorfresten gegenüber steht noch auf einem Hügel ein alter Grenzturm, besetzt von Vögeln, Fledermäusen und anderem Getier. Der Turm gehört jetzt den Naturschützern.


In einem kleinen Holzpavillon warte ich eine Regenschauer ab, die zu keinem günstigeren Zeitpunkt hätte kommen können. Eine Rast wollte ich hier sowieso machen. Als Petrus den Hahn wieder zudreht, gehe ich weiter, auf Bad Colberg zu. Eine kleine Straße führt mich hin, kaum gegenverkehrstauglich, deshalb begegnen mir auch kaum Autos. Aber schön ist es hier. Die Rodach fließt in weiten Schwingungen durch satte Wiesen und Raps und Löwenzahnteppiche verpassen dem Tal mehr Gelb als üblich. 


Ich komme nach Bad Colberg. Gekurt wird hier seit 1910. Auf der Suche nach Kalisalz wurde damals in 470 m Tiefe zufällig eine Thermalquelle angebohrt, 36° Grad warm. Später wurden noch drei weitere Quellen erschlossen. In der DDR, dem Arbeiter- und Bauernstaat, in dem angeblich alles dem Volk gehörte, durften nur ausgesuchte linientreue Patienten von den Heißwassern profitieren. Der Ort lag im Sperrgebiet. Die Klinik unterstand dem Ministerium des Innern. In den Kurlisten des DDR-Gesundheitswesens tauchte sie gar nicht erst auf. Insider nannten Bad Colberg auch "das Stasibad". Eigentlich ist der Ort zweigeteilt. Außerhalb liegen die Kureinrichtungen, irgendwie überwältigend groß. Jugendstil-Trinkhalle mit Wandelhalle, Kurpark, modernes Rehabilitationszentrum, Terrassen-Therme. Das alte Colberg, durch das mein Weg führt, ist klitzeklein, etwa 150 Einwohner soll es geben. Eine Kirche, um die sich ein paar ehemalige Bauernhäuser scharen, das ist alles.


Von Bad Colberg ist es nur ein Katzensprung bis Ummerstadt, der zweitkleinsten Stadt Deutschlands mit ca. 350 Einwohnern, ein umwerfend schönes Städtchen. Herrliche Fachwerkhäuser prägen das Bild, keines ist heruntergekommen. Wenn auch nicht ein Museumsdorf, das von Touristen überschwemmt wird. Hier wird ein ganz normaler Alltag gelebt. Doch damals lag Ummerstadt mitten im Grenzgebiet, in der Sperrzone. Der Ort war so von der Außenwelt abgeschnitten, dass die Leute von der Wende erst "auf der Arbeit" erfuhren. 


Ich schlendere über den Marktplatz, ab und zu rattert ein Auto über das grob verlegte Pflaster. In der Mitte plätschert der Marktbrunnen, ein alter Mann füllt dort gerade einen Eimer mit Wasser. Spatzen suchen in den Pflasterritzen nach Krümeln. Ich setze mich draußen an die groben Biertische der Ratsschänke. "Bestellen Sie bitte an der Theke!" steht auf einer kleinen Schiefertafel. Drinnen in der Gaststube ist es warm, zu warm für jemanden, dessen Kreislauf vom Wandern noch reichlich in Wallung ist. Gerne würde ich jetzt eine Portion Spargel bestellen, alle essen hier gerade Spargel, es riecht köstlich. Aber ich bescheide mich, entscheide mich für etwas aus der Abteilung "Für den kleinen Hunger" und bin wieder draußen. 


Inzwischen sind dunkle Wolken herangezogen, sehr dunkle Wolken, es grollt am Firmament. Als die Kellnerin mir meine Apfelschorle bringt, spannt sie mir den großen Schirm auf. "Für alle Fälle!" meint sie. Die "Fälle" kommen schneller als gedacht. Innerhalb von Sekunden blitz, kracht und schüttet es wie aus Kannen - und ich sitze trocken unter dem Schirm und verspeise meinen gebackenen Camembert. Gerade als ich mir den Mund mit der Serviette abwische und den letzten Schluck aus dem Glas nehme, ist der Spuk auch schon wieder vorbei. Zweimal Regen, zweimal hervorragend ausgesessen. Ich bin sehr mit mir zufrieden.


Aus dem Tal der Rodach geht es nochmal etwas auf die Höhe in den Wald hinein, und jetzt wird es Zeit für mich, das Taxiunternehmen anzurufen. Frau Taxi und ich verabreden uns für exakt eine Dreiviertelstunde später an der Kirche in Lindenau. Beide halten wir die Zeit auf die Minute genau ein und es geht wieder zurück nach Bad Rodach. Als ich unterwegs auf den Taxometer schaue, wird mir doch etwas schlecht. Also ich finde, Bus- und Taxiunternehmen sollten ihre Kosten mal etwas angleichen. Jedenfalls lasse ich mich nicht an der Hirschmühle raussetzen, sondern bei REWE. Ich kaufe mir einen kleinen Eimer Joghurt. Abendessen im Restaurant fällt heute aus!


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Darf ich vorstellen? Der Kolonnenweg!

Eisfeld - Bad Rodach (21 km)


Bianca und ich frühstücken früh um 7 Uhr gemeinsam. Tino ist schon zur Frühschicht. Um 8 Uhr verabschieden wir uns voneinander und es drängt mich, ihr zu sagen, wie wohl ich mich bei ihnen im Haus gefühlt habe.


Es scheint ein weiterer sonniger Tag zu werden, wie in den letzten Tagen auch schon. Der Weg heute läuft im Wanderführer unter der Kategorie "einfach", auf die ganze Strecke gesehen ohne nennenswerte Steigungen. Das erste Örtchen nach Unterquerung der Autobahn ist Herbartswind. Nicht viel los, besser gesagt gar nichts. Ein paar Gartenzwerge in den Vorgärten, eine alte Frau führt ihren Pinscher Gassi und ein Opa steht mit einer dicken Zigarre hinter seinem Gartenzaun und schaut mir verwundert hinterher. Früher sind die Wanderer noch mit einem Rucksack unterwegs gewesen und nicht mit solch einer Karre. Es ist eben alles nicht mehr so, wie es mal war.


Hinter Herbartswind soll ich bald wieder auf den Kolonnenweg stoßen. Es geht von der Straße einen Wirtschaftsweg links aufwärts, dann biege ich rechts ab - auf den vermeintlichen Kolonnenweg. Aha, denke ich mir, netterweise haben sie ja hier die Lochbetonplatten weggenommen, geht doch gleich viel besser!  Natürlich habe ich den falschen Abzweig genommen, der breite Weg führt nach einiger Zeit wieder auf die Straße zurück. Na prima! Jetzt sehe ich auf der Karte auch, wo ich den Fehler gemacht habe.  Wer sich auf rote Wanderwegmarkierungen konzentriert, übersieht schon mal die einfach dargestellten Wege und biegt verkehrt ab. Zurück gibt's nicht! Also die Straße weiter und bei passender Gelegenheit wieder links ab. Die Gelegenheit kommt nach etwa zwei Kilometer,  aber steil den Berg hoch über einen weichen, ausgewaschenen Waldpfad. Wieder ist Keuchen und Schwitzen angesagt, das war für heute eigentlich nicht vorgesehen. Doch dann bin ich oben am Grenzstreifen, am Kolonnenweg.


Ab jetzt wird es tatsächlich eine schöne Wanderung: Der Kolonnenweg bestimmt für Kilometer die nächsten Stunden,  er schwingt sich nur in einem leichten Auf und Ab durch die offene Feldflur, und wenn man schon anfangen möchte, ein wenig zu schnaufen, hat man den kleinen Hügel auch schon geschafft und es geht wieder sanft bergab. Der Blick gleitet weit über die Felder, auf dem Grenzstreifen blüht der Löwenzahn und manch anderes mehr, Jägeransitze stehen neben dem Plattenweg anstelle der früheren Wachtürme, es ist still, nur das Zwitschern der Vögel und Zirpen der Grillen. Der Kolonnenweg lullt einen auf solchen Abschnitten fast ein - und das könnte gefährlich werden.


Seine Platten nötigen einen zu ständiger Auseinandersetzung: Selten gibt es Passagen, wo die Füße ihren Weg unbeschadet ganz alleine fänden. Die Lochbetonlöcher sind in der Regel nicht groß genug, um mit einem Wanderschuh normaler Größe komplett hineinzurutschen. Dennoch zieht der Wanderer es vor, zwischen den Plattenbahnen zu laufen,  was aber oft genug nicht geht: zu uneben, zu hoch bewachsen, zu nass.


Muss ich das vielleicht nochmal in Ruhe erklären? - Mein Grenzweg ist meist der Kolonnenweg, auch Plattenweg genannt, auf dem die DDR-Grenztruppen patrouillierten, kontrollierten, observierten: ein Band - eigentlich zwei Bänder - ausgelegter Betonplatten unterschiedlicher Ausführung. Diese Platten sind drei Meter lang, einen Meter breit und 15 cm dick. Sie haben entweder eine Art Lochgitterstruktur in sieben Quer- und vier Längsreihen, weisen also - so es sich um Lochbetonplatten handelt - jeweils 28 Löcher auf. Es gibt aber auch Passagen mit Platten aus lochlosem Beton, die allenfalls an den Stirnseiten, dort, wo sie aneinandergelegt werden, entweder eine oder zwei lochähnliche Vertiefungen mit Eisenringen haben, die zur Erleichterung der Transport- und Verlegeabläufe angebracht sind. Der K-Weg verläuft üblicherweise völlig parallel zum Grenzverlauf und orientiert sich entsprechend nicht am Gelände -  sondern nimmt in starken Neigungen Berg und Tal. Manchmal - in Kurven oder an besonders steilen Abschnitten, aber auch dort keinesfalls regelmäßig - werden die Platten auch mit der Längsseite direkt aneinander, also quer verlegt, so dass es keinen Grünstreifen zwischen den Plattenbahnen gibt. In seltenen Fällen, zum Beispiel in tiefen Taleinschnitten, oder dort, wo der Grenzverlauf in kurzen Abschnitten extrem gezackt ist, wo man deshalb die Abfolge der einzelnen Kontroll-, Schutz-, Sicherheitsstreifen gar nicht mehr unterbringen konnte, weil die gesamte Grenzbefestigungsanlage sonst breiter wäre als das zur Verfügung stehende Staatsgebiet, nimmt der K-Weg auch schon einmal eine Abkürzung. Ich hoffe, ich habe mich insgesamt klar ausgedrückt.


Nach kurzer Zeit auf einem fast "idyllischen" Kolonnenweg werde ich in die damalige Grenzrealität zurückgeholt. Im Grenzstreifen stehen Kreuze, drei hölzerne, das vierte aus Stahlrohren. Im Gras liegen welke Blumensträuße und ein kleiner verdorrter Kranz. Am 19.12.75 erschoss hier der fahnenflüchtige NVA-Soldat Werner Weinhold die beiden Grenzsoldaten Seidel und Lange, bevor er um 2.40 Uhr in der Nacht über das hartgefrorene Minenfeld flüchtete. Der Geflüchtete tauchte bei Verwandten im westfälischen  Marl unter. Nach bundesweiter Fahndung wurde er im März 1976 an der deutsch-niederländischen Grenze festgenommen und vor Gericht gestellt. Im ersten Prozess mangels Beweisen freigesprochen, verurteilte ihn die nächste Instanz zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis. Die Stasi entwarf danach verschiedene Mordpläne, um ihn zur Strecke zu bringen. Umgesetzt wurde keiner.


Nachdenklich gehe ich weiter. Immer noch riesige Felder, grün vom heranwachsenden Korn oder gelb vom blühenden Raps, ein Hase jagt über ein Feld, etwas später ist es ein Fuchs. Ab und zu kreuzt eine kleine, erst nach der Wende angelegte Straße den Kolonnenweg. Früher war hier Schluss. Ab und zu quert ein Auto den ehemaligen Todesstreifen. Ob der Fahrer, der dort im Auto sitzt, weiß, wo er sich just in diesem Moment befindet. Kennt er noch die Grenzsituation von damals oder gehört er zu der Generation, für die das alles schon lange vergessen ist?


Es ist Pausenzeit. Eine Bank gibt es nicht, aber eine große Ruhe ringsherum. Das Gras neben dem K-Weg ist trocken, nicht wie in den letzten Tagen meist tau- oder regennass. Ich lege mich hinein und strecke mich aus. Während ich ein Brötchen kaue, schaue ich mich in der Gegend um. Ein schöner Moment. Ein Windböe lässt das schon recht hohe Gras auf dem Grenzstreifen tanzen.  Der Himmel ein betäubendes Blau. Nur im Westen hat jemand Schäfchenwolken auf die Leinwand getuscht. Ein Zitronenfalter setzt sich auf meinen ausgezogenen Schuh, ich schließe die Augen, höre noch diverse Insekten an meinem Ohr vorbeisummen, verschiedenste Vogelstimmen - dann höre ich gar nichts mehr. Als ich die Augen wieder öffne und zur Uhr schaue, ist der große Zeiger schon eine halbe Stunde weitergerannt.


Nach etwa zehn Kilometern Kolonnenweg ist es genug. Ich schenke mir eine große Schleife Grenzverlauf und gehe über Heldritt direkt auf mein Tagesziel Bad Rodach zu. Die "Kurwürde" für Rodach wurde noch während der deutschen Teilung gelegt. Anfang der siebziger Jahre begann man mit der Suche nach einer Thermalquelle. Bei einer Bohrtiefe von 652 m wurde man fündig. Eine 34° warme Quelle wurde erschlossen, und bald konnten Touristen und Einheimische in dem warmen Wasser baden. Ein Kurpark entstand, Jahre nach der Wende weihte man ein Klinikum ein. Seit 1999 heißt der Ort offiziell Bad Rodach.


Ich muss den gesamten Kurort durchqueren und noch einen weiteren Kilometer hinter dem Kurzentrum erreiche ich endlich mein Ziel, die Pension Hirschmühle, ein alter, romantisch dreinschauender Dreiseitenhof. Die Chefin des Hauses ist gerade draußen bei der Gartenarbeit. Als ich um die Hausecke biege, kommt sie mir freudestrahlend entgegen und reicht mir ihre schmutzige Hand zum Gruß.



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"Meyer, Deutschland!"

Meilschnitz - Eisfeld (23 km)


Ich hatte es schonmal so: Im Zimmer komplett angezogen, d.h. inclusive Anorak, vor der Tür dann die Erkenntnis, dass es  draußen dafür eigentlich jetzt schon, trotz der relativ frühen Abmarschzeit, viel zu warm ist. Also vor der Tür Anorak wieder aus! So auch heute früh wieder vor dem "Gästehaus Monika" in Meilschnitz. Die "Marscherleichterung" hat umso mehr ihre Berechtigung, da es ja vom Ortsende an direkt wieder bergauf geht. Erträglich zwar, da nicht direkt wieder der Kolonnenweg ansteht, sondern die wenig befahrene Landstraße, aber immerhin. Der Kreislauf kommt direkt wieder ordentlich in Gang, ich puste und schwitze. Meine schweißsaugende Funktionsunterwäsche kriegt gut zu tun. Nur die Mücken verderben mir den Spaß ein wenig und winzig kleine Fliegen, die unbedingt in meinem Gesicht landen müssen, ertrinken in meinen Schweißperlen.


Oben angekommen erwartet mich eigentlich schon wieder der Kolonnenweg und freut sich diebisch auf meinen genervten Gesichtsausdruck. Aber ich huste ihm was. Nur wenige Meter Umweg sind es, die mich auf den "Schaumberger Panoramaweg" bringen, und damit auf eine Wegalternative, die mich weit komfortabler die nächsten Kilometer absolvieren lässt. 


In Rückerswind, diesem kleinen thüringischen Ort nur einen Steinwurf entfernt von der ehemaligen Grenze, ist um diese Zeit um kurz vor 9 Uhr nur das Plätschern der kleinen Fontäne im Dorfteich zu hören, ansonsten ist alles still. Die örtliche Feuerwehr hat ihre Schläuche fein säuberlich neben dem Teich zum Trocknen ausgelegt, penibel einen neben dem anderen. Am Anschlagbrett wird zum "Männertag" an Himmelfahrt eingeladen. Getränke gäbe es reichlich. Außerdem steht noch der nächste Blutspendetermin an. Glücklicherweise nicht am folgenden Tag.


Dann geht es abwärts, steil hinab ins Effelder Bachtal. Meine Wheeliebremse tut mal wieder tapfer ihre Dienste und ich möchte diese kleine Straße nicht in umgekehrter Richtung gehen müssen. Wenig später stehe ich am Ufer des Froschgrundsees. Was auf den ersten Blick aussieht wie ein schöner Natursee, ist aber keiner. Schnell fällt einem die Staumauer ins Auge. Den See würde es ohne die achtzig Kilometer lange Ilz nicht geben. Hier wird ihr Wasser aufgestaut. Der See ist ein Wasserrückhaltebecken, bereits vor der Wiedervereinigung gebaut, um die Stadt Coburg vor Hochwasser zu schützen. Zu oft hatte die Stadt zur Zeit der Schneeschmelze im Thüringer Wald und bei sommerlichen Starkregenperioden unter Hochwasser zu leiden. Doch weniger der See, sondern mehr noch die den See überspannende Brücke der ICE-Neubaustrecke Erfurt - Nürnberg wird wohl den vorbeiziehenden Menschen beeindrucken. Ein 270 Meter langer Betonbogen spannt sich über den See, um eine 798 m lange und 65 m hohe Brücke zu tragen, Deutschlands weitest gespannte Betonbogenbrücke halt. Doch sie ist nur eine der Brücken für die neue ICE-Trasse, die dafür sorgt, dass Zugreisende in vier Stunden von Berlin nach München reisen können. Für Kritiker allerdings ist damit das schöne Tal des Froschgrundsees regierungsgenehmigt verschandelt.


Ich gehe über die Staumauerkrone, wandere am westlichen Ufer des Sees entlang, durchquere den hübschen Ort Weißenbrunn, dessen Bemühungen um eine Dorfverschönerung schon wiederholt mit Auszeichnungen beim Wettbewerb "Unser Dorf hat Zukunft" belohnt wurden, und keuche dann wieder hinauf auf die Höhe von Emstadt. 


Eine "Stadt" ist Emstadt weiß Gott nicht, nur ein hoch gelegenes Dorf im oberen Lautertal, hineingeduckt in eine sackartige Ausbuchtung der DDR, auf drei Seiten von Bayern umgeben. Kein Wunder also, dass die Emstädter seit jeher enge Beziehungen zu den Nachbargemeinde im (bayerischen) Coburger Land pflegten. Hierhin war man verschwistert und verschwägert. Im Sommer 1952 bekamen die Bürger des Ortes Wind von der Planung der "Aktion Ungeziefer", die vor allem auf die so genannten Grenzgänger abzielte, also auf Menschen mit engen Kontakten nach "Drüben". Vier Familien entschlossen sich daraufhin, den Räumungskommandos zuvorzukommen. Sie packten ihre Sachen auf einen Wagen und zogen über die damals noch offene Grenze hinunter ins Coburger Land, wo sie bei Verwandten unterkamen. Die Gehöfte der Flüchtlinge verfielen. 1976 wurden sie auf Anweisung von oben dem Erdboden gleichgemacht. 


Hinter Emstadt darf mich dann endlich wieder der Kolonnenweg begrüßen, der von hier aus sich in langer Linie entlangstreckt bis Görsdorf. Ich weiß, ich habe bisher nahezu über alle Kolonnenwegabschnitte gemeckert. Doch dieser hier ist anders. Auf der Höhe schwingt er sich in leichtem Auf und Ab an einem ehemaligen Grenzstreifen entlang, der so harmlos und friedlich aussieht wie selten einer zuvor. Wo damals bewusst eingesetzte Pestizide verhinderten, dass auch nur ein Grashalm wuchs, steht heute das Heidekraut, die Schmetterlinge gaukeln hin und her, die Vögel tirilieren links und rechts im Wald - eigentlich macht es direkt Spaß, hier zu wandern. Doch darf es "Spaß machen", hier zu wandern? Wo ein Regime alles daran setzte, Menschen die Freiheit zu nehmen? Noch ein junges Menschenleben zurück, vor 26 Jahren, lauerte auch in dieser Gegend der nahezu sichere Tod auf jeden, der sich herwagte. Die Gedanken kommen bei mir immer wieder an diesen Punkt. Die Schritte auf den Betonplatten des Kolonnenwegs lenken auch den Kopf. Und doch wäre es gelogen, nicht zuzugeben, dass ich auch mal gut gelaunt und leise singend hier entlanggehen kann, ohne ständig die historische Tiefe wie einen doppelt so schweren Wheelie hinter mir herzuziehen.


In Görsdorf mach ich Pause. Zum einen wird es dazu jetzt mal Zeit, zum andern ist die Bank neben dem plätschernden Dorfbrunnen einfach zu einladend. Kaum habe ich mich auf ihr breitgemacht, kommt aus dem Haus direkt gegenüber ein alter Mann auf mich zumarschiert. Mein Wheelie erweist sich mal wieder als hervorragender Gesprächs-Opener und nach dem ersten Woher und Wohin, ist der nette Herr nicht mehr zu halten. Stellmacher war er hier im Dorf, genau wie sein Vater auch schon. Ein Parteifunktionär habe diesen mal mit "Genosse Meyer" angesprochen, darauf der Vater: "Nix Genosse! - Meyer, Deutschland!" Auch der Versuch des Funktionärs, dem Vater doch mindestens ein "Meyer, DDR" abzuringen, erwies sich als Fehlschlag. Den Ruf des für die Partei unbequemen Patrons hat der Vater dann an seinen Sohn Reinhold, der jetzt immerhin auch schon um die 80 sein müsste, weitergegeben. Reinhold weigerte sich, der Partei beizutreten, und wollte auch den Kontakt zu seiner im Coburger Land lebenden Verwandschaft nicht abbrechen. "Es war äußerst schwierig, hier in der Sperrzone Besuch zu empfangen. Wenn überhaupt, dann nur Verwandte ersten Grades. Mindestens vier Wochen vorher musste man den Antrag stellen. Und ob er dann genehmigt wurde, war immer noch sehr fraglich." Möglicherweise ist er der Zwangsaussiedlung nur entkommen, weil er ein qualifizierter Handwerker war, dessen Dienste auch die Grenztruppen öfter in Anspruch nehmen mussten. Außerdem war er Wehrführer der örtlichen Feuerwehr, in seiner Handwerksinnung in führender Position - und Dirigent des Gesangsvereins. Kein Wunder, dass Reinhold Meyer nach der Wende Bürgermeister des kleinen Grenzortes wurde. Ihm ist es auch zu verdanken, dass ein kleines Stück der Grenzmauer, die seinerzeit als Sichtschutz auf der Höhe oberhalb von Görsdorf errichtet worden ist, als Mahnmal erhalten blieb. "Ich habe kürzlich mal wieder Anzeige gegen Unbekannt erstattet. An der Mauer sind wieder die verdammten Mauerspechte dran".


Weiter geht der Kolonnenweg bis nach Eisfeld. Hier steht meine Unterkunft für heute Nacht. Bianca und Tino empfangen mich überaus herzlich auf ihrem "Volkseigenen Gut", weit oberhalb von Eisfeld, in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer ehemaligen Grenzer-Kaserne. Ihr Haus mit seinen Anbauten lässt nicht mehr erkennen (außer am Namen), dass dies mal eine LPG war, die hier in diesem Gebäude eine wenig erfolgreiche Champignonzucht betrieb. Nach der Wende hatTino das Gebäude von der Treuhand gekauft und funktioniert es nun, zusammen mit seiner Lebenspartnerin Bianca, nach und nach in einen kleinen Fremdenzimmerbetrieb um. "Heute haben wir sogar die Baugenehmigung zum Ausbau weiterer Räume zu einem kleinen Café bekommen." Es geht immer weiter.


Mein Bett bekomme ich in einem Gästezimmer in ihrem Privatbereich, wir essen gemeinsam zu Abend und unterhalten uns auf zwei Bierlängen im Wohnzimmer über so vieles, das hier gar nicht alles niedergeschrieben werden kann. Doch eins muss ich einfach sagen: Die selbstverständliche große Gastfreundschaft und Herzlichkeit von Tino und Bianca haben mich tief beeindruckt. Und ich kann nur empfehlen: Grenzwanderer, kommst du nach Eisfeld, so halte ein am "Volkseigenen Gut" und genieße deinen Aufenthalt! Sei es zur Übernachtung oder vielleicht bald zu einer Rast in einem netten Café.


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Kampfkalb

Fürth am Berg - Neustadt bei Coburg / Meilschnitz (11 km)


Dieter ist ganz locker, als wir beim Frühstück sitzen und ich ihn frage, ob er wegen des heutigen etwas ungewissen Tages ein wenig nervös sei. Er zuckt nur die Schultern. "Ich habe ja auf alles keinen Einfluss. Ich kann ja nichts machen. Entweder ich erwische Züge, die in meine Richtung fahren, oder nicht. Wenn ich irgendwie aktiv sein könnte, planen müsste, reagieren müsste, wäre ich vielleicht jetzt nervös, aber so ..."


Das Taxi ist mehr als pünktlich. Wir steigen beide ein. Mich bringt es zurück zum Endpunkt von gestern, Fürth am Berg, Dieter zum Bahnhof nach Neustadt. Das liegt auf dem Weg. Als er aussteigt, kann ich ihm nur viel Glück wünschen und danke sagen für mehr als drei Wochen Gemeinsamkeit. Er wirft sich seinen Rucksack über und verschwindet ins Bahnhofsgebäude. Die Taxifahrerin gibt wieder Gas und zehn Minuten später lässt sie mich beim Pleite gegangenen Grenzgasthof in Fürth am Berg raus. Ich beginne, meinen Weg alleine zu gehen.


Es ist nicht mehr so warm und schwül wie gestern. Die Luft hat sich merklich abgekühlt und es ist ganz schön windig. Im schnellen Wechsel ziehen die Wolken über das Land und es ist fraglich, ob sie die Fracht, die sie transportieren, halten können. Wenn schon! Selbst wenn es regnen sollte, habe ich für alle Fälle meinen Schirm auf meinen kleinen Tagesrucksack gespannt. Ja, es ist wieder nur der Rucksack! Da ich nachher sowieso wieder in Meilschnitz ankomme, konnte ich meinen Wheelie ja bequem in meiner Unterkunft zurücklassen. Außerdem hat er auch mal einen Ruhetag verdient.


Heute wird es nur so eine Art Morgenspaziergang werden. Etwa zwölf Kilometer oder so. Also kann ich es langsam angehen lassen. Ein Falke flattert aufgeregt über einem Rapsfeld und ein Kuckuck ruft laut und vernehmlich, als wollten beide mir zurufen: "Heiiii, wo hast du denn deinen Kumpel gelassen??? Du hast doch immer einen dabei gehabt? Hast du den vergessen? Und wo ist dein Wheelie?" Was antwortet man diesen Tieren? Die verstehen einen doch nicht.


Auf kürzestem Weg ist jetzt wieder Grenzhüpfen angesagt. Zehn Minuten hinter dem bayerischen Fürth am Berg geht es kurz vor Muppberg wieder nach Thüringen hinüber. Der Ort selbst gibt sich weitgehend minderpulsierend, kein Mensch, kein Tier regt sich. Auf einer kleinen Brücke überquere ich die Steinach und gehe dann an ihr entlang. DDR-Grenzer haben den einst naturbelassenen Bach, der im Laufe der Jahrunderttausende die Landschaft hier zu einer ebenen Schwemmlandfläche (Linder Ebene) gestaltet hat, begradigt, was in Folge immer wieder zu Hochwasser führte. Unwillkürlich denke ich an weggeschwemmte Minen und blicke den Uferhang entlang. Natürlich entdecke ich nichts, erschrecke mich nur, als plötzlich eine Ente aus dem Wasser emporflattert und empört schnatternd sich beklagt, warum ich denn ihre Ruhe störe.


Wenige Meter danach verlasse ich für heute das Grüne Band, um direkt über Neustadt nach Meilschnitz zu gehen. Das Grüne Band berührt weder Neustadt noch Sonneberg. Genau zwischen beiden Städten verlief nämlich die Grenze und damit jetzt auch mein geliebter Kolonnenweg. Doch wo heute eine Straße beide Städte wieder verbindet, ist es nicht mehr "grün". Ich habe gelesen von Supermärkten, Autowaschanlagen und Fastfooddealern auf riesigen Parkplätzen, beflaggt von der üblichen Logoparade. Hier haben das thüringische Sonneberg und das bayerische Neustadt bei Coburg ihre ehemals grünen Wiesen zusammengeschmissen, auf dass alles, was Handel treibt, seine Zelte aufschlüge und riefe: Kommet herbei, schmecket und sehet und kaufet daraus, denn hier ist alles bereitet zu eurer Erfüllung und der eurer Kofferräume. Tatsächlich ist dort wohl die Grenze überwunden, dort ist zusammengewachsen, was uns wahrhaftig vereint; hier tun wir in Gemeinschaft das, was unser nun gemeinsames Land am Laufen hält. Dort sind wir vorbildliche Einheitsvollstrecker, vereint im Zeichen des Konsums, dort sind wir einig Vaterland. - Und dazu habe ich heute keine Lust!


Wo die Karte bei dem geplanten Abzweig einen rot markierten Wanderweg zeigt, zeigt sich mir nur eine große Wiese. Ich gebe zu, eine wunderschöne, satte, grüne Wiese, übersät mit Löwenzahnteppichen, ab und zu jungen Birken und eingerahmt von Fichtenwald. Kaum zu sehen, eher zu erahnen, nehme ich dort, wo eigentlich der Weg sein müsste, eine Treckerspur wahr. Irgendwann, vielleicht gestern, muss er hier hergefahren sein und weist mir jetzt den Weg. Doch das Gras ist schon recht hoch und immer noch nass und ich verwandle mich mal wieder in einen Storch, um meine Schuhe nicht total zu durchnässen. Und ich bin ein langsamer Storch, ich habe ja Zeit. Ich stakse die Treckerspur entlang, komme an mehreren kleinen Teichen vorbei, in denen die Frösche um die Wette quaken, biege um eine Waldecke, um auf eine weitere Wiese zu wechseln - und stehe vor einem Hund.


Der Hund an sich mag der beste Freund des Menschen sein, der beste Freund des Wanderers ist er nicht unbedingt immer. Wildschweine oder Rehe sind da irgendwie diskretere Tiere. Die Hundehalter unter den Menschen vergessen gerne, dass es noch andere Menschen gibt, auf die ihre Hunde treffen könnten, und lassen ihre angeblich nur spielwilligen Vierbeiner mächtig von der Leine. Ein Kampfkalb, Schulterhöhe 1,20 m, steht vor mir. Ich sehe keine Leine. Ich habe meine Füße fest in die Wiese gerammt. Der Hund seine auch. Man wittert. Ich höre ein Frauenstimmchen. Der Hund will es nicht hören. Das Stimmchen wieder. Der Hund pellt sich ein Ei drauf und nähert sich mir Schritt für Schritt. Das Stimmchen kommt nun auch um die Ecke geschlichen, ein Frauchen mit zwei Krücken. Und die will jetzt ihre Killermaschine an die Leine nehmen? Nach gefühlten zwei Stunden hat sie die Bestie doch mit fortwährendem Säuseln herbeigelockt und am Halsband gepackt. Ich fliege vorbei. "Das ist ja nur, weil er Sie nicht kennt!" höre ich das Frauchen hinter mir. Jau!


Das Thema beschäftigt mich noch bis nach Neustadt hinein und ich kann mich erst dann davon lösen, als ich bei Sonnenschein in Neustadt am Marktplatz vor einem kleinen Café sitze und einen starken Kaffee in mich hineinschlürfe. Auf dem Platz ist Blumenmarkt. Man/frau kauft Pflanzen für Balkon, Terrasse und Garten, es ist bunt, es duftet. Metallkörbchen auf Fahrradgepäckträgern werden mit Pflänzchen gefüllt, palettenweise Grün-Bunt wird in den nahebei parkenden Autokofferräumen verstaut. Die Glocken von St. Georg läuten zum High Noon, alles in allem ein stimmiges Bild.


Ich mache mich auf die letzte Stunde Fußmarsch. Ohne einmal links oder rechts abzubiegen, laufe ich schnurstracks durch Neustadt. Hinter einer Spielzeugfabrik mit Weihnachtskugelnabteilung verlasse ich das Städtchen und strebe endgültig Meilschnitz zu, immer an der Straße entlang, die ich in entgegengesetzer Richtung heute Morgen auch schon mit dem Taxi genommen habe. Macht nichts, trotzdem schön! 


Ich zähle meine Schritte pro Minute. Sie sind der Motor meines Gehens und sowas wie der Herzschlag meiner Wanderung. Es ist großartig, dieses Zusammenspiel von Bewegungsapparat, Atmungsorganen und Herz. Nichts wehrt sich, alles spielt zusammen wie bei einem großen Orchester. Inzwischen ist das Wetter besser geworden. Die vorbeiziehenden Wolkenformationen mit den großen Sonnenlöchern zaubern wunderschöne Stimmungsbilder und betonen dadurch noch die Schönheit der Landschaft. 


Bald sehe ich Meilschnitz vor mir, aber auch die recht ordentlichen Höhen, die sich hinter dem kleinen Ort auftun. Da muss ich morgen rauf.


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Restrisiko

Neuhaus-Schierschnitz - Fürth am Berg (17 km)


Neue Erkenntnislage für Dieter: Fährt er heute schon mit einem Zug nach Hause, gilt seine bereits vor Wochen gekaufte Fahrkarte nicht. Also geht er heute doch nochmal mit und versucht sich ab morgen früh mit Zügen Richtung Heimat vorzuarbeiten, die trotz allgemeiner Streiklage eventuell doch fahren. So wird der Abschluss seines Abenteuers Grenzwanderung nochmal richtig spannend.


Mit Schwung wollen Dieter und ich um kurz vor 9 Uhr starten, als wir, kaum stehen wir vor dem Hotel auf der Straße, auch schon wieder anhalten. Wir freuen uns zwar über den Sonnenschein, aber die Luft hat nicht die schöne Frische, die uns sonst ermuntert hat, zügig loszumarschieren, um nicht zu frösteln. Jetzt sind es bestimmt schon mindestens 20°C und die Luft ist feucht-schwül, fast so, als würde man gerade ein Badezimmer betreten, in dem kurz vorher heiß geduscht worden ist. Wir rödeln wieder alles ab, reißen uns die Anoraks vom Leib und kommen selbst dabei schon wieder ins Schwitzen.


Hinter dem Gewerbegebiet von Neuhaus-Schierschnitz treffen wir wieder auf den Kolonnenweg. Doch heute begegnen wir ihm relativ entspannt. Die Karte und die vor uns liegende Landschaft deuten darauf hin, dass es die nächsten Kilometer nicht schlimm werden kann. Leicht hügelig sieht es vor uns aus, weite Felder mit neongelbem Raps. Mitten durch oder an ihren Rändern läuft der Kolonnenweg entlang, schwingt ein wenig auf und ab, aber bevor wir anfangen können zu japsen, sind wir auch schon über den nächsten Hügel rüber.


Irgendwann dann neben dem Kolonnenweg ein Hinweisschild mit dem Vermerk: "Erhöhtes Restrisiko von Minen. Betreten und Befahren auf eigene Gefahr!" Leicht stellen sich mir die Nackenhaare hoch. Muss ich mir Gedanken machen? Theoretisch dürften seit Mitte der 80er-Jahre keine mehr im Boden liegen. Damals hatte Erich Honecker der Bundesrepublik garantiert, die Selbstschussanlagen und Minenfelder an der Grenze abzubauen, um von bundesdeutschen Banken einen Millionenkredit zu bekommen, den die marode DDR-Wirtschaft dringend benötigte. Doch als nach dem Fall der Mauer der Grenzstreifen nach Minen abgesucht wurde, kamen noch eine Menge zum Vorschein. Spezialfirmen, die zum Teil von findigen ehemaligen NVA- und Grenztruppenleuten gegründet worden waren, durchkämmten mit schweren, speziellen Räumfahrzeugen die Minenfelder erneut und sprengten oder zerstörten immer noch vorhandene Minen. Die Wahrscheinlichkeit, heute noch eine Mine auszulösen, ist aber wohl absolut gering. Allerdings wurden im Laufe der Zeit Minen durch hochwasserführende Bäche weggeschwemmt, weshalb sie nicht mehr aufzufinden sind. Darin besteht das Restrisiko. Da mit deutscher Gründlichkeit sowohl über verlegte als auch über wiederaufgefundene Minen penibel Buch geführt wurde, gibt es Quellen, die von 3.000 bis 20.000 nicht aufgefundenen Minen sprechen. Ich werde mit Sicherheit kein Risiko eingehen und auf den (Kolonnen)wegen bleiben. Das verspreche ich!


In der Nähe von Mitwitz Markt (Bayern) verlassen wir das Grüne Band, unabsichtlich. Wiedermal ist die Markierung dermaßen unzureichend, dass eine Orientierung schwer ist. Wir tappen etwas ins Nebulöse hinein, und als ich auf der Karte endlich feststellen kann, wo wir sind, finden wir uns auch schon in Bayern wieder. Warum auch nicht? Der einmal eingeschlagene Weg ist eher eine Abkürzung und der Kolonnenweg kein Evangelium. Zur innerdeutschen Grenze und ihrer Geschichte gehören nicht nur der 500 m - Schutzstreifen der DDR und die martialische Grenzbefestigungsanlage, sondern auch die "andere Seite", das frühere sog. "Zonenrandgebiet", in Bayern, in Hessen, in Niedersachsen, in Schleswig-Holstein. Auch hier hatten die Menschen mit dieser Grenze zu leben, haben Menschen etwas zu erzählen.


Vor allen Dingen haben sie ein Gasthaus, am Rand des kleinen Örtchens Bächlein, auf das wir "auf der anderen Seite", in Thüringen, im Schatten des Kolonnenweges, gar nicht gestoßen wären. Und zwar genau zur richtigen Zeit! Zwei stramme Wanderstunden liegen bereits wieder hinter uns und die Schwüle nimmt zu. Selbst ich trinke ein großes Glas Radler, für mich ein Ausnahmefall. Alkohol vor dem Abendessen, wenn auch nur in dieser geringen Radler-Dosierung, geht bei mir eigentlich gar nicht! Ich komme dann kaum noch hoch! Würde meinen Kopf lieber auf den Tisch legen, um ein Ründchen zu schlafen, als weitere Kilometer zu wandern. Doch diesmal geht alle gut. Nach einer Dreiviertelstunde treffe ich mich tatsächlich auf dem Wanderweg wieder und es geht eigentlich ganz gut.


Nach einem angenehm kühlen Wald, dem schönen Ort Schwärzdorf mit seinen großen alten Hofanlagen entlang der Dorfstraße und weiten blühenden Rapsfelder, kommen wir, mitten in einem solchen Rapsfeld, zu der Gedenkstelle für das ehemalige Dorf Liebau. Wir setzen uns auf eine Bank gegenüber der beiden Granitblöcke mit einer Marmorplatte. "Hier stand das Dorf Liebau ..."


Liebau lag bis 1975 im "Liebauer Sack", einem nach Bayern hineinspringenden kleinen thüringischen Zipfel. Als die DDR 1952 die Grenze sperrte, Stacheldraht und einen 10 -Meter - Kontrollstreifen anlegte, war Liebau von der Welt so gut wie abgeschnitten. Am 5. Juni 1952 erhielt der Bürgermeister von Liebau einen vertraulichen Telefonanruf einer übergeordneten Person, mit der er befreundet war: "Wenn ihr es jetzt nicht macht, schafft ihr es nie mehr!" Das ganze Dorf sollte evakuiert werden. Der Bürgermeister informierte seine Mitbürger und die Dörfler packten alles zusammen, was sie transportieren konnten, nahmen auch Maschinen und Vieh mit und setzten sich, samt Bürgermeister, nach Bayern ab. Von einundsiebzig Einwohnern blieben nur fünf. Ein Bauer soll in seiner Verzweiflung Selbstmord begangen haben, ein anderer in der Nervenheilanstalt gelandet sein.


In den folgenden Jahren begann die DDR aus nie geklärten Gründen, den Ort wieder zu besiedeln, eine Zufahrtsstraße wurde gebaut, eine LPG gegründet. Ein regelrechtes Vorzeigedorf sollte entstehen. Dann wieder eine Kehrtwende: Schon 1961 drohten erneut Zwangsaussiedlungen. Wieder flohen Menschen nach Bayern, andere kehrten in ihre angestammten Orte zurück. 1975 wurden die letzten Einwohner umgesiedelt und das Dorf dem Erdboden gleich gemacht. Heute wächst hier nur noch der Raps.


Nachdenklich gehen Dieter und ich weiter. Dieter vielleicht auch, weil er sich nun endgültig auf die letzten beiden Kilometer seiner Wanderung macht. Fürth am Berg ist gleich das Ziel - unserer Wanderung heute, aber wiedermal nicht unser Übernachtungsort. Der "Grenzgasthof", bei dem wir 20 Minuten nach dem Gedenkort Liebau auch vorbeigehen, ist seit einigen Jahren bereits geschlossen. Eigentlich wollte ich hier meinen müden Körper für die Nacht lagern, aber dank Internet erfuhr, dass das nicht mehr möglich ist. Der Wirt hatte Ende der 80er-Jahre ein großes Gästehaus mit hundert Betten an seinen Gasthof gebaut. Für die vielen noch zu erwartenden Busladungen mit Grenz-Kuckern. Aber noch vor der Einweihung kam die Wende.  Da sind dann zwar tatsächlich Busse am Horizont erschienen, aber vorbeigefahren, vollgeladen mit Ossis auf dem Weg nach München, Tirol oder Venedig.


Von Fürth am Berg aus soll uns ein Bus nach Neustadt b. Coburg bringen, von da aus dann ein anderer ins nahegelegene Meilschnitz, wo dann doch Betten auf uns warten. Meilschnitz ist auch das Ziel für morgen. Heißt also, morgen früh muss ich - dann ohne Dieter -  mit einem fahrbaren Untersatz nach Fürth zurück und zu Fuß geht es  halt wieder retour. Es wird nichts ausgelassen! 


Um 14.57 Uhr soll unser Bus fahren. Wir kontrollieren das auf dem Fahrplan an der Bushaltestelle. Stimmt! Bleiben uns noch ca. eine Dreiviertelstunde in der Tankstelle gegenüber. Dort gibt es ein Schwarzbier für Dieter, ein Eis und einen Pott Kaffee für mich - und für uns beide die verblüffende Mitteilung, dass der Busverkehr nach Neustadt b. Coburg schon seit etwa einem Jahr eingestellt ist! Halloooo??? Und was ist mit den so ganz anders lautenden Informationen im Internet oder auf dem immer noch vorhandenen Fahrplan an der Bushaltestelle? "In Fürth gibt es auch ein Taxiunternehmen", sagt die Betreiberin der Tankstelle. Na prima, bleibt uns wohl nichts anderes übrig... 


Nach einer Viertelstunde steht das Taxi vor der Tanksäule und rauscht mit uns nach Meilschnitz, eine weitere Viertelstunde später stehen wir vor "Monikas Gästehaus". So schnell kann's gehen! Ich engagiere die liebe Taxifahrerin für morgen früh, dann kann sie mich wieder nach Fürth kutschieren.


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Hab Erbarmen, Kolonnenweg!

Tettau - Neuhaus-Schierschnitz (22 km)


Heute morgen müssen wir uns das Frühstück selbst bereiten. In der Ferienwohnung von Diedrich und Angelika Schütze, den alten Kommunarden, wird nichts serviert. Der Kühlschrank hat alles Notwendige zu bieten. Ich backe Brötchen auf und decke den Tisch, während Dieter Kaffee kocht und sechs Eier für eine Rühreimahlzeit in die Pfanne kloppt. Nach solcher Art Frühstück und dem Spülen machen wir uns wieder auf den Weg. Diedrich, draußen schon bei der Arbeit, geht mit uns bis an seine Hofgrenze und zeigt uns, wo es langgeht, während eine seiner beiden Ziegen sich an seiner Hüfte schubbert. Als wir losziehen, ruft er uns ein "Macht's gut!" hinterher und stolziert mit seinen schweren Gummistiefeln zu seinem Hof zurück. 


Wir bleiben zunächst auf der bayerischen Seite, können den Grenzstreifen nicht nach Thüringen hinüber und zum Kolonnenweg kreuzen, da er mit (wahrscheinlich Strom führenden) Drahtzäunen eingefasst ist. Schafe und Rinder beweiden hier den Grenzstreifen. Ein Hohlweg bringt uns schließlich zum Weiler Sattelpass. Die wenigen Häuser hier, an denen wir nun auf der ordentlich ansteigenden Straße vorbeiziehen, haben viel erlebt. Der gleichnamige Pass ist nicht ein Übergang über den Kamm eines Berges, sondern eine Engstelle im Verlauf einer einstigen Heer- und Handelsstraße, auf der Nürnberger Kaufleute früher zur Messe nach Leipzig fuhren. Da mit Kaufleuten gute Geschäfte zu machen waren, siedelten sich hier tatkräftige Menschen an. Doch nicht nur friedliche Kaufleute zogen durch, auch Wallenstein und Napoleon mit ihren Truppen, ungebetene und unangenehme "Gäste". Ab 1920 verlief am Sattelpass die Grenze zwischen Bayern und Thüringen. Über den Pass zog sich 1945 - 1949 zwischen der amerikanisch und der sowjetisch besetzten Zone die Demarkationslinie, die ab 1949 die Staatsgrenze West der DDR wurde. Alle Häuser der Siedlung Sattelpass lagen auf dem Territorium der DDR. Es dauerte nicht lange und die ersten Häuser wurden abgerissen, vor den übriggebliebenen verliefen die Grenzzäune.


Jetzt beginnt der angenehme Teil des Tages. Die Regenwolken verziehen sich immer mehr und geben der Sonne Platz, wir erreichen einen schönen Mischwald mit kräftigem Harzaroma und Vogelgezwitscher - und es geht bergab, kilometerweit auf schönen Waldwegen sanft bergab, durch den Klettnitzgrund 200 Höhenmeter hinunter an den Fuß des Schiefergebirges. Doch damit ist der angenehme Teil noch nicht zu Ende. Weitere Kilometer auf einem Radweg durch das breite Tettautal schließen sich an. Hier unten ist es merklich wärmer als vorher auf den Höhen und wir kämpfen etwas mit der Entscheidung, unsere Jacken auszuziehen und im T-Shirt weiter zu wandern. Da der Weg uns aber keine körperlichen Anstrengungen abverlangt, bleiben wir vernünftig und behalten die Jacken an.


Durchs gesamte Tal hindurch begleitet uns die alte Trasse der Bahnlinie Tettau- Pressig, durch Doppelreihen von Fichten und Birken eindeutig markiert, aber auch als Damm, der mehr oder weniger gradlinig durch die Wiesen führt, erkenntlich. Die Bahnlinie hatte für die Porzellan- und Glasindustrie eine große Bedeutung. 15-20 mit Rohstoffen beladene Waggons fuhren täglich zum 620 m hoch gelegenen Tettau. Im Gegenzug liefen 10-12 mit Porzellan und Gläsern beladene Waggons von Tettau hinunter ins 377 m hoch gelegene Pressig. Auch Personenverkehr gab es, täglich 3-4 Zugpaare. Die Endpunkte Tettau und Pressig liegen in Bayern, der dazwischenliegende Streckenabschnitt Heinersdorf - Schauberg in Thüringen. Bis ins Frühjahr 1945 war das kein Problem, doch nach Ende des Krieges fuhren die Züge über mehrere Kilometer durch die sowjetisch besetzte Zone. Insgesamt 14-mal kreuzte die Strecke die Grenze der Besatzungszonen. Das führte zu Schikanen. In Heinersdorf führten die Sowjets Fahrgastkontrollen durch. Der Zug wurde oft stundenlang festgehalten. Nicht selten wurde der Zug sogar auf offener Strecke angehalten, die Reisenden abgeführt und auf der Kommandantur zum Kartoffelschälen gezwungen. Im Mai 1952 endete der Zugverkehr von einem Tag auf den anderen. Die DDR ließ keinen Zug mehr passieren. Noch im gleichen Jahr begann man auf DDR-Gebiet mit dem Abbau der Gleise.


Nach drei Stunden erreichen wir Heinersdorf. Das erste Gebäude steht leer, nur noch Fensterhöhlen, mehrstöckig, viel zu klotzig für das Dorf, eine Ruine fast: die Kaserne der Grenztruppen. Wieder einmal eine. Überall entlang der ehemaligen Grenze stehen sie am Rande der Ortschaften, heruntergekommen, ruinös, meist asbestverseucht, für eine Renovierung viel zu teuer, für die Erinnerung ein Dorn im Fleisch.


Das Dorf zieht sich. Irgendwann bei einer Straßenecke ein kleiner Spielplatz mit Wippe, Mini-Sandkasten und einer Bank. Wir machen Pause. Jacken und Schuhe aus, Proviant raus, Füße auf den Wheelie und entspannen. Dann weiter, im T-Shirt, es ist richtig warm geworden. Am anderen Ende des Dorfes eine Gedenkstätte: ein Findlingsdenkmal "zum Gedenken an die friedlich erzwungene Grenzöffnung". Daneben ein Findlingsdenkmal "den Opfern der innerdeutschen Grenze". Daneben eine erhaltene Originalflusssperre über die Tettau, damit auch nachts und bei Hochwasser keiner abhaute, schwimmend, tauchend oder mit dem Faltboot, daneben ein Stück Originalmauer.


Auch hier in Heinersdorf wurden die Menschen 1952 auf ihre "Zuverlässigkeit" überprüft. Im Rahmen der Aktion "Ungeziefer" sollten Familien und Einzelpersonen, die auf irgendeine Weise auffällig waren, sei es, dass sie Westkontakte hatten, die Polizei kritisierten oder des Schmuggels verdächtigt wurden, zwangsweise evakuiert werden. Missliebige Personen wurden in aller Herrgottsfrühe von der Volkspolizei geweckt und mussten rasch ihre Siebensachen packen. Dann wurden sie mitsamt ihrem Gepäck auf LKW und in Güterwaggons ins Innere der DDR verfrachtet. 130 Heinersdorfer flohen damals in den Westen. Da half auch die Abriegelung der Grenze durch die Volkspolizei nichts. Dann allerdings kamen die Stacheldrahtzäune, später der doppelreihige Streckmetallzaun und schließlich die Mauer.


Exakt wo früher diese Mauer stand, steht heute ein großes Werksgelände und ein riesiger Solarpark. Wir umgehen beide und beginnen einen Aufstieg. Erst hinter dem vor uns liegenden Berg liegt Neuhaus-Schierschnitz, also müssen wir da rüber. Und es wird eine Plackerei! Steiler und steiler schnürt der Kolonnenweg den Berg hoch. Wir stapfen mit großer Überwindung immer etwa 20 m voran, dann müssen wir wieder anhalten, gierig nach Luft schnappen, uns den Schweiß abwischen. Es hört und hört wieder nicht auf. Rauf, rauf, höher, höher, gleich sind wir oben, neiiiin!!!, der verdammte Kolonnenweg geht immer noch höher, hat kein Mitleid mit uns, mindestens 30 % Steigung sind es mal in einem Abschnitt, das ist doch sittenwidrig. 20 m - Stopp - 20 m - Stopp. Es hört nie auf!


Doch, es hört auf! Auch so etwas geht irgendwann zu Ende. Und dann wird es leicht, wunderbar leicht, kurz vor dem Schweben. Wir sind nur einen kurzen Moment richtig "oben", dann fällt der Weg, von nun an ohne Kolonnenplatten, förmlich ins nächste Tal hinab. Das ist nun auch wieder nicht so einfach. Teilweise ist es rutschig, die Knie jublieren. Trotzdem besser als diese Himmelsleitern! 


Unten angekommen verlässt uns mal wieder die Markierung oder die vorherigen Anstrengungen haben unsere Augen benebelt. Wir fragen zwei Jungen auf ihren Fahrrädern nach dem Weg und bekommen eine ausführliche Beschreibung. Mehr noch, wir bekommen eine Eskorte. Sie wollen wohl sichergehen, dass die zwei alten, bemitleidenswerten Männer auch wirklich in Neuhaus-Schierschnitz ankommen. Als wir uns trennen, bekommen die beiden Steppkes von mir einen Euro zugesteckt, Hilfsbereitschaft muss belohnt werden.


Eine halbe Stunde später stehen wir am Ortsanfang vor unserem kleinen Hotel - und Hanni winkt uns schon entgegen. Sie hat mit dem Bus überbrückt und will das auch in den nächsten Tagen so fortführen.


Seit zwei Tagen gibt es Nachrichten, die den weiteren Ablauf von Dieters und meiner gemeinsamen Wanderung durcheinander bringen. Ab morgen Nachmittag streiken mal wieder die Lokomotivführer, Dieter wollte aber am Mittwoch seine Heimreise antreten. Seit Stunden geht ihm dieses Problem im Kopf herum. An der Rezeption unseres Hotels beraten nun der Hotelier, Hanni und Dieter die noch vorhandenen Möglichkeiten. Ergebnis: Dieter fährt schon morgen früh, um dem Streik zuvorzukommen. Das kommt jetzt plötzlich, ist aber wohl am vernünftigsten.


Um 18 Uhr treffen sich Hanni, Dieter und ich in der dem Hotel angegliederten Pizzeria und essen lecker zusammen. Dieter bezahlt - zum Abschied. Danke, mein Freund, es waren schöne Tage mit dir!


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Ab in den Himmel

Probstzella - Tettau (21 km)


Heute wird es regnen! Im Laufe des Vormittags soll er einsetzen. Regen ist nicht so schlimm, unter unseren großen Schirmen können wir das grundsätzlich ganz gut aushalten. Nur bei einem anstrengenden Aufstieg muss das nicht sein. Dann brauche ich beide Hände, um meinen Wheelie "bei den Hörnern zu packen" und ihn so den Berg hochzuziehen. Ich habe aber nur zwei Hände, und mit einer zu ziehen, während die andere den Schirm hält, ist schwierig. Der Berg kommt direkt hinter Probstzella, also sollte der Regen bitte warten, bis wir oben sind.


Um 8.30 Uhr traben wir los, zehn Minuten später stehen wir am Fuße des Kolonnenweges, der einst die Grenzer aus der Kaserne von Probstzella in ihren Kübelwagen hoch an die Grenze brachte. Damit hatten sie es damals einfacher als wir jetzt. Es geht sofort recht brutal bergauf, sozusagen ein Start von Null auf Hundert. Wir hecheln, die Lungenflügel flattern, erster Schweiß treibt durch die Poren. Nur wiederholte Blicke ins Tal entschädigen etwas für die Mühen. Immer tiefer bleibt Probstzella unter uns zurück, deutlich beherrscht vom "Haus des Volkes", dessen Größe von hier aus erst recht deutlich wird. Daneben der unrühmliche Bahnhofsbereich.


Doch weiter hoch! Immer weiter! Hinter einer Biegung sehen wir unvermittelt einen Menschen mit zwei Stöcken und Rucksack sich ebenfalls den Berg hochschleppen - Hanni. Sie ist noch langsamer als wir, und das will schon was heißen. Nur langsam, gaaanz langsam schließen wir zu ihr auf. Das heißt, im Endeffekt wartet sie auf uns an einer Bank, bis wir auch da sind. Sie schaut etwas verzweifelt drein, die Steigung gereicht ihr ebenfalls wahrlich nicht zur Freude. "Darf ich mich euch wieder anschließen, das hat gestern mit euch Spaß gemacht und ich glaube, alleine schaffe ich das heute nicht." Natürlich haben wir kein Problem damit, außerdem glaube ich, dass sie Angst davor hat, den Weg wegen der stellenweise nicht gerade optimalen Markierung aus den Augen zu verlieren. Während des weiteren Anstiegs bestätigt sie mir genau das, während sie sich dabei mühsam mit ihren Stöcken den Berg hochzustemmen versucht. Sie beichtet mir, dass sie sogar darüber nachdenkt aufzuhören, so sehr scheint sie von der Markierung frustriert zu sein. Die Höhenmeter der letzten Tage und jetzt gerade im Moment und die Notwendigkeit, auf dem Kolonnenweg durchgehend äußerst konzentriert sein zu müssen, verstärken wahrscheinlich noch ihren Frust. Ich versuche, ihr gut zuzureden, sie zu motivieren, ihr klarzumachen, dass die nächsten Tage einfacher sein sollen und auch die Markierung sich verbessern soll. So schnell aufzugeben, ist vielleicht doch etwas verfrüht, zumal sie körperlich keine Beschwerden hat. Wir werden sehen, wie sie sich entscheidet.


Es geht immer weiter hoch, Probstzella wird kleiner und kleiner, aber verschwindet nicht. Eine weit ausholende Serpentine macht den Weg zwar ein wenig weniger steil, aber Probstzella bleibt lange noch sichtbar, mal zur linken Hand, dann zur rechten. Erst nach fast zwei Stunden scheinen wir es geschafft zu haben, der Weg wird flacher, geht dann sogar leicht bergab. Inzwischen sind wir so hoch, dass wir die tief hängenden Wolken erreicht haben, es fängt an zu nieseln. Doch der Regenschirmeinsatz lohnt sich noch nicht, da muss es schon noch schlimmer kommen.


Auf der Höhe queren wir die Landesgrenze, von Thüringen geht es nach Bayern. Als wir aus dem Wald herauskommen, sehen wir Burg Lauenstein etwas weiter unten auf einer Kuppe über dem Loquitztal thronen, zu weit weg, um einen Abstecher dorthin zu machen. Man kann nicht alles haben. Unser erstes Zwischenziel ist die Thüringer Warte. Weit kann er nicht mehr entfernt sein, aber er versteckt sich im Wald, oben auf dem Ratzenberg. Doch wir rücken ihm zu Leibe, irgendwann blitzt seine Spitze aus dem Birkenwäldchen hervor. 


Die Thüringer Warte ist ein bayeriischer Aussichtsturm, 678 m hoch gelegen, hart an der Grenze zu Thüringen. Am 17. Juni 1963, also am Tag der deutschen Einheit, wurde er vom damaligen Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Dr. Rainer Barzel, vor 6000 Gästen seiner Bestimmung übergeben. In den folgenden 26 Jahren der deutschen Teilung ist nahezu eine Millionen Menschen auf dem "Leuchtturm des Westens" gestiegen, neben Einheimischen und Touristen viele ehemalige Thüringer. Die einen schauten neugierig nach"Drüben", die anderen warfen einen wehmütigen Blick in ihre ehemalige Heimat. Doch seit der Wiedervereinigung sind die Besucherzahlen deutlich zurückgegangen. Seit 1990 ist die Thüringer Warte nur noch ein ganz normaler Aussichtsturm.


Auch als wir ihn erreichen, sind wir alleine hier oben. Inzwischen ist der Nieselregen stärker geworden und wir begeben uns in sein Inneres. Holzstufen führen nach oben, an den Wänden Tafeln, die über den Grenzaufbau informieren, über Grenzzwischenfälle, Schicksale, illustriert mit Schwarz-Weiß-Fotos, Zeitungsausschnitten und Kopien von Einsatzberichten der Grenztruppen und Stasi-Akten. Während ich mir das alles ansehe, sitzen Hanni und Dieter auf den untersten Stufen der Holztreppe und betreiben gepflegte Erholung. Ich kämpfe etwas mit mir, entschließe mich aber dann, den Turm zu erklimmen. Von der Aussichtsplattform soll hervorragend zu erkennen sein, wo sich Grenzzaun und Spurenstreifen einst durch den Wald wanden. Eine hellgrüne Narbe in einem dunkelgrünen Fichtenmeer. 


Als ich recht willig die ersten Stufenabschnitte ersteige, schaue ich wiederholt aus kleinen Seitenfenstern und sehe schnell - dass ich nichts sehe. Nur grau, grau, grau. Vielleicht erreicht der Blick die nächsten zehn Baumreihen, aber von Thüringen erkenne ich nichts. Also warum weiter hochsteigen? Ich drehe um und gehe wieder runter. Fünf Minuten später lassen wir den Turm hinter uns.


Bald darauf sind wir wieder "im Thüringischen" und biegen sofort hinter den Grenzsteinen wieder auf unseren geliebten Kolonnenweg ein. Prompt nervt er uns wieder gewaltig. Unsere Hoffnung, die heutigen Steigungen hinter uns zu haben, erweisen sich als trügerisch. Es geht wieder aufwärts, nein, es geht in den Himmel. Wie haben diese Kübelwagen mitsamt Grenzer das nur geschafft? Die müssen doch irgendwann hier rückwärts wieder runtergerollt sein. Immer wenn wir einen Himmel endlich erreicht haben, gilt es nach 20 m etwas abgeflachter Strecke, den nächsten Himmel zu erobern. Doch ich muss mir immer wieder klarmachen: Grenzer überwachten hier einst den Eisernen Vorhang. Lückemlos und gnadenlos. Dass ich jetzt hier gefahrlos, und ohne Angst vor Todesschützen, mit meinem Wheelie entlangziehen kann, ist ein Geschenk, auch wenn ich im Moment schwitze und stöhne.


Und dann geht es abwärts, richtig abwärts! Über eine weite Feldflur hinweg streben wir Lichtenhain entgegen. Der Nieselregen ist mittlerweile kein Nieselregen mehr, er wird stärker, genauso wie der Wind. Zusammen mit einer vom Bergaufsteigen durchgeschwitzten Kleidung keine gute Mischung. In Lichtenhain soll es eine kleine Kneipe geben, hoffentlich hat sie auf...


Sie hat! Ein Segen! Wir brauchen Erholung, etwas Wärme, eine Kleinigkeit zu essen, Dieter sein Schwarzbier. Mit der Wärme hapert es etwas. Ab Mai heizt man hier wohl nicht mehr so gerne, aber alles andere klappt. Hanni und ich teilen uns eine Portion Rouladen mit Klößen und Rotkohl, Dieter ersetzt die Rouladen mit einem Stück Gans. Was anderes hätte es heute übrigens nicht gegeben. Sonntags kocht die Wirtin nur diese beiden Gerichte. Fertig! Sohn und Ehemann sitzen ebenfalls mit uns am großen runden Stammtisch, die anderen Tische sind bereits für eine Gesellschaft am Nachmittag eingedeckt. Während des Essens beschließt Hanni, für heute ihre Wanderung zu beenden. Ihre Unterkunft liegt noch gute 15 km entfernt, abseits des Grünen Bandes, sie ist aber jetzt schon k.o. Mit fraulich holländischem Charme bringt sie den Sohn des Hauses dazu, sie zu ihrer Unterkunft zu fahren. Von da an schmecken ihr die Rouladen nochmal so gut. Beim Essen kommen wir natürlich wieder mit der Wirtsfamilie in Gespräch. Aus dem Fenster heraus zeigen sie uns, wo der Grenzzaun verlief, nicht nur der eine, der eigentliche Grenzzaun, auch der andere, der Hinterlandzaun. "Wir waren eingeschlossen, von beiden Zäunen. Wir lagen ja unmittelbar in der 500 m - Schutzzone. Gleich hinter unserem Hof verlief der Hinterlandzaun." Er führt mich hinaus auf den Flur zu einer Luftbildaufnahme von Lichtenhain und der Gefangenschaft zwischen den Zäunen. Deutlich ist zu erkennen, wie nah der Zaun an das Grundstück des Gasthauses heranreichte. Wie ertrug man das? Ist die oft gehörte Antwort "Wir kannten es halt nicht anders" wirklich so einfach? Der Vater kommt mit dazu. Als der Sohn auf ein großes Gebäude zeigt und sagt: "Das da ist die Grenzkaserne, die steht heute noch da. Mein Vater hat da auch als Grenzer gedient", dreht der Vater sich um und geht langsam zurück in den Gastraum. Ist diese Aussage seines Sohnes ihm unangenehm? Die Mutter kommt in den Flur und ruft lachend: "Nun kommen Sie mal, kalte Klöße schmecken doch nicht!" Recht hat sie ja, aber die Klöße sind immer noch gut warm und schmecken hervorragend.


Dieter und ich brechen wieder auf, Hanni ist glücklich, gefahren zu werden. Ob wir uns nochmal wiedersehen, wissen wir nicht. Wird sie morgen Abend schon wieder zu Hause sein? 


Dort, wo direkt hinter dem Kneipengrundstück der Hinterlandzaun verlief, zieht jetzt eine schmale Straße einen Hügel hoch. Sie ist noch nichtmal auf meiner Karte verzeichnet und ist von nun an für zwei Kilometer unser Weg. Komisches Gefühl, genau hier jetzt herzulaufen, genau "auf dem Zaun". Wir treten ihn mit Füßen. 


Dann zweieinhalb Kilometer schnurgerade Landstraße bis zur "Kalten Küche", einem kleinen Imbiss, wo wir wieder auf den Rennsteig stoßen - und ihn sofort auch wieder verlassen. Die letzten Kilometer Kolonnenweg bei Tettau warten auf uns. Wenn der Regen nicht wäre, könnte es für heute ein schöner Abschluss sein. Der Grenzstreifen ist breit, links und rechts begrenzt von Nadelwäldern und sieht aus wie eine Heide, Ergebnis der regelmäßigen Beweidung durch Schafe und Rinder. Ein großes Schild sorgt sehr schnell wieder für Ernüchterung. Wir lesen mal wieder von einem schlimmen Flüchtlingsschicksal an dieser Stelle. Fritz Zapf wurde am 7. Juli 1964 "beim Versuch, die Staatsgrenze Richtung WD zu durchbrechen, durch Anwendung der Schusswaffe tödlich verletzt". Gemäß der Tagesmeldung des Grenztruppen-Kommandos "gab der Renzposten 6 Warn- und 31 Zielschüsse ab, wobei der Z. einen Kopf- und einen Lungenschuss erhielt". Die beiden Grenzsoldaten erhielten dafür das Leistungsabzeichen der Grenztruppen. Sie hätten sich ausgezeichnet verhalten, weil sie den Grenzverletzer "mit gezieltem Feuer vernichtet" hätten.


Etwa einen Kilometer von dieser Stelle entfernt wechseln wir wieder nach Bayern hinüber, unserer Unterkunft wegen. Der Wildberghof wurde in den 1970er-Jahren von Frankfurter Kommunarden gekauft, die auf diesem grenznahen Einödshof ein autarkes Leben führten. Sie produzierten Bio-Käse und engagierten sich in der Betreuung sozial benachteiligter Menschen. Dietrich und Angelika Schütze., Kommunarden der ersten Stunde und inzwischen weit über 70 Jahre alt, leiten bis heute die Geschicke des Hofes, und die junge Steffi kümmert sich um das Wildberg-Café, das immer sonntags geöffnet hat. 


Wir könnten hier im Heu schlafen, sind aber froh, dass es auch eine Ferienwohnung gibt. Dietrich Schütze kommt gerade aus der Tür, als wir den Hof betreten. "Ich habe gerade gedacht, guck doch mal, ob die beiden Wanderer nicht kommen. Und da seid Ihr! Herzlich willkommen!"


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Ein Haus für das Volk

Lehesten - Probstzella (16 km)


Das Frühstück heute Morgen fällt im Gasthof "Glück auf" mal wieder so aus, wie man es für so einen kleinen Beherbergungsbetrieb nicht unbedingt erwartet: mehr als üppig. Für unterwegs brauchen wir uns nichts zubereiten, denn wir schleppen noch unseren Proviant von gestern mit uns herum. Wir sollten mal die Reste verarbeiten. 


Seit zwei Tagen erzählt mir Dieter was von drohendem Dauerregen oder ergiebigen Schauern, die über uns ergehen sollen, aber als wir vor die Tür treten, scheint mal wieder die Sonne. Munter und ohne große Nachwirkungen nach der gestrigen langen Strecke ziehen wir zum Städele hinaus. 


Nach etwa einer halben Stunde sehen wir vor uns in einiger Entfernung eine Person auf dem Weg. Dem Körperbau und dem Gang nach zu urteilen schätze ich sie als Frau ein, Dieter tippt auf einen Mann. Die Person wandert, zweifellos. Rucksack, zwei Wanderstöcke. Als wir näher kommen, wird es eindeutig. Eine Frau, Kurzhaarschnitt. Sofort schwant mir, dass das nur die Holländerin sein kann, die ebenfalls auf dem Grünen Band unterwegs ist, ebenfalls mit dem Ziel Ostsee. Herr Windecker von unserer Unterkunft in Bad Elster und genauso Frau Weitermann in Hirschberg hatten uns von ihr, die sie bei ihnen übernachtet hatte, erzählt. Ich dachte mir schon, dass wir recht bald zu ihr auflaufen würden. Die Frage war nur, wo und wann. 


An einer Stelle, wo offensichtlich eine Markierung oder irgendein Hinweis auf den weiteren Wegverlauf fehlt, hält sie an, schaut sich suchend um und entdeckt dabei uns. Sie zuckt mit den Schultern und schaut uns fragend an. Mir ist sofort klar, das ist die Holländerin! "Sind Sie aus Holland?", frage ich sie direkt und sie guckt mich verblüfft an. "Ja, sieht man mir das an? Woher wissen Sie das?" Ich erzähle von Herrn Windecker und Frau Weitermann - und schon sind wir mitten im Gespräch. Hanni kommt aus Enschede, lebt aber in Deutschland, ist seit kurzer Zeit Rentnerin, hat zu Hause die Tür abgeschlossen, die Nachbarin gebeten, aufs Haus aufzupassen. Sie möchte unterwegs darüber nachdenken, wie es nun in ihrer Lebensgestaltung weitergehen soll. Nur warum sie sich dafür das Grüne Band ausgesucht hat, weiß sie auch nicht so genau. "Ich habe doch eigentlich mit Deutschland oder der ehemaligen DDR gar nichts zu tun, auch nicht mit dieser Grenze. Also was mache ich hier?" Diese Frage können Dieter und ich ihr natürlich auch nicht beantworten. Nur ihrer Frage, ob sie sich für heute uns anschließen könne, stimmen wir gerne zu.


Hanni ist im Besitz der gleichen Wegebeschreibung wie ich. Nur führt sie diese nicht als Buch mit, sondern als kopierte Seiten, die sie nach Gebrauch der Reihe nach entsorgt. Ein probates Mittel, Gewicht zu sparen. Allerdings beschwert sie sich heftig über die doch relativ allgemein gehaltene und dadurch nicht sehr genaue Beschreibung sowie über die recht mangelhaft vorgenommene Markierung mit einem einheitlichen Wegesymbol. "Wenn ich nicht mein GPS-Gerät dabei hätte und es nicht andauernd zu Rate ziehen würde, wäre ich schon einigemale verloren gewesen." Ich kann ihr da weitgehend zustimmen. Bisher nur konnte ich mich immer schnell wieder Anhand meiner Kartenausschnitte orientieren. Karten für das gesamte Grüne Band sind zwar ein Kostenfaktor und haben auch ihr Gewicht. Wenn man aber den engeren Bereich des Wegeverlaufs aus der Gesamtkarte ausschneidet und nur diesen Ausschnitt mit sich führt, hält sich das zusätzliche Gewicht auch in Grenzen. Und sie geben Sicherheit. Man weiß immer (oder meist), wo man sich befindet, kann mal sinnvolle Abkürzungen vornehmen oder nach einem Irrweg auf den rechten Weg zurückfinden. Auf meinem Handy kann ich zwar auch eine Navigation aktivieren, was ich manchmal sogar in großen Zweifelsfällen auch tue, dennoch möchte ich auf Karten nicht verzichten.


Gemeinsam steuern wir die nahe Lehesten gelegene KZ-Gedenkstätte "Laura" an. Doch wir finden kein Zeichen, keinen Hinweis, der uns den Weg dorthin weist. Jetzt kommt es zum Teamwork: Mit Hannis GPS ermitteln wir schnell unseren Standort, ich finde ihn auf meiner Karte und zehn Minuten später, am Rand eines großen Schiefersteinbruchs, treffen wir auf die Gedenkstätte.


Der Oertelsbruch ist neben dem Staatsbruch, den wir gestern gesehen haben, der zweite der beiden großen Schieferbrüche bei Lehesten. "Fröhliches Tal" heißt das Tal, in dem der Oertelsbruch liegt. Doch fröhlich ging es dort nie zu, selbst nicht in der Blütezeit des Schieferbruchs, Ende des 19. Jahrhunderts. Zwar gab es Arbeit, aber die war gefährlich und mühsam. Gegen Ende des II. Weltkrieges wurde der Oertelsbruch und mit ihm das "Fröhliche Tal" zur Hölle. Von September 1943 bis April 1945 lebten, arbeiteten und starben hier Häftlinge des KZs Buchenwald. Die SS hatte den Oertelsbruch beschlagnahmt und zum Außenkommando von Buchenwald umfunktioniert - Tarnname "Laura". In "Laura" wurden die Triebwerke der V2-Raketen getestet, Hitlers "Wunderwaffe", mit denen der Wahnsinnige glaubte, doch noch den "Endsieg" erringen zu können. Dass man die bei Nordhausen, am Südrand des Harzes, gebauten Triebwerke zum Test hierher brachte, hatte folgenden Grund: Ein Triebwerkstest lässt sich nicht unter Tage durchführen. Die beim Test entstehende Hitze und die Verbrennungsgase müssen entweichen können. In einer Schiefergrube, in der Sprengungen zum Arbeitsablauf gehören, sollten solche Tests weniger auffallen und nicht von den Luftaufklärern der Aliierten entdeckt werden. Für den Triebwerkstest wurden große Mengen an flüssigem Sauerstoff benötigt, der vor Ort unter Tage produziert wurde, um nicht aufzufallen. Stollen und Kavernen mussten dazu in das Gestein getrieben werden. Hierzu und für die Verlegung der Gleise, auf denen die Triebwerksköpfe zu den Testrampen transportiert wurden, missbrauchte man die Buchenwald-Häftlinge. Sie waren in einer großen Scheune untergebracht, auf zwei Etagen übereinander, in Holzverschlägen. Kranke und gesunde Häftlinge lagen auf engstem Raum zusammen. Häftlinge starben an den unmenschlichen Arbeitsbedingungen oder an Krankheiten aufgrund der katastrophalen hygienischen Verhältnisse. In der 19 Monate andauernden Lagerzeit lebten in "Laura" über 2.500 Häftlinge, meist Ausländer, vor allem aus Frankreich, Belgien, Polen, Italien und der Sowjetunion. Bis Kriegsende waren fast 600 Lagerinsassen gestorben.


Nach Verlassen der Gedenkstätte tauschen Hanni, Dieter und ich uns über das soeben Gesehene aus und fragen uns, wie Menschen so etwas tun, zulassen oder ertragen und überleben konnten. Gleichzeitig wissen wir, dass es seitdem in vielen Ländern der Welt solche Geschehnisse trotzdem erneut gab oder es immer noch gibt. Der Mensch lernt nicht aus seinen Fehlern. Bei diesen Gedanken und gemeinsamen Gesprächen sind wir unaufmerksam und stellen prompt irgendwann fest, dass wir nicht auf dem richtigen Weg sind. Wieder treten Hannis GPS und meine Karte in Aktion und schnell stellen wir fest: Wir sind nicht richtig, aber auch nicht falsch. Der Weg ist zwar ein anderer, aber sogar der ein wenig kürzere - und kein Kolonnenweg. Auf einer kleinen und praktisch unbefahrenen Landstraße ziehen wir munter über die Höhe, genießen die weiten Ausblicke über die thüringisch-fränkischen Berge und steigen dann steil ins Steinbachtal hinab, zurück zur ehemaligen streng bewachten Grenze. 


Der Steinbach war genau die Grenze, auf unserer Seite Thüringen, jenseits des Baches Bayern. Der Grenzzaun lief auf halber Höhe am thüringer Hang entlang, deshalb bleiben wir hier unten, unmittelbar am Bachufer, vom Kolonnenweg verschont. Hinter einer Biegung taucht plötzlich ein Hof auf, auf der anderen Seite des Baches, also in Bayern. Alles wirkt wie ausgestorben, keine Menschen, kein Auto, keine Geräusche, außer denen der Vögel und des plätschernden Baches. Die Karte sagt mir, dass es die alte Steinbachsmühle sein muss. Obwohl ich gelesen habe, dass sie verlassen ist, steht sie mit ihren Gebäudeteilen noch recht passabel da. Ich bin neugierig, gehe zum Wohnhaus, stelle mich auf die Zehenspitzen und schaue durch ein Fenster. Was ich sehe, lassen meine Nackenhaare sich leicht kräuseln. Geranien stehen innen auf dem Fensterbrett (wahrscheinlich künstliche), Möbel wie aus Großmutters Zeiten, Teller stehen noch auf dem Tisch, Kissen liegen auf dem kleinen Sofa, alles genauso, als wohne hier noch jemand und wäre nur mal kurz außer Haus. Aber hier lebt niemand mehr, ich spüre das. Aber wann, wie, unter welchen Umständen ist dieser Hof verlassen worden? Welche Geschichte hat er zu erzählen? Als wir weitergehen, schaue ich mich mehrmals um, ob nicht doch das Fenster aufgeht und eine alte Frau mir vielleicht hinterherwinkt.


Eine halbe Stunde später sind wir in Probstzella. Seit 1952 gehörte Probstzella zur Fünf-Kilometer-Sperrzone. Drei Jahre zuvor war der Bahnhof des Ortes zum Grenzbahnhof für Interzonenzüge und für die Transit-Züge Berlin - München avanciert. Für viele Menschen, die früher aus Richtung München mit dem Zug nach Berlin reisen wollten, ist die hiesige Grenzübergangsstelle vielleicht noch ein Begriff. Was Helmstedt-Marienborn für den Autoreisenden war, war Probstzella für den Zugreisenden. Unfreundlichkeit, Gefühlskälte, Unnahbarkeit, Machtgehabe der Diensthabenden bei der langen Personen-, Gepäck- und Zugwaggonkontrolle, Angst, Wut, aber auch Ohnmacht bei den Reisenden. Eine ältere Frau, der wir vor dem alten Bahnhof begegnen und die uns mitteilt , dass das Grenzbahnhofsmuseum leider noch wegen Umbauarbeiten geschlossen habe, erzählt uns von Fluchtversuchen. Sie selbst, als Mitarbeiterin des Zugpersonals, hätte beobachten können, wie ein junger Mann bei Anfahrt eines Zuges versuchte aufzuspringen. "Aus allen Richtungen wurde auf ihn geschossen. Wir sind gelaufen wie die Hasen, um uns vor den Kugeln in Sicherheit zu bringen."


Nur weniger Meter nach dem alten Bahnhof hat Hanni ihr Ziel für heute erreicht. Sie hat im "Haus des Volkes" ihr Einzelzimmer gebucht. Es ist ein besonderes Haus. Von der Bahnhofstraße aus gesehen steht es hinter anderen niedrigen Häusern in der zweiten Reihe, aber dennoch thront es förmlich über seiner Umgebung. Für seine Umfeld, ja für den ganzen Ort scheint es zu groß geraten, absolut überdimensioniert. Ein massiger Zweck-Baukörper mit Stummelturm in der Mitte des Walmdaches. Von außen vielleicht nicht wirklich schön, es wirkt fast etwas monströs, fast schon großkotzig.


Der Mann, der das Haus des Volkes 1927 erbauen ließ, wird heute noch - oder besser: heute wieder - in Probstzella verehrt: Franz Itting. Er war ein Industriepionier, der mit der Gründung von Elektrizitätswerken die Gegend bestromte und in ursozialdemokratischer Überzeugung sich "seinen" Arbeitern verpflichtet sah. Deren Arbeit sollte sinnvoll sein, der Lohn gerecht, der Feierabend schön. Mit seinem Haus wollte er der Bevölkerung Probstzellas Gutes tun, zum Feiern, Lernen, Sich-Versammeln. Das hat er auch getan und ein Kulturzentrum gebaut mit Hotel- und Gaststättenbetrieb, Kegelbahn, Bädern, Tanzsaal, Kino, Turnhalle. Von einem Bauhaus-Baumeister wurde ein einzigartiges Baudenkmal für das Bauhaus, eine Urzelle der modernen Architektur, errichtet. Itting wurde von den Nazis als "Roter" mehrfach verhaftet und ins KZ verbracht, von den SED-Funktionären als "Kapitalist" ins Gefängnis gesteckt und nach einem Schauprozess enteignet. Letztendlich gelang ihm die Flucht in den Westen. Das Gebäude ließ man verfallen. Erst vor einigen Jahren konnte das "Haus des Volkes" dank einer privaten Initiative gerettet werden.


Zusammen mit Hanni gehen Dieter und ich in dieses besondere Haus. Während Hanni eincheckt und Dieter unmittelbar das Restaurant zwecks Aufnahme von Füssignahrung aufsucht, streife ich ein wenig durchs Haus. Blauer Saal, Roter Saal mit Bühne, Kegelbahn. Im Blauen Saal ist für eine heute Nachmittag stattfindende Jugendweihe eingedeckt. Wir setzen uns an einen ganz zwanglos bereitgestellten Tisch, essen Himbeersahnetorte und trinken Kaffee. Mehr als eine Stunde verbringen wir in diesem so besonderen "Haus des Volkes", erst dann laufen Dieter und ich ein paar hundert Meter weiter und beziehen unser deutlich bescheideneres Pensionszimmer beim Gasthaus Stapel in der Marktstraße. Auch hier ist Jugendweihe angesagt.


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Jede Menge Schiefer

Blankenstein - Lehesten (28 km)

 

In der Nacht muss es ordentlich geregnet haben. Draußen vor dem Hotel stehen große Pfützen, aber der Himmel ist blau. Es wird ein langer Tag werden, deshalb nehmen wir das Frühstück so früh wie möglich. Bei mancher Unterkunft ist das "So früh wie möglich" schon um 6.30 Uhr, bei anderen erst um 8 Uhr. Im Gasthof Blechschmidtenhammer gibt es die Brötchen ab 7.30 Uhr, für einen langen Wandertag so gerade noch akzeptabel. Eine Stunde später sind wir auf der Spur.


Wenige Meter nach dem Gasthof biegen wir ins Tal der Thüringischen Muschwitz, ein Tal mit einem munter dahinplätscherndem Bächlein. Idyllisch, Urnatur, einfach nur schön - heute! Während der DDR -Zeit verlief die Grenze in der Bachmitte, der Grenzzaun in unmittelbarer Nachbarschaft. Doch der Weg ist kein Kolonnenweg, sondern ein "Knüppeldamm". Unser Wanderschritt gleicht eher einem Storchengang oder - wie Dieter meint - einem 3000 m - Hindernislauf. Hunderte von Fichtenwurzeln liegen quer über dem Weg und wir müssen uns höllisch konzentrieren, nicht ins Stolpern zu geraten oder auf diesen glitschigen Exemplaren auszurutschen. Ich muss zusätzlich mein Wheelie darüber hinwegbringen, ein recht anstrengendes und zeitraubendes Unterfangen. Mein tapferer Lastenträger wird derart hin und her geschockelt, dass man von Glück sprechen kann, dass Wheelies nicht frühstücken. Ihm würde bestimmt jetzt höllisch schlecht.


Doch irgendwann ist auch das vorbei. Wir verlassen das Tal - und weichen vom Grünen Band ab. Während aus der Thüringischen die Fränkische Muschwitz wird und weiterhin die Begleiterin des puristischen Grüne-Band-Wanderers bleibt, nehmen wir nun Kurs auf den Rennsteig, der, über Höhen entlangziehend und Kolonnenweg vermeidend, bereits in Blankenstein begonnen hat und nun seinen Weg bis nach Hörschel an die Werra vollzieht. Bis nach Lehesten, unserem heutigen Tagesziel, erspart er uns ein paar Kilometer und führt uns sogar an gastronomischen Rastpunkten vorbei. Der strenge Grenzwegwanderer müsste darauf komplett verzichten.


Vom Grenztal geht es hinauf auf die Thüringer Höhen, immer hoch, hoch, hoch. Wir schnauben, schwitzen und stöhnen im Duett, aber es ist wohl nur ein Vorgeschmack auf das, was uns in den nächsten Tagen noch bevorsteht. Wir kommen nach Seibis hoch, wenig später nach Schlegel - dann ist Zeit für eine Pause. Die Herrenoberbekleidung ist nass geschwitzt, die Oberschenkel sind sauer und schreien nach Erholung. Mitten im Dorf, beim "Gasthof zum Rennsteig" (mit Stempelstelle), werfen wir uns mit einem Stöhnen auf eine Bank, schälen uns die dampfenden Schuhe von den Füßen, lehnen uns zurück und schauen in die Sonne. So ist's gut! Ein Mann des Dorfes kommt vorbei, ruft uns ein "Gut Runst!" zu, den Begrüßungs- und Aufmunterungsruf eines jeden Rennsteig-Wanderers, lacht dazu und geht seines Weges. Nach zwanzig Minuten schnüren wir die Schuhe wieder und laufen weiter.


Wenige Minuten hinter Schlegel, wo wir von der Straße in einen breiten Waldweg einbiegen müssen, erblicken wir hinter einem halb verfallenen Metallgitterzaun einen dreigeschossigen und mit dunklen Schieferplatten verkleideten Gebäudekasten. Die Fensterscheiben sind zum großen Teil zersplittert und schauen uns wie tote Augen an. Das Außengelände ist zum Teil zugewachsen und macht einen verwahrlosten Eindruck. Eine ehemalige Grenzerkaserne. Viele davon haben wir in den letzten Tagen schon gesehen, fast alle machen sie diesen Eindruck, den ein Graffity-Sprayer so treffend auf eine benachbarte Gebäudewand gesprüht hat: "Ganz schön gruselig hier!"


Auf langgezogenen Rennsteigwegen kommen wir ohne nennenswerte Höhenunterschiede zügig voran. Wanderer treffen wir nicht, dafür aber einige Mountainbiker, die mit Helmen und kleinen Rucksäcken an uns vorbeigeschossen kommen. Wenigstens kündigen sie sich vorher mit ihren Klingeln an. Da gibt es ja auch andere Problemfälle. Als wir in Rodacherbrunn ankommen, haben wir vier Stunden Wanderzeit und fast 16 Kilometer hinter uns - und Hunger. Eigentlich haben wir jeder etwas Proviant im Gepäck, aber wenn doch schonmal so ein netter kleiner Wanderimbiss am Wege liegt... 


Mareilles Wanderimbiss in Rodacherbrunn ist eine Institution, da MUSS man rein. Drinnen ist es so warm, dass Dieter und mir sofort die Brillengläser beschlagen. Die Wände sind nahezu tapeziert mit Bildern aus feuchtfröhlichen Hüttentagen, ein kleines Akkordeon liegt in einer Ecke auf dem Stuhl. Aber nur ein Gast sitzt an seinem Tisch bei einem Glas Bier, ein Mann aus dem Dorf, der sich bald verabschiedet. Wahrscheinlich gibt es zu Hause jetzt Mittagessen. Während ich meinen Gulasch mit Spätzle und Dieter seinen Wurstteller verdrücken, beklagt sich Mareille, dass es bisher in diesem Jahr so wenig Wanderer gäbe. "Von Jahr zu Jahr werden es weniger. Na ja, bis ich meine Rente durch habe, sitze ich hier noch meine Zeit ab und dann ist Schluss!" Schade eigentlich! Am liebsten würde ich die vier-fünf Wanderer, die ich gerade draußen vor dem Fenster vorbeiziehen sehe, hineinwinken und sie bitten, reichlich was zu verzehren. Natürlich tue ich es nicht. 


Vor 23 Jahren, also recht bald nach der Wende, hat Mareille versucht, sich mit diesem Imbiss und einer Zimmervermietung nebenan eine Existenz aufzubauen. Am Anfang, als das vereinigte Wander-Deutschland den guten, alten Rennsteig wiederentdeckte, lief es auch ganz gut, doch die Zeiten sind lange vorbei. Heute gibt es andere Top-Trails, Premiumwanderwege, und die führen nicht durch Rodacherbrunn. Schräg gegenüber von ihrem Haus steht ebenfalls ein altes Grenzergebäude. "Vor vielen Jahren lebte man noch ganz gut mit denen, dann wurde das auch viel schwieriger." Auf meine Frage hin, ob es hier auch Fluchtversuche gegeben habe, schmunzelt sie. "Ja, ein paar aus dem Dorf, und sie haben es alle geschafft."


Einen Steinwurf von Mareilles Gaststube entfernt steht die Napoleonslinde. Auf seinem Weg zur entscheidenden Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt hatte er in Rodacherbrunn in einem Gasthof Halt gemacht und diese jetzt sehr stattliche Linde gepflanzt. Auf dem Rückmarsch fällt diesem Menschen doch nichts anderes ein, als im Ort Häuser niederzubrennen und das Wirtshaus bis auf die Grundmauern vernichten zu lassen. Tut man denn sowas???


Inzwischen sind wir mittendrin im Naturpark Thüringisches Schiefergebirge. Wir sehen es in den Dörfern, in Rodacherbrunn, Gumbach, Brennersgrün. Blauschwarzer Schiefer herrscht hier vor, auf Dächern und an Hauswänden. Alle Häuser und auch die Kirchen sind eingepackt mit Schieferplatten. Manche Häuser sehen edel aus, viele aber auch nicht. Reichtum herrscht hier offensichtlich nicht. Im Wald hinter Brennersgrün blitzen auf einmal riesige Schieferabraumhalden zwischen den Bäumen hervor. Wir nähern uns dem gewaltigen ehemaligen Schiefer-Staatsbruch von Lehesten, das sich mit stolz "Schieferstadt Lehesten" nennt. Das "Blaue Gold" wurde hier einst im größten Schiefer-Tagebau Europas abgebaut und in den Westen verkauft. Bereits im Jahr 1300 hat man damit begonnen. Dachschiefer, Wandschiefer, Schultafelschiefer. Die Einheimischen mussten sich oft mit asbestverseuchtem Kunstschiefer begnügen.1990 war Schluss mit dem Schieferabbau. Heute ist der ehemalige Tagebaubetrieb ein "Technisches Denkmal".


Während ich mich hier umsehe, setzt sich Dieter auf eine Bank. Nach 27 km steht ihm nicht mehr der Sinn nach Schiefer. Ich gehe über den Zechenplatz bis zu einem Zaun vor - und dahinter bricht das Gelände fast 50 m senkrecht ab. Eindrucksvolle Wände sind das, mit Hammer und Stemmeisen von Menschenhand herausgehauen. Wo früher der tiefe Tagebaugrund war, liegt jetzt ein riesiger, blau schimmernder See. Grundwasser steigt auf, immer mehr. Keine Pumpen sind mehr im Einsatz, 2006 wurden sie abgeschaltet, der Tagebau säuft ab. Der Förderschacht mit der Göpelanlage steht noch, die Spalthütte, wo man das rohe Schiefergestein gespalten und zu Dach- und Wandschieferplatten geformt hat, weitere Gebäude, die Grubenbahnen. Auf einem Absatz auf halber Höhe der Grube stand das Dampfmaschinenhäuschen mit einem leicht windschiefen Schornstein. Inzwischen hat ihn das Grundwasser erreicht. Wie lange wird er noch zu sehen sein?


Auf Fotos in unser Unterkunft "Glück auf" am Marktplatz von Lehesten sehe ich, wie früher hier gearbeitet wurde. Kein schöner Arbeitsplatz!


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Die Saale entlang

Hirschberg - Blankenstein (16 km)


Frau Weitermann stellt uns mit einem Türklopfen unser Frühstück vor die Zimmertür. Ein großes Tablett voll all der schönen Dinge, die man für ein gutes und reichhaltiges Frühstück braucht. Es ist nicht nötig, sich heute zu hetzen, nur 15 Kilometer sollen es heute werden bis Blankenstein. Wir lassen uns also Zeit. Als ich bezahle, bin ich erstmal baff. Zusätzlich zu unserem Zimmerpreis stellt sie uns ganze 10 € in Rechnung für unser komplettes Abendessen incl. fünf Flaschen Bier. Ich bin begeistert. Dann schlägt sie mir für den Beginn der heutigen Route noch eine Wegealternative vor. "Gehen Sie zuerst nicht auf dem Kolonnenweg, der ist morgens noch sehr nass und vielleicht glitschig. Gehen Sie runter bis zur Saalebrücke und wenden sich dann nach rechts auf den Saale-Radweg. Dem folgen Sie bis Rudolphstein und treffen dort wieder auf den Kolonnenweg. Diese Empfehlung habe ich bisher noch allen Grüne-Band-Wanderern gegeben." 


Unmittelbar vor dem Abmarsch muss ich feststellen, dass mein Wheelie einen Defekt hat. Schon gestern fielen Dieter und mir merkwürdige Geräusche auf, die wir uns aber nicht erklären konnten. Jetzt sehen wir das Malheur. Eine Schraube hat sich gestern unbemerkt gelockert und ist abgefallen. Einsam liegt sie jetzt irgendwo auf dem Kolonnenweg. Doch die Schraube hat wichtige tragende Teile meines Gefährts zusammenzuhalten, deswegen ist dringend eine Reparatur angesagt. Glücklicherweise habe ich noch eine passende Ersatzschraube tief unten in meiner Gepäcktasche. Also alles wieder auspacken, die Schraube aus dem kleinen Plastikbeutel holen, Schraube reindrehen, Plastikbeutel mit den notwenigen Schraubenschlüsseln wieder wegpacken - fertig. Endlich kann es losgehen, eine halbe Stunde später als zur Sollzeit!


Wie von Frau Weitermann empfohlen gehen wir runter zur Brücke, die sich direkt bei dem ehemaligen Verwaltungsgebäude der aufgegebenen Lederfabrik, heute ein Museum, über die Saale spannt. Neben dem Gebäude liegt die weite Fläche, auf der die ganzen Fabrikationshallen standen. Auf einem großen Bild erkennen wir die Ausmaße dieser riesigen Fabrikanlage, auf zwei Seiten umgeben von der Grenzmauer, die sich unmittelbar am Saaleufer entlangzog. Heute ist dort im Prinzip nur eine grüne Wiese.


Der Saale-Radweg , dem wir nun folgen, ist nichts anderes als eine schmale, gut asphaltierte Straße, die zunächst dem Saaleufer auf der bayerischen Seite folgt. Früher hatten westliche Zollbeamte oder Spaziergänger auf diesem Abschnitt auf der anderen, der thüringischen Seite, immer die Mauer vor Augen, wie sie sich ewiglang an der Saale entlangzog. Ein sicherlich bedrückender Anblick. Nach einiger Zeit steigt der Weg bzw. das Sträßchen beständig bergan, entfernt sich etwas von der Saale. Unser Kreislauf kommt in Gang, trotz noch kühler Temperaturen bricht Schweiß aus. Dieter schnaubt neben mir wie ein Walross, hält aber tapfer mit mir mit. Überhaupt muss ich sagen, dass er sich gut schlägt. Für einen Wander-Novizen recht erstaunlich.


Dann hören wir das Rauschen einer Autobahn vor uns, die A9 ist es, von Berlin nach Nürnberg. Wir unterqueren sie durch eine kleine Unterführung, steigen dann endgültig recht steil und unter Einsatz meiner Wheelie-Bremse wieder zur Saale hinab und erreichen Sparnberg. Der Ort liegt hier in einem Saale-Knick. Da der Fluss auch hier die Grenze markierte, waren die Häuser auf zwei Seiten vom Grenzzaun eingeschlossen. Der Ort lag im absoluten Sperrgebiet, in der 500 m - Schutzzone. Die Brücke, über die man früher in den Nachbarort Rudolphstein jenseits der Saale gelangte, wurde zu DDR-Zeiten natürlich abgerissen. Kurz nach der Wende hat man die alte Ortsverbindung wieder hergestellt und eine Holzbrücke gebaut. Als wir an ihr vorübergehen, fährt gerade ein Auto rüber und es rappelt und poltert kräftig.


Nochmals geht es kurz bergauf ins bayerische Rudolphstein, aber kaum sind wir oben, geht es auch schon wieder hinunter zur Saale und über eine blaue Fußgängerbrücke erneut auf die thüringische Seite. Mit diesem doppelten Grenzgang haben wir gerade eine große Saaleschleife abgeschnitten. Die kleine blaue Fußgängerbrücke hat eine besondere Vergangenheit. Sie steht hier anstelle einer alten, Mitte des 19. Jahrhunderts gebauten überdachten Holzbrücke, die zum ehemaligen Rittergut und Mühlenstandort Saalbach führte. Das Gut war ein beliebter Ausflugsort, wo selbst gebrautes Bier ausgeschenkt wurde, und so kamen nicht nur Ausflügler aus den thüringischen Nachbarorten, sondern auch aus Bayern. Anfang der 50er-Jahre wurde die Idylle ein Opfer des DDR-Grenzregimes. Die Familie des Gutsbesitzers wurde zwangsweise umgesiedelt. Zu dieser Zeit existierte die Brücke schon nicht mehr. Sie war gegen Ende des Krieges von der zurückweichenden Wehrmacht abgebrannt worden.


Ab jetzt hat uns der Kolonnenweg wieder. So schnell entkommen wir ihm nicht. Doch heute zeigt er sich uns fast friedlich, als wolle er was gutmachen. Nahe am Saaleufer zieht er mit uns entlang, zwischen den beiden parallelen Lochbetonreihen lässt es sich gut gehen, zwischen den Löchern wachsen manchmal kleine Gänseblümchen und an den Seiten sind die Wiesen gelb vom Löwenzahn. 


Etwas später sehen wir auf der bayerischen Seite die Gebäude der Blumenaumühle. Die Mühle produziert seit Anfang des 20. Jahrhunderts Strom und die Besitzer des Wasserkraftwerks haben darauf geachtet, dass möglichst viel Wasser durch den Mühlenkanal fließt. Und so bleibt für die alte Saale, die immer noch die Landesgrenze bildet, nicht viel Wasser übrig. Erst später treffen das Bett der Saale und der Mühlenkanal wieder zusammen.


Auf Höhe der Blumenaumühle verlassen wir den Kolonnenweg wieder und dürfen dafür wieder ansteigen, kurz und recht knackig hinauf nach Pottiga. Schon bald sehen wir vor uns die Attraktion des Ortes: die Aussichtsplattform, die auf dem Wachhügel steht, einem Steilhang über dem Saaletal. Eine Stahlkonstruktion ragt wie ein riesiges Sprungbrett von der Höhe über den Hang hinaus. Als wir japsend oben sind, steigen wir eine flache Gitterrosttreppe hinauf auf luftige Höhe. Am Ende des weit ausladenden Stegs blicken Dieter und ich tief hinunter auf das Saaletal und die Blumenaumühle. Ein Wunder eigentlich, dass der Ausguck noch nicht von Bungee-Springern entdeckt worden ist. Der Wind pfeift ordentlich hier oben, und da seit einiger Zeit sich die Sonne auch hinter dicken Wolken verzogen hat, wird es Dieter entschieden zu ungemütlich und er lässt mich mit der grandiosen Aussicht alleine. Als er wieder am Fuß der Plattform steht, ruft er mir zu: "Hier unten ist es direkt wieder viel wärmer!" Ja, Dieter, ich komm ja schon...


Hinter Pottiga senkt sich der Weg durch einen Wald bald wieder dem Tal zu. Wir kommen nach Blankenberg, anschließend nach Blankenstein. In gewisser Hinsicht gehören beide Städtchen irgendwie zusammen. Blankenberg und Blankenstein waren berühmt für ihre Fabriken, die Holz aus dem Thüringer Wald und dem Frankenwald zu Papier verarbeiteten. Bei der Fabrik in Blankenberg wurde zu DDR-Zeiten Pergamentrohpapier hergestellt, das im Hauptwerk in Blankenstein zu Butterbrotpapier verarbeitet wurde. Damals war das Ufer der Saale komplett abgeriegelt, auch die Fabrik in Blankenberg war abgeschottet, zwischen Fabrik und Ort verlief der Grenzsignalzaun. Auf das Werksgelände kam nur, wer eine Sondererlaubnis hatte. Drei Jahre nach der Wende wurde die Fabrik stillgelegt, zum Teil abgerissen, dann unter Denkmalschutz gestellt. Seitdem ist man immer noch damit beschäftigt, was blieb, wieder instandzusetzen.


Bei der alten Werksanlage bzw. bei dem, was davon übrig ist, stoßen wir auf die "Pferdebahn", die früher Rohstoffe in kleinen Wagen, von Pferden gezogen, auf schmalen Schienen 2,5 km weit bis zum Hauptwerk nach Blankenstein transportierte. Die Schienen verlaufen heute noch parallel zur Saale, wo die neue Zellstofffabrik steht. Die Spuren der ehemaligen Grenzbefestigung sind hier noch sehr deutlich. Die Grenzzaunpfosten stehen noch unmittelbar neben den Schienen, allerdings zur Hälfte gekürzt. 


Wir kommen nach Blankenstein, wo der Rennsteig beginnt - oder endet. An der Stelle, wo an einem Baumtorso einige Paare alter Wanderschuhe hängen, die vielleicht tapfere Wanderer hier deponiert haben, nachdem sie nach vielen Kilometern ihre Rennsteigwanderung beendet hatten, überqueren wir eine kleine Holzbrücke und absolvieren auf einer Landstraße die letzten eineinhalb Kilometer bis zu unserer Unterkunft, dem Gasthof Blechschmidtenhammer.


Zum Abendessen werden wir in ein Nebenzimmer verfrachtet. Im eigentlichen Gastraum tagt eine Gesellschaft, ein 90. Geburtstag. Ein Posaunenchor spielt auf: einen Kirchenchoral nach dem anderen. Zu meinem 90. Geburtstag hätte ich gern eine Beatles-Revival-Band!




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Little Berlin

Ullitz - Hirschberg (28 km)


Ich denke, der Tag wird lang heute, 30 Kilometer kündigt der Wanderführer an. Vorausgesetzt man läuft das Grüne Band genau so, wie er beschrieben ist, nämlich immer bzw. wenn es eben geht auf dem ehemaligen Kolonnenweg. Aber gerade weil damit die Strecke so lang werden soll und das Kolonnenweg-Laufen sehr mühsam ist, werden wir auch mal von der vorgeschriebenen Route abweichen und über kleine Landstraßen etwas abkürzen.


Der Bus bringt uns wieder hoch nach Ullitz. Weiter will ich von hier unten, wo irgendwie Süden ist, hoch laufen nach Norden, seewärts, wo es flach wird; aufs Meer zulaufen, das ist für mich die richtige Richtung. Ab Ullitz vermeiden wir erstmal den Kolonnenweg, er geht mir jetzt schon auf den Geist. Nicht ungefährlich zu gehen mit seinen Löchern und dann das Wissen darüber, was er mal war: Eine Erschießungsrampe, eine Anlaufspur zum Mord. Muss ich damit jetzt die nächsten Wochen zurechtkommen? 


Dieter und ich gehen kleine Landstraßen und Wirtschaftswege über Ortschaften wie Blosenberg, Heinersgrün, Gutenfürst. Auf meiner Karte kann ich sehen, wie links von uns, westlich also, am Waldrand die ehemalige Grenze verläuft und damit auch der von uns im Moment erstmal verschmähte Kolonnenweg. Nach dem gestrigen (fast) Wintertag mit Regen, Schnee, Kälte und Wind, ist es heute einfach wunderbar. Sonne, blauer Himmel, milde Temperaturen - wie schnell sich das doch ändern kann. Die Sicht ist klar und unsere Blicke gehen weit über die hügelige Vogtlandlandschaft. Wiesen, weite Felder, nur kleine Wälder. Kein Wunder eigentlich. Alles, was wir in der unmittelbaren Nähe sehen, gehörte zur ehemaligen 500 m-Schutzzone. Sie musste für die Grenzkompanien gut überschaubar sein, Dörfer oder Wälder störten da nur. LPG-Bauern konnte man bei der Feldarbeit auf den riesigen Arealen problemlos überwachen. Doch auch hinüber nach Bayern setzt sich eine gewisse offene Landschaft fort, auch im dortigen ehemaligen "Zonenrandgebiet" war vor der Wende nicht viel los, ist es eigentlich immer noch nicht. Nur Windräder stehen verstreut auf den Feldern und Höhen, so viele, wie ich sie in dieser Dichte noch nie gesehen habe.Trotzdem gefällt mir diese weite Landschaft, bei diesem Wetter erst recht.


In Gutenfürst rasten wir auf einer Bank neben der Durchgangsstraße. Gutenfürst wurde kurz vor dem Mauerfall in Berlin bekannt durch eine besondere Wende-Geschichte. Am hiesigen Bahnhof, den wir bei unserem Einmarsch in den Ort bereits oberhalb am Hang gesehen haben, hielten seinerzeit die Züge aus Prag mit den DDR-Flüchtlingen aus der dortigen BRD-Botschaft, die sich in Massen dorthin begeben hatten, um ihre Ausreise zu erzwingen. Laut Anweisung der DDR-Behörden hatte die Ausreise von Prag in die BRD schikanöserweise über den Boden der DDR zu erfolgen. Über Dresden und eben Gutenfürst hatte die Reise zu gehen. In großer Angst erlebten die Ausreisenden diese Zugfahrt, rechneten sie doch fast damit, dass Grenzsoldaten, Grenzpolizei oder Stasi sie dort noch aus den Zügen holen würden. Erst als die Kontrolleure in Gutenfürst, der letzten Station vor der sächsisch-bayerischen Grenze, die Züge verließen, konnten die Menschen daran glauben, dass ihre Fahrt sicher in Hof endete.


Kurz hinter Gutenfürst können wir dem Kolonnenweg nicht mehr entrinnen, sonst wären es statt Abkürzungen Umwege geworden. Wir steuern direkt auf den Drei-Freistaaten-Stein zu. Wer es nicht weiß: Nicht nur Bayern darf sich Freistaat nennen, sondern auch Thüringen und Sachsen. Genau hier endet unser Weg durch Sachsen, wir betreten Thüringen und sehen Bayern im Westen vor uns liegen. Bisher stießen wir in Sachsen immer wieder auf Naturschutzgebietschilder, Schilder mit Beschreibungen zu Flora und Fauna oder gewissen Naturschutzprogrammen. In Thüringen sieht man die nächsten Kilometer nichts davon. Der Kolonnenweg ist weg. Auf meiner Wanderkarte schnürt er zwar hauchdünn weiter, nicht aber vor uns im Gelände. Kein Hinweis auf ein Naturschutzgebiet, nichts. Nur beackerte Felder weit und breit. Ob hier Bauern im Taumel der Vereinigung den Beton herausgerissen haben? Nur bei genauerem Hinsehen erkenne ich die schmale Narbe, die sich durch die Felder zieht und früher der Kfz-Sperrgraben war. Wir folgen dieser Narbe quer über die Felder und landen irgendwann an einer Straße, die uns nach Mödlareuth führt.


Wenn man Mödlareuth betritt, gehört es zum bayerischen Landkreis Hof, wenn man es verlässt zum Saale-Orla Kreis. Bereits im 16. Jahrhundert wurde der Tannbach, dessen Wasser quer durchs Dorf fließt, als Grenzlinie zwischen zwei Grafschaften festgelegt. Dabei blieb es vierhundert Jahre, ohne dass den Mödlareuthern freilich verboten wurde, ihre Kinder in dieselbe Schule zu schicken, gemeinsam im Wirtshaus zu feiern oder gar miteinander zu sprechen. Auf diesen Wahnsinn verfiel erst die DDR-Regierung, die im Sommer 1952 neben dem Bachlauf eine Bretterwand errichten ließ, die später durch einen Stacheldrahtzaun, noch später durch eine 700 m lange und 3,30 m hohe Mauer ersetzt wurde. Dazu kamen Wachtürme, Hundelaufanlagen, Suchscheinwerfer und Lichtmasten, die das Areal auch nachts ausleuchteten. Einstige Nachbarn wurden zu Staatsfeinden, Familien auseinandergerissen. Vor der Wende war hüben die "aggressiv BRD", drüben die "zur Verteidigung genötigte DDR". Von der Mauer stehen heute noch hundert Meter. Und weil sie zu einem Museum gehört, wird sie regelmäßig mit weißer Farbe getüncht. Das lässt sie irgendwie harmloser, niedriger, friedlicher - keinesfalls abschreckend erscheinen. 


Wie pflegt man eigentlich so ein Stück Originalmauer? Wie sehr darf so ein Stück Originalmauer verwittern, vergehen? Darf einem, wenn man hier wohnt, so ein vielleicht immer unansehnlicher werdendes Stück Originalmauer eines Tages auf den Geist gehen? Wie aber sähe ein ansehnliches Stück Originalmauer aus? Darf jemand jemanden vorschreiben, woran der sich täglich erinnern muss? Das Dorf ist heute ein professionell geführtes Museumsdorf und eine Gedenkstätte für jährlich bis zu 60.000 Besucher und mehr, die nachvollziehen wollen, zu was das ehemalige DDR-Regime fähig war. Aber gibt es den Zeitpunkt, wo das Historische zwangsläufig Folklore wird? Wann werden Metallgitterzaun, Hundelaufanlagen und Minenfeld des Grenzmuseums den netten Grusel mittelalterlicher Burgen mit Ritterrüstungen, Keuschheitsgürteln und Folterkammern vermitteln, wann werden Stacheldraht und Selbstschussanlagen zu Fachwerk und Butzenscheiben geworden sein?


Hinter Mödlareuth taucht der Kolonnenweg wieder auf, der von nun an Saale-Orla-Wanderweg heißt. Doch es ist ein etwas anderer Kolonnenweg. Nicht mehr derTyp mit den vielen Löchern, in die man abzuknicken droht, sondern "Marke Harmlos", mit Platten ohne Löchern. Na, so geht's doch! Auf ihm schwingen wir durchs Tannbachtal bis zur Saale und merken, dass die Füße nun immer mehr zu brennen beginnen. Tapfer durchlaufen wir eine weite Saaleschleife und ziehen dann einen Hang hinauf, wodurch der Weg den Saale-Klippen ausweicht. Irgendwann verlassen wir die Löcher-Platten und ein schmaler Pfad mit Felssteinen und Baumwurzeln führt uns mitten durch eine urige, wieder bewaldete Felslandschaft, die zu betreten zu DDR-Zeiten verboten und weitgehend gerodet war fürs freie Sicht- und Schussfeld. Doch uns bieten sich immer wieder grandiose Tiefblicke, die Dieter aber so gar nicht grandios, sondern eher etwas beängstigend empfindet. Langsam, gaaaanz langsam absolviert er diesen Abschnitt, der außer Tiefblicken auch noch recht happige Auf- und Abstiege uns beiden abverlangt. Und das gegen Ende eines langen Wandertages...


Die Uhr zeigt schon später als 18 Uhr an, als wir uns vom Saaleufer hoch in den Ort Hirschberg empormühen. In Hirschberg stand bis 1996 eine der größten Lederfabriken der Welt. Seit dem 14. Jahrhundert stellte man hier Leder her. Bis 1990 produzierte man aber nicht nur Leder, sondern auch jede Menge Gerberei-Abwässer, die weitgehend ungehindert in die Saale flossen. Absatzschwierigkeiten und die schlechten Umweltstandarts führten zum Aus. 1000 Leute standen auf einmal auf der Straße. Der riesige Fabrikkomplex wurde abgerissen.


So ganz scheint sich Hirschberg bis heute nicht davon erholt zu haben. Was wir vom Ort noch wahrnehmen, als wir uns ziemlich schleppend durch ihn hindurch bewegen, ist eigentlich nur Trostlosigkeit. Als Frau Weitermann, unsere Zimmervermieterin, sich darum bemüht, uns ein Abendessen in nahegelegenen Gaststätten zu vermitteln und sie mit ihrem Auto sogar abfährt, weil telefonisch niemand reagiert, kommt sie etwas betreten dreinblickend zurück. "Nichts ist auf! Wir sind eben sehr strukturschwach. Aber ich mache Ihnen was! Wie wär's mit Bratkartoffeln, Spiegeleier und Sülze? Wäre Ihnen das recht?"


Sehr recht, Frau Weitermann!


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Start zum Grünen Band Deutschland

Ebmath - Ullitz (20 km)

Es regnet! Nicht nur ein wenig, sondern so richtig. Nach zwei Wochen Sonne jetzt mal verschärfte Bedingungen. Genau pünktlich zum Start zu meiner Grenzwegwanderung auf dem Grünen Band. Dieter wird mich dabei noch eine Woche begleiten. Momentan kann ich es mir mal wieder kaum vorstellen, wie weit tausendvierhundert Kilometer sind. Mit dem Auto, auf regulären Straßen, dürfte das ungefähr die Entfernung von München nach Barcelona oder von Köln nach Rom sein. Und ich will das wieder zu Fuß erledigen, quer durch die Botanik, viel auf kleinen Straßen, oft auf dem alten Kolonnenweg der DDR-Grenztruppen.

Die einstige Grenze birgt Erinnerungen an Mauerbau und Menschenrechtsverletzungen, an die völlige Hilflosigkeit eines staatlichen Systems, dem die Bürger davonliefen. Um der Fluchtbewegung einen Riegel vorzuschieben, richtete die DDR diesen Überwachungsstreifen ein. In der Folge des Mauerbaus in Berlin wurde die gesamte DDR eingezäunt durch den Ausbau des "antifaschistischen Schutzwalls". Das trat bei vielen Menschen im Westen im Laufe der Jahre etwas in den Hintergrund. Die Mauer von Berlin blieb dagegen präsenter, war viel "prominenter". Denn für jeden Berlinbesucher war es obligatorisch, mal von einem Besucherpodest über die Mauer zu schauen oder in die Nähe des Checkpoint Charley zu gehen.

Ich selbst war in jungen Jahren ganze viermal am sog. Eisernen Vorhang: Bei einem kleinen Urlaub mit meiner Frau und meinem Kronprinzen - damals kaum ein Jahr alt - im Raum Ratzeburg, bei einer Wanderung durch Hessen in der Rhön, während meiner Bundeswehrzeit in der Nähe von Lauenburg an der Elbe und im Rahmen einer Klassenfahrt mit einem 10. Schuljahr im Harz. Immer nur ein Mal-eben-gucken, ein Kopfschütteln. Die Grenze hatte für mich eine Art "Bestand auf ewig". Dass ich die Aufhebung der Teilung, die Abschaffung von Stacheldraht, die Entsorgung der Minenfelder, die Aufhebung der Sperrgebiete, die Überwindung von Willkür, Bespitzelung und Verschleppung, die Beendigung des Schleifens ganzer Dörfer noch in "jungen Jahren" - ich war gerade 40 Jahre alt - erleben würde, hatte ich nicht einkalkuliert.

Herr Windecker bringt uns mit seinem Wagen hinauf an den ehemaligen Grenzstreifen. Von Bad Elster fahren wir zuerst in den tschechischen Zipfel bei Hranice hinein, der hier nach Bayern hineinragt. Nach zehn Minuten ziemlich tristem Tschechien, geht es nach Sachsen hinüber. Am alten Zollgebäude des ehemaligen Grenzübergangs Hranice - Ebmath fährt uns Herr Windecker noch vorbei, entlässt uns dann aber am Ortseingang von den wenigen Häusern von Ebmath auf unseren Weg. 

Es ist nass, es ist kalt, es ist windig, es schneit mehr als es regnet, die Sicht geht keine 50 Meter. Ein bombiger Start! Wir stapfen los, hoffen, dass uns davon bald wärmer wird, aber der Wind ist echt biestig. Mit unseren Schirmen versuchen wir, uns vor dem Wind zu verstecken, aber es hilft nicht viel. Unsere bunten Schirme überziehen sich langsam mit einer dünnen weißen Decke - und mein Wheelie rollt. Links und rechts von uns mal kleine Wälder oder weite Wiesen. Da unten, wo die Baumreihe mit jungen Bäumen durch die Wiese entlangzieht, muss die Grenze zwischen Sachsen und der ehemaligen Tschechoslowakei gewesen sein. Ja, auch hier, im Gegensatz zur sonst offenen Grenze zwischen den beiden "Bruderländern", hatte die DDR auf dieser Strecke ihren Grenzsicherungsstreifen gezogen. Gerade nach der niedergeschlagenen Reformphase des "Prager Frühlings" 1968 traute die DDR ihrem Partner wohl nicht mehr, wollte sichergehen und hat "vorbeugende Amtshilfe" geleistet.

Wir kommen nach Pabstleithen, einer kleine Streusiedlung, die früher wesentlich größer war. Die Häuser reichten bis nahe an die tschechische Grenze, bis die DDR-Grenzorgane hier eine Räumung der im 500 m -Schutzstreifen befindlichen Anwesen angeordnet hatten und nach der Zwangsausweisung von 54 Familien im Jahre 1974 die Häuser abreißen ließen.

Immer noch fliegen uns schwere Schneeflocken um die Ohren, die Hand am Schirm wird so langsam immer kälter, das große Schwitzen will sich nicht einstellen. Der Weg ist hier noch nicht markiert, ich versuche, mich mit der Karte zu orientieren. Nur allzu oft will ich sie nicht zücken, der Schneeregen weicht sie auf. Ergebnis: Irgendwo kommen wir etwas vom Weg ab, sind nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Wir irren etwas durch die Gegend, stehen dann aber doch erstmalig auf dem alten Kolonnenweg, sehen daneben die Reste des ihn begleitenden Panzergrabens und stehen dann doch, fast unvermittelt, am Dreiländereck Tschechien - Bayern - Sachsen. Wir sehen die Grenzsteine: "DB" für Deutschland Bayern, "DS" für Deutschland Sachsen, "CS" für Tschechoslowakei. Das "S" ist allerdings weiß übermalt und "C" steht heute alleine für Tschechien. Genau hinter diesen Grenzsteinen lag im 19. Jahrhundert noch das gut besuchte Wirtshaus Hoffmannsmühle, eine urige böhmische Schenke mit Wein-, Bier- und Branntweinausschank. In der kleinen Gaststube trafen sich einst böhmische Viehhändler, sächsische Zollbeamte und bayerische Grenzaufseher. So mancher trug seinen Rausch nach Bayern und Sachsen hinüber. Wir hätten uns gerne in diesem Gasthaus mal aufgewärmt, aber es steht schon lange nicht mehr. Also weiter!

In Posseck zweigen wir mal wieder vom Kolonnenweg ab. Wir hoffen auf eine Kneipe, sie ist jedenfalls mit einem Symbol auf meiner Karte verzeichnet. In der Dorfmitte steht ein Metzgermobil und preist diverse Würste an. Immerhin, eine alte Frau kann der Metzger gerade als Kundin bedienen. Daneben steht eine überdachte Bushaltestelle. Ich frage dort eine weitere alte Dame, wo ich denn die Gaststätte finden könne. Sie lächelt nur mitleidig und schüttelt mit dem Kopf. "Die gibt es hier schon lange nicht mehr, und überall hier in den Dörfern auch nicht." Na prima! Aber eine Rast muss jetzt sein, hier sind wir wenigstens windgeschützt. 

Nach fünf Minuten kommt eine dritte alte Dame und wir kommen mit ihr kurz ins Gespräch. Ihre Familie ist von ihrem Bauernhof am Ortsrand vertrieben worden. Sie gehörten zu den Unliebsamen. Dem Vater wurde von einem Mitbürger gedroht: "Du kommst auch noch dran! Gestern war nur kein Platz mehr auf dem LKW, der die anderen weggebracht hat." Er antwortete nur: "Lebend bekommt ihr mich nicht von meinem Hof!" und zwei Wochen später hängte er sich in seiner Scheune auf, mit 46 Jahren. Die Schwester der alten Dame wurde samt ihrem Kleinkind "ins Ungewisse" verbracht, "irgendwohin bei Weimar". Wiedergesehen haben sie sich erst viele Jahre später. Sie erzählt noch von einer Bürgerversammlung vor bzw. mit den hiesigen Kontrollorganen. Dabei sei der Pfarrer aufgestanden und habe gesagt: "Ich will nicht lange drumherumreden. Wenn ich hier den Zaun sehe, fühle ich mich wie in einem KZ." Darauf habe sich ein anderer Mann erhoben und getönt: "Dieser Mann muss sofort aus unserem Dorf verschwinden!" Nach bereits einer Stunde wurde der Pfarrer abgeholt, zusammen mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern. "Wir konnten damals keinem im Dorf trauen. Es war fürchterlich!"

Sie empfiehlt uns, nicht weiter auf dem Kolonnenweg zu gehen und weist uns auf eine andere Route. Wir merken bald, dass diese in der Tat etwas einfacher zu gehen ist. Das Wandern auf dem Kolonnenweg ist mühsam. Die Löcher in den Platten sind äußerst tückisch, schnell knickt man darin um. Stellenweise wächst Moos auf dem Beton, dann wird es rutschig auf den leichten Abstiegen. Also folgen wir ihrem Rat und es geht zügiger voran.

Wir gehen auf schottrigen Wirtschaftswegen oder kleinen Landstraßen und sind schneller als gedacht an der Straße, die Hof mit Plauen verbindet. Hier liegt der kleine Ort Ullitz - und eine Bushaltestelle. Ullitz ist für heute das Ziel unseres Fußmarsches, aber noch nicht der Ort mit unserer Unterkunft. Hier gibt es nichts, wo man sein Haupt betten könnte, dazu müssen wir ins zwei Kilometer entfernte Hof hinunter. Dort habe ich uns ein Doppelzimmer gebucht. Schön wäre es jetzt, wenn es wenigstens in Ullitz eine Gaststätte zum Aufwärmen gäbe, denn der Bus kommt erst in ca. einer halben Stunde. Dieter will jetzt aber sitzen, und zwar möglichst bequem und windgeschützt. Er geht um ein Haus herum und bleibt verschwunden. Als ich nach ihm sehe, sitzt er völlig tiefenentspannt im Hof auf einem Plastikstuhl. Als ich mich zu ihm geselle, erscheint die Frau des Hauses in der Tür und sofort beginnt ein kleiner Plausch. Sie erzählt vom 12. November1989, dem Tag, als sich nur etwa hundert Meter entfernt an der Straße die Grenze zwischen Plauen (DDR) und Hof (BRD) um 10 Uhr öffnete. "Noch als es dunkel war, habe ich so komische Laute von der Grenze aus gehört, später auch Autos fahren, viel mehr als sonst. Dann ahnte ich was. Ich habe meinen Mann geweckt und ihm gesagt: Du, die machen die Grenze auf. Du spinnst, hat er gesagt, schlaf weiter. Um halb elf haben wir es dann gesehen: Eine einzige Schlange an Trabbis wälzte sich die Straße Richtung Hof hinunter, den ganzen Tag. Und abends wieder zurück. Ein paar Wochen lang ging das so. Die Nebenstraße hier über die Dörfer bis nach Hof musste irgendwann gesperrt werden. Wir kamen ja die 173 nicht mehr runter nach Hof zur Arbeit. Die Ossis fuhren also auf der 173 und wir auf der Nebenstrecke nach Hof - und genauso wieder zurück."

Als wir unten in Hof unser Hotel suchen, ist es dort viel ruhiger als am 12. November 1989.

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Keine Gewalt!

Erst nachmittags nach 14 Uhr fährt unser Zug in Richtung Vogtland, dorthin, wo morgen unser Weg auf dem Grünen Band Deutschland beginnen wird. Zeit genug, um nochmal in die Innenstadt zu gehen, in aller Ruhe, so rumbummeln halt. Unser Gepäck dürfen wir wieder bis zu unserer Abreise in der Hotellobby lassen.

Obwohl es ziemlich bewölkt ist, ist es noch recht warm. Jedenfalls warm genug, um noch im Hemd durch die Straßen zu laufen. Eigentlich haben wir gestern auf unseren Rundgängen durch den Innenstadtbereich alles gesehen, was Leipzig an historischen Orten zu bieten hat, nur in der Thomaskirche und der Nikolaikirche waren wir noch nicht. 

Wenn ich früher von der Thomaskirche in Leipzig hörte, dachte ich an die Wirkungsstätte von Bach und an die "Heimat" des Thomanerchores. In der Kirche lese ich nochmal vieles über das Leben und Wirken von Bach, über seine hier in Leipzig komponierten Werke und über die Art und Weise, wie er hier im Altarraum seine letzte Ruhestätte fand. Ich lese von der Geschichte des Thomanerchores, der zur Zeit Bachs aus 54 Sängern bestand und dem heute ca. 110 Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 18 Jahren angehören. Diesem reinen Jungenchor obliegt besonders die Pflege der Werke Bachs, gesungen in den sonntäglichen Gottesdiensten, und die jährlichen Aufführungen des Weihnachtsoratoriums und im Wechsel die Matthäus- und die Johannespassion.

Zur Nikolaikirche zog es mich aber mehr, dorthin, wo die Friedliche Revolution in der DDR mit den montäglichen Friedensgebeten wohl ihre Keimzelle hatte. Sie begannen bereits im kleineren Kreis zu Beginn der 1980er-Jahre, an jedem Montag um 17 Uhr. Friedens- und Umweltgruppen waren die treibenden Kräfte. Zu mancher Zeit waren die Friedensgebete nur von einer kleinen Schar von Betern getragen. Doch immer wieder gab es aktuelle Anlässe, wo sich viele aus Protest zu bestimmten Entwicklungen versammelten. Besonderer Druck entstand, als die Welle der Bürger, die ihre Ausreise aus der DDR beantragt hatten, zunahm und diese - oft Nichtchristen - keine andere Möglichkeit besaßen, als sich in der Kirche zu treffen und auszutauschen.

Die Spannung wuchs, als Montag für Montag die Kirche außen von Polizeikräften umstellt wurde, die den Kirchenvorplatz, den Nikolaikirchhof, von "illegalen Ansammlungen" räumten. Im September 89, als die einen forderten "Wir wollen raus" und die anderen bekannten "Wir bleiben hier", kam es zu weiteren Verhaftungen. Doch nun bekannten sich auch mehr und mehr Leipziger zu der Entwicklung. Tagsüber wurden die Fenster der Kirche mit Blumen geschmückt, abends brannten zahlreiche Kerzen. Die Haltung der Gewaltlosigkeit griff über von den Hunderten, die in den Kirchen zum Friedensgebet zusammenkamen, auf die Tausende, die sich dann Anfang Oktober auf dem Platz und den Straßen davor versammelten.

Die staatlichen Behörden verstärkten den Druck. Montag für Montag kam es zu Verhaftungen bzw. "Zuführungen" im Zusammenhang mit den Friedensgebeten. Trotzdem stieg der Andrang der Besucher. Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, schlugen 10 Stunden lang Uniformierte auf wehrlose, sich nicht wehrende Menschen ein, transportierten sie in Lastwagen ab. Hunderte wurden in Pferdeställe gepfercht. Dann kam der alles entscheidende 9. Oktober. Ein schauriges Gewaltszenario von Armee, Kampfgruppen, Polizei und zivilen Beamten war aufgeboten. Trotz dieser Bedrohung ging das Friedensgebet in einer unglaublichen Ruhe und Konzentration vonstatten. Kurz vor dem Schluss wurde noch der Appell des Gewandhauskapellmeisters Professor Masur und anderer verlesen, die zur unbedingten Gewaltlosigkeit aufriefen. Als die 2000 Menschen aus der Kirche herauskamen, warteten draußen Zehntausende auf dem Platz. Sie hatten Kerzen in den Händen. Und wenn man eine Kerze trägt, braucht man beide Hände, um sie vor dem Auslöschen zu schützen. Da kann man nicht gleichzeitig noch einen Stein oder Knüppel in der Hand halten.

Das Wunder geschah. Sowohl auf dem Kirchenvorplatz als auch während des sich anschließenden Demonstrationszuges auf dem Innenstadtring blieben die Massen absolut gewaltlos. Armee, Kampfgruppen und Polizei wurden einbezogen, in Gespräche verwickelt, zogen sich zurück. Nur wenige Wochen dauerte diese Phase der gewaltlosen Bewegung und brachte doch die Partei- und Weltanschauungsdiktatur zum Einsturz. Mit Sicherheit wäre dies alles ohne die neue Politik Michael Gorbatschows in der Sowjetunion und seine klare Botschaft an die DDR-Regierenden, dass jedes Land seine Probleme selbst zu klären habe, nicht möglich gewesen. Und dennoch darf dies die gewaltige historische Leistung der Leipziger nicht schmälern.

Horst Sindermann, Mitglied des Zentralkomitees der SED, sagte vor seinem Tod: "Wir hatten alles geplant. Wir waren auf alles vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete."

Zum Abschied von Leipzig essen wir noch jeweils ein großes Eis in einem Leipziger Eissalon, schnappen uns dann in unserem Hotel unser Gepäck und ziehen zum Bahnhof. Inzwischen ist es empfindlich kühler geworden, dunkle Wolken bedecken den ganzen Himmel. Das Wetter fängt offensichtlich an umzuschlagen. Im Zug Richtung Gera schlägt schon Regen gegen die Fensterscheibe. In Gera müssen wir eine halbe Stunde auf die Vogtlandbahn warten, die uns nach Bad Elster bringen soll. Auf dem Bahnsteig pfeift der Wind und es wird immer kälter, man kann es von Minute zu Minute förmlich fühlen. Hinter Gera verändert sich die Landschaft. Nicht mehr die Ebenen von Berlin oder Leipzig, es wird hügeliger. Unplanmäßig müssen wir den Zug in Elsterberg verlassen, Schienenersatzverkehr bis Barthmühle. Ein Kleinbus klappert mit uns und anderen auf kurvenreicher Strecke bergauf und bergab. Am Ortsbeginn von Connersgrün sagt uns eine Mitfahrerin stolz, dass dort drüben, da in dem ockerfarbenen Haus, mal Angela Merkel gewohnt hätte. Ich zeige mich tief beeindruckt und frage sie, ob denn nicht mittlerweile Wallfahrten dorthin führten. Sie lacht lauthals, wünscht uns eine schöne Wanderung und steigt aus. In Barthmühle tun wir es ihr nach, denn der kleine Triebwagen der Vogtlandbahn steht wieder am Bahnsteig des winzigen Bahnhofs bereit, um uns endlich nach Bad Elster zu bringen.

Ich melde mich telefonisch bei unserer Unterkunft. So ist es verabredet. Der Bahnhof liegt weit außerhalb des Ortszentrums, daher möchte man uns vom Bahnhof abholen. Wir sollten doch bitte schon in Adorf aussteigen, ab dort sei wieder Schienenersatzverkehr. Als wir in Adorf aussteigen, steht schon ein älterer Herr in Bereitschaft, schüttelt uns die Hände und stellt sich als "Windecker" vor. Na das ist ja ulkig! Ein Windecker trifft Herrn Windecker im Vogtland. Ein gutes Omen für die nächsten Tage!?

Hat Mami Merkel wirklich mal in Connersgrün gewohnt? Mir ist nur Templin in der Uckermark als ein früherer Wohnort von ihr bekannt. Ich muss das mal googeln.

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Zwischenstation Leipzig

Abschied von Berlin, Abschied von Christa. Sie bringt uns noch an die U-Bahn und winkt uns hinterher, als sich die Türen der Bahn zwischen uns schließen. Danke, Christa, für deine Gastfreundschaft, für dein liebes Wesen, für deine guten Ratschläge, für deine zeitweilige Begleitung! Besser hätten wir es nicht antreffen können.

Am Südkreuz steigen wir um, von der U-Bahn in den ICE, ganz was Feines. Kaum eine Stunde werden wir bis Leipzig brauchen, Zeit genug, den Mauerweg noch einmal kurz zu überdenken. 

Der Mauerverlauf war nur noch an wenigen Stellen dokumentiert: Mauerabschnitte von wenigen oder mehreren Metern Länge sind an einer Hand abzuzählen, einzelne Mauerelemente tauchen an besonderen Gedenkorten auf, über weite Strecken durch die Mitte Berlins zeichnet eine doppelte Pflastersteinreihe den ehemaligen Verlauf nach, viele Stelen gedenken der Opfer oder erzählen die Geschichte mancher Orte und Plätze, die meist traurige Berühmtheit erlangten. Nach dem Motto "Die Mauer muss weg!" wurden fast alle authentischen Zeugnisse des Grenzverlaufs ansonsten beseitigt, man wollte und konnte sie nicht mehr sehen. Heute wird eingestanden, dass das ein Fehler war. Die Stadtentwicklung ist in den Jahren nach dem Mauerfall in einem solch rasanten Tempo vorangeschritten, dass sich selbst viele Berliner nur noch schwer oder gar nicht mehr an den genauen Verlauf der Mauer erinnern können. Für Jugendliche sind diese Zeiten sowieso schon Geschichte.

Insgesamt war die 3,60 m hohe Mauer um West-Berlin 160 Kilometer lang. Ziemlich exakt genau so lang sind wir auf dem Mauerweg marschiert, meist über Asphalt oder Pflaster, selten nur auf "fußfreundlichen" Wegen. Immer wieder waren für mich die Gedenkorte für die Maueropfer berührend und Quelle aufkommenden Zorns. Wie konnte ein Staat so etwas mit seinen Bürgern machen? Die West-Berliner Polizei registrierte zwischen 1961 und 1989 5.075 erfolgreiche Fluchten, davon 574 Fahnenfluchten der DDR-Grenzsoldaten. Etwa 3.200 Menschen wurden von Grenzsoldaten bei ihren Fluchtversuchen festgenommen. Nach aktuellen Forschungen sind allein an der Berliner Mauer 128 getötete Flüchtlinge zu beklagen. Von den 80 nach dem Ende der DDR ermittelten und vor Gericht gestellten Todesschützen bekamen 77 eine Bewährungsstrafe.

Trotz der Asphaltkilometer war für mich der Mauerweg eine abwechslungsreiche und geschichtsträchtige Route. Namen stehen erinnernd für Ereignisse: Potsdamer Platz, Checkpoint Charley, Bernauer Straße, Bornholmer Straße, Oberbaumbrücke, "East Side Gallery", Sacrower Heiligenkirche, Entenschnabel, Steinstücken, Klein Glienicke, Glienicker Brücke, Reichstag, Brandenburger Tor. Ich war schon oft in Berlin, doch erst jetzt habe ich das Gefühl, dass mein Bild von dieser Stadt abgerundet ist.

Wir kommen in Leipzig an. Direkt am Stadtring, schräg gegenüber vom Hauptbahnhof, ist unser Hotel. Wir checken ein, aber aufs Zimmer können wir noch nicht, erst ab 14 Uhr. Zur gleichen Zeit aber beginnt der "Stadtspaziergang", eine zweistündige Führung durch den Innenstadtbereich, die ich bereits zu Hause gebucht hatte. Dieter und ich deponieren unsere Sachen in der Hotellobby und begeben uns auf Erkundungstour.

Die Zeit bis zur Stadtführung scheint uns ausreichend, um auf dem inneren Stadtring den Altstadtbereich Leipzigs so weit wie möglich zu umkreisen und damit gleichzeitig auch einen historischen Weg der neueren deutschen Zeitgeschichte nachzugehen. Hier zogen besonders im September und Oktober 1989, im Anschluss an die Friedensgebete in den großen Kirchen der Stadt, die Montagsdemonstrationen mit einer ständig sich vergrößernden Teilnehmerzahl, immer in der Angst vor der Gewalt und den Waffen der Staatsmacht. Nach der brutalen Niederschlagung der Studentendemonstrationen auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking, schien ein ähnliches Eingreifen hier in Leipzig und später auch in anderen Orten fast wahrscheinlich.

Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, war es an vielen Orten des Landes zu Protesten gekommen. Am darauffolgenden Montag wollte das DDR-Regime den "Spuk ein für allemal beenden" und hatte mit dem Einsatz von Schusswaffen offen gedroht. Trotz großer Angst demonstrierten am 9. Oktober nach Friedensgebeten in vier Leipziger Kirchen (u.a. Thomaskirche und Nikolaikirche) mindestens 70.000 Bürger mit den Losungen "Keine Gewalt" und "Wir sind das Volk" gegen das Regime. Tausende waren extra nach Leipzig angereist. Angesichts dieser Massen mussten sich die 38.000 bereitstehenden Sicherheitskräfte zurückziehen.

Der friedliche Verlauf des Abends wurde als Sieg über das Regime empfunden. Von nun an ergriffen Proteste das ganze Land. Die DDR bereitete weiterhin eine gewaltsame Auflösung der Demos vor. Gleichzeitig versuchte sie, durch "Dialog"-Veranstaltungen mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen, um den Demos ein Ende zu setzen. In den folgenden Wochen wuchs die Zahl der Montagsdemonstranten stetig. Am 16. Oktober waren es bereits 120.000. Nach der Wende, als diverse Gruppierungen versuchten, demokratische Strukturen zu installieren, unterstützten sie zeitweise über 300.000 Menschen auf den Straßen Leipzigs.

Alle diese großen Demonstrationszüge zogen auch an der "Runden Ecke" vorbei, der einstigen Bezirksverwaltung für Staatssicherheit. Am 4. Dezember 1989, also fast einen Monat nach dem Mauerfall, wurde hier eine wichtige Forderung der Friedlichen Revolution Wirklichkeit: Engagierte Bürger besetzten das Gebäude und legten die Arbeit der immer noch existierenden Stasi-Zentrale lahm. Heute ist im 4. Stockwerk dieses verhassten Gebäudes, im ehemaligen Kinosaal, eine umfassende Ausstellung zu den Ereignissen der Wendejahre mit zahlreichen Wort-, Bild- und Tondokumenten untergebracht. Dieter und ich schauen uns alles an und können immer wieder nur den Kopf schütteln. Was waren das damals für Wochen und Monate...

Dieter und ich gehen weiter, kommen zum riesigen Augustusplatz mit Gewandhaus, Oper und Universität, auf dem im Herbst 1989 Massenkundgebungen stattfanden, biegen dann in den Altstadtbereich ein und gehen bis zum Markt. Inzwischen machen sich auch schon die Füße bemerkbar. Wir gönnen uns eine kleine Mahlzeit bei einem Italiener und sind dann bereit für die Stadtführung. Wir geraten bei einer Frau mittleren Alters an geballte Kompetenz und Eloquenz und wissen bald einiges mehr über die Messestadt Leipzig in früheren Jahren und heute, über Bach, Thomanerchor, Herrn Goethe und seinen Faust und anderes mehr und sind danach fast so erschöpft wie nach einem Marsch von 15 km auf dem Mauerweg. Fazit: Leipzig ist mit Sicherheit eine Reise wert, aber jetzt wird es Zeit, dass wir in ruhigere Gegenden kommen. Sie werden sogar recht einsam werden - zumindest zunächst mal recht feucht. Ab morgen soll das Wetter schlechter werden - endlich mal andere Bedingungen!

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Agenten - Feiern - Feste

Griebnitzsee - Volkspark Potsdam (8 km)

Unweigerlich der letzte Wandertag auf dem Mauerweg! Die Strecke von Griebnitzsee bis zum Volkspark Potsdam hatten wir ja bewusst ausgelassen, um nach dieser sehr kurzen Etappe noch nach Werder zum dortigen Eröffnungstag des Blütenfestes zu fahren. Um spätestens gegen 13 Uhr wollen wir von Potsdam aus die zehn Minuten bis nach Werder fahren. Das Wetter hält sich hoffentlich, aber ein Wetterumschwung ist für die nächtsten Tage vorhergesagt.

Christa lässt es sich nicht nehmen, die letzten acht Kilometer mit uns zu gehen. Gegen 9.30 Uhr sind wir am Bahnhof Griebnitzsee, und ich muss leicht vor mich hin schmunzeln, als wir auf den Bahnhofsvorplatz treten und ich die leeren Stühle bei dem kleinen Bahnhofsbistro sehe. Vor ein paar Tagen hat noch Wolfgang mit Dieter dort gesessen und sich seelig ein Weizenbier reingepfiffen, nachdem er die Strecke des Tages endlich geschafft hatte.

Christa, Dieter und ich sind in wenigen Minuten am Seeufer. Tatsächlich ist es für wenige hundert Meter möglich, den Uferweg zu gehen, exakt dort, wo einst von der DDR-Führung die Grundstücke enteignet und die Mauer gebaut wurde. Dann ist damit wieder Schluss. Die Villenbesitzer wollen nicht mehr von popeligen Spaziergängern oder Mauerweg-Wanderern belästigt werden. Um ein bleibendes Wegerecht für die Öffentlichkeit wird nach wie vor mit den alten und den neuen Grundstücksbesitzern gestritten. 

Genau hier, am Ufer des Griebnitzsees, lebten in den 1920er und 1930er Jahren prominente Künstler und Schauspieler, die wegen ihrer jüdischen Herkunft emigrieren mussten. Ebenso wohnten hier aber auch während der Potsdamer Konferenz im Sommer 19 45 die Staatsmänner der aliierten Siegermächte. Im "Haus Erlenkamp" residierte der amerikanische Präsident Harry S. Truman, etwa 500 m weiter steht die "Churchill-Villa" als Residenz für den britischen Premierminister Winston Churchill und seinen Nachfolger Attlee. Der sowjetische Generalissimus Josef W. Stalin wohnte in der "Villa Herpich", weitere 800 m weiter. Die "großen Drei" besuchten sich nur seeseitig mit Schiffen und benutzten eine eigens errichtete Ponton-Brücke, um zum Schloss Cecilienhof, dem Verhandlungsort, zu gelangen. Schon ein merkwürdiges Gefühl für mich, dort entlangzulaufen, wo diejenigen Männer zeitweilig wohnten, die den Verlauf der Geschichte Deutschlands für Jahrzehnte bestimmten. Sie hatten damals nicht die Teilung Deutschlands in DDR und BRD, geschweige denn den Mauerbau beschlossen, dennoch schufen sie dafür die Grundlage. Die Ursache dafür aber ging von einem Deutschen aus, von einem Größen-Wahnsinnigen.

Am Nordrand vom Park Babelsberg sehen wir auf der anderen Seite eines engen Wasserlaufes, der den Griebnitzsee mit dem Tiefen- und dem Jungfernsee verbindet, einige Häuser liegen, zu denen nur eine kleine Brücke führt, die Parkbrücke. Was heute nur noch idyllisch aussieht, war zu Mauerzeiten ein besonderes Beispiel dieses Grenzirrsinns. Die Häuser gehören zu Klein Glienicke. Der Ort mit seinen heutigen 500 Einwohnern war eine winzige Insel der DDR auf der West-Berliner Seite. Er war nur drei Hektar groß, in etwa schmetterlingsförmig in seinem Umriss, umgeben von Mauer und Klassenfeind - die schmalste Stelle war nur 15 m breit - und der am schwierigsten zu kontrollierende Abschnitt an der Mauer. Vor der Parkbrücke stand eine Kontrollstelle, ohne Passierscheine und Begleitung durch die Grenzsoldaten ging nichts, Besuche nur bei monatelanger vorheriger Antragstellung. Jede Leiter musste stets angeschlossen sein, sie könnten ja zur Flucht genutzt werden. Wegen dieser Einschränkungen zogen vor allem jüngere Leute fort. Leerstehende Häuser wurden sofort abgerissen. Im Juli 1973 gelang dennoch zwei Familien durch einen 19 m langen, nur mit Kinderschaufeln und Spatenblatt gegrabenen Tunnel vom Keller ihres Hauses die Flucht nach West-Berlin.

Wie es damals in diesem kleinen Ort aussah, kann man sich überhaupt nicht mehr vorstellen, Fotos zeigen nahezu surreale Zustände. Jetzt vermittelt er den Eindruck, dass es sich hier wieder gut leben lässt.

Fünf Minuten später stehen wir vor einem weiteren Bauwerk, das wie kaum ein anderes für die Teilung Berlins steht: die Glienicker Brücke. Von der DDR-Regierung nach ihrer Neuerrichtung infolge von Kriegsschäden "Brücke der Einheit" genannt - warum, wussten wohl auch nur sie - wurde sie aber bereits 1952 wieder für die Öffentlichkeit geschlossen, so dass sie nach dem Mauerbau jahrzehntelang die Brücke der Spaltung war. In der Mitte der Brücke ist heute noch der Rest einer weiß gezogenen Linie quer über die Straße zu erkennen. An dieser "Grenzübergangsstelle Potsdam" durfte die Brücke nach dem Mauerbau nur von Mitarbeitern der west-alliierten Militärmissionen, Privatpersonen mit Sondererlaubnis und später auch von in der DDR akkreditierten Diplomaten genutzt werden. Den Nimbus der "Agentenbrücke" hat sie durch den Austausch des KGB-Agenten Rudolf Abel gegen den amerikanischen Piloten Francis Powers erhalten, der während eines Spionageflugs über der Sowjetunion abgeschossen worden war. Nach diesem Tausch kam es nur noch 1985 und 1986 zu vergleichbaren Aktionen. Doch die Faszination des Grenzübergangs blieb ungebrochen. 1989 war die Glienicker Brücke eine der beiden ersten zusätzlichen Übergangsstellen, die schon am Tag nach dem Mauerfall, am 10. November1989, geöffnet wurde. Wir drei Mauerwanderer schlendern langsam hinüber, machen einen großen Schritt über die weiße Linie in der Mitte, was früher nur so wenigen vorbehalten blieb und sind auch schon in Potsdam.

Von der Glienicker Brücke ist es nicht mehr weit bis zum Neuen Garten und zum Schloss Cecilienhof, dem Verhandlungsort der Potsdamer Konferenz. Wir alle drei waren in der Vergangenheit schon mal hier zu einer Besichtigung, deshalb schenken wir uns dies jetzt, aber eine kleine Rast muss sein. Kaum haben wir uns bei einem kleinen Imbissstand an einem Gartentisch niedergelassen, werden wir auch schon fast von Busladungen voll Touristen überrollt. Japaner und US-Amerikaner hauptsächlich, auch Spanier, Holländer. Wir essen zu unserem Kaffee oder Cappuccino schnell unsere mitgebrachten Brötchen und sehen dann zu, dass wir Land gewinnen.

Eine halbe Stunde später sind wir an der Tram-Haltestelle am Volkspark Potsdam, gratulieren uns zur vollendeten West-Berlin-Umrundung auf dem Mauerweg, stehen eine weitere halbe Stunde später auf einem Bahnsteig des Potsdamer Hauptbahnhofs und warten auf den Zug nach Werder zum Baumblütenfest. Auf dem Bahnsteig sammeln sich immer mehr Menschen und der Durchschnitts-IQ fällt gewaltig. Viele junge Leute stehen in Gruppen zusammen und "glühen vor". Muskelshirts, Sonnenbrillen und Bierflaschen bestimmen das Bild und mir wird etwas unwohl. Gerate ich hier in einen Abklatsch des Münchener Oktoberfestes? Der Zug fährt ein - er ist brechend voll. Nur wenige schaffen es einzusteigen, dann schließen sich wieder die Türen. Ich bin regelrecht geschockt. In so einen überfüllten Zug will ich jetzt nicht rein, zumal es mittlerweile recht warm, sogar drückend geworden ist. Dem Zug würde ich wie ein lauwarmer Waschlappen in Werder wieder entsteigen, dann für Stunden Hullygully um die Ohren - mir graust. Dieter und Christa sind auch alles andere als begeistert, aber Bärbel, Christels Schwester, ist schon in Werder und wartet. Doch mein Entschluss steht fest: Ich fahre "nach Hause" nach Wilmersdorf, einen ruhigen Nachmittag verbringen. Christa und Dieter nehmen den nächsten Zug nach Werder.

Als ich am späten Nachmittag aus meinem erholsamen Nickerchen erwache, liegt auch Dieter in seinem Bett. Er und Christa haben nur Bärbel abgeholt und sind dann auch heimwärts geflüchtet. Zum Ersatz für versäumte Festfreuden gönnen wir uns einen höchst vergnüglichen Abend in einer Berliner Kneipe, mit Akkordeon- und Gitarrenmusik und viel, viel Gesang, wo es sich auch Dieter als alte Band-Rampensau nicht nehmen lässt, zur Gitarre zu greifen und alte Zeiten heraufzubeschwören. Ein Abschluss für Berlin, wie er eigentlich nicht schöner sein kann.

Morgen früh machen wir uns auf nach Leipzig, unserer Zwischenstation auf dem Weg zum Grünen Band.

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(Fast) letzte Kilometer in Berlin

Heiligensee - Frohnau (14 km)

Ein letzter richtiger Wandertag in Berlin, morgen kommt nur noch eine kleine Zugabe. Na ja, die Bezeichnung "richtiger Wandertag" traf in den letzten Tagen eher selten zu, meist bewegten sich die Kilometerzahlen nur zwischen 12 und 15, nur dreimal waren es zwischen 18 und 22. Heute sind es nur 14, morgen läppische 8, aber wer nachempfinden kann, wie "anspruchsvoll" für einen Wanderer Asphaltkilometer sind, wie die Füße beginnen zu brennen und die Oberschenkel sich verhärten, der mag uns die mangelnden Kilometerzahlen nachsehen.

Dass es heute wieder nur 14 Kilometer sind, ist insofern sehr günstig, da wir gegen 14 Uhr unser Tagespensum abgeschlossen haben sollten, denn nach Dusche und Klamottenwechsel bei Christa müssen wir zum Brandenburger Tor eilen, weil wir dort für 16.50 Uhr zu einer Reichstagsführung angemeldet sind. Sieben Mal war ich jetzt in den letzten Jahren in Berlin und nie hatte ich es geschafft, für den Reichstag ausreichen Zeit zu bekommen. Diesmal soll es sein! Schon vor einigen Tagen hatte ich diesen Termin eingestielt. Jetzt sollten wir ihn nicht verpassen.

Nach Beendigung des Lokführerstreiks fährt heute die S-Bahn wieder. Wir sind in Heiligensee kaum aus dem Bahnhofsgebäude heraus, finden wir uns auch schon auf dem Mauerweg wieder. Erst auf dem alten Zollweg auf West-Berliner Seite, dann auf dem Kolonnenweg der DDR-Grenzer. Bald hören wir das typische Rauschen von starkem Autobahnverkehr und wenig später überqueren wir die A111, eine noch relativ kurz vor dem Mauerfall von der DDR gebaute, aber von der Bundesrepublik finanzierte Autobahn, die den steigenden Reiseverkehr zwischen Hamburg und West-Berlin entlasten sollte. Ganz in der Nähe eröffnete 1982 die neue "Grenzübergangsstelle Stolpe", die aber zunächst nur für den West-Berliner Transitverkehr nach Skandinavien diente. Heute beherbergt das Gebäude ein Autobahnamt.

Der Kolonnenweg geht nun schnurgerade durch einen dichten Kiefernwald, immer der Schneise des Grenzstreifens folgend. Manchmal ist es uns möglich, das von Radfahrern stark frequentierte Asphaltband zu meiden. Dann geht es daneben auf einem Pfad weiter - bis er zu sandig wird und damit noch anstrengender als die Kolonnenweg-Radpiste. Wir stoßen auf die Stadtkante von Frohnau, dem nördlichsten Ortsteil von West-Berlin, und damit beginnt sich unser Kreis entlang der ehemaligen Mauer so langsam zu schließen. Aber noch ist es nicht ganz soweit. Der Weg schwenkt nach Norden, rechts die beginnenden Häuser von Frohnau, links der Kiefernwald, dazwischen Dieter, Christa und ich auf dem hier recht breiten Grenzstreifen. Menschen kommen zwischen den Häusern her, manche mit Hunden, überqueren den sandigen Streifen und gehen in den Wald hinein. Jahrelang sahen sie an gleicher Stelle nur die Mauer vor sich aufragen, vielleicht noch nicht einmal die Baumspitzen dahinter. Eine halbe Stunde später ein neuer Schwenk, diesmal nach rechts, nach Osten. Immer noch liegt rechts Frohnau, links jetzt ein riesig weites Feld, wo jetzt der Raps zu blühen beginnt. Hier konnten die Bauern damals das LPG-Feld nur unter Grenzer-Aufsicht bestellen oder abernten, immer die bedrohenden Gewehre vor Augen. Die Frohnauer sahen davon nichts, sie konnten es nur erahnen. Die Mauer war dazwischen. Vielleicht hörten sie manchmal Schüsse, wenn wieder einmal jemand versuchte, die Grenzanlagen zu überwinden. Auch hier haben es Menschen versucht, einigen ist es gelungen, lange nicht allen.

Eine von ihnen war Marinetta Jirkowski. Mit ihrem Verlobten und einem Freund versuchte sie in der Nacht vom 21. zum 22. November 1980 von einem unbewohnten Gartengrundstück nach West-Berlin zu fliehen. Hinterlandmauer und den Signalzaun zwischen zwei Wachtürmen, die sich im Abstand von 100 m links und rechts ihres Fluchtweges befanden, konnten sie meistern. Mit einer Leiter wollten sie auch die 3,60 m hohe Mauer überwinden. Zuerst kletterte ihr Verlobter nach oben und sprang in den Westen. Der Freund sprang nicht, weil Marietta, die inzwischen auf der oberen Sprosse der Leiter stand, zu klein war, um die Mauerkrone mit ihren Händen zu erreichen. Als der junge Mann sich bäuchlings auf die Mauer legte, fielen Schüsse - insgesamt 27 - und es wurde taghell. Reflexartig ließ er die Hand seiner Freundin los und sich selbst auf die Westseite der Mauer fallen. Marinetta Jirkowsky stürzte schwer verletzt von der Leiter und starb wenig später. Sie war eine der wenigen Frauen, die die Flucht über die Mauer gewagt haben.

Im Tegeler Forst stoßen wir auf einen gut erhaltenen DDR-Grenzwachturm. Er steht in etwa zehn Metern Abstand zu unserem Kolonnenweg, mitten im Grenzstreifen. Er gehörte damals zu den "Führungsstellen", die nicht nur zur Grenzüberwachung dienten, sondern zugleich auch als Kontrollstelle für weitere Beobachtungstürme, die durchschnittlich alle 500 m im Grenzstreifen standen. Eine "Führungsstelle" war mit drei Grenzsoldaten und einem Offizier besetzt und verfügte im Erdgeschoss über eine Arrestzelle für "Grenzverletzer". 

Heute steht "Deutsche Waldjugend" auf der Frontseite. Ein Lehrer aus Berlin und eine Lehrerin aus Brandenburg hatten sich schon kurz nach dem Mauerfall für den Erhalt des Turms eingesetzt. Unter tatkräftiger Mithilfe von Anwohnern, jungen Leuten und Naturinteressierten gelang es ihnen, nicht nur den Abriss zu verhindern, sondern auch den Grenzstreifen mit über 80.000 (!) Bäumen zu bepflanzen und um den Turm herum Biotope anzulegen. Ein Foto aus früheren Tagen und die heutige Realität zeigen einen krassen Gegensatz. 

Kurz darauf sind wir mitten in Frohnau. Wir überqueren die Oranienburger Chaussee, tappsen durch kleine Anwohnerstraßen und stehen relativ unvermittelt vor dem S-Bahnhof Frohnau. Der Kreis wäre geschlossen, wenn..., ja, wenn die kleine Etappe zwischen Griebnitzsee und Volkspark Potsdam nicht noch zu absolvieren wäre. Die hatten wir ja vor weinigen Tagen übersprungen, um morgen noch Zeit für den Ausflug nach Werder zu haben. Also, endgültiger Zieleinlauf erst morgen!

Die Zeit passt. Ohne Stress fahren wir zurück nach Wilmersdorf, machen uns "landfein" und dann auf Richtung Reichstag. Wir sind absolut pünktlich, schließen uns mit anderen einer netten Dame an, lauschen artig ihren Ausführungen noch auf dem Pariser Platz im Angesicht des Brandenburger Tores, dackeln dann hinter ihr her bis zu den Security-Containern vor dem "hohen Hause", müssen uns dann einer Prozedur unterziehen, die dem Sicherheitscheck auf einem Flughafen nahekommt und sind dann irgendwann im Plenarsaal. Eine weitere nett Dame, diesmal vom hauseigenen Besucherdienst, hält uns einen - durchaus interessanten und kurzweiligen - Vortrag über ihren Arbeitsplatz und entlässt uns und etliche weitere angemeldete Besuchergruppen in Richtung Dachterrasse und Reichstagskuppel.

Der Blick von oben ist außerordentlich beeindruckend. Ein wenig fühle ich mich erinnert an letztes Jahr, als ich zum Abschluss meiner Romwanderung auf der Kuppel des Petersdoms stand. Auch jetzt und hier eine tolle Panoramasicht, viele Bauwerke, an denen wir auf unserem Mauerweg vorbeigekommen sind oder die ich von früheren Berlinbesuchen kenne. Das alles bei klarem Blick, trotz der fortgeschrittenen Stunde noch milden Temperaturen und einer langsam untergehenden Sonne.

Und zur Abrundung noch ein Abendessen in einem kleinen französischen Restaurant, ein kleines Geschenk von Dieter und mir an Christa für ihre Gastfreundschaft.

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Klein Erwin, der Schlingel!

Staaken - Heiligensee (22 km)

Heute steht uns die längste Wanderung auf dem Berliner Mauerweg bevor, außerdem ist wieder Streiktag bei der Bahn. Also sind wir gut beraten, mal etwas eher loszugehen als sonst. Wir stehen eine halbe Stunde eher auf, gehen aber eine ganze Stunde eher aus dem Haus, komisch. Auf der Strecke sind wir dann sogar ein-einhalb Stunden früher als gestern, das passt!

Auf dem Nennhauser Damm und anschließend dem Finkenkruger Weg folgen wir exakt dem ehemaligen Mauerverlauf und kommen schon nach wenigen Minuten an den Schauplatz einer besonders spektakulären Fluchtgeschichte. Wir queren die Hamburger Bahn, deren Regionalbahnhof Albrechtshof man entlang der Gleise erreichen könnte. Am 5. Dezember 1961, einen Tag nach seinem Geburtstag, glückte dem Lokführer Harry Deterling, der in seinem Betriebswerk Pankow als einziger die Jubelerklärung zum Mauerbau nicht unterschrieben hatte, die Flucht. Zusammen mit seinem Schwager - dem Heizer Hartmut Lichy - und 14 weiteren Familienmitgliedern steuerte er gegen 21 Uhr eine Dampflock mit acht Personenwagen von Oranienburg an und ohne in Albrechtshof einen vorgesehenen Halt einzulegen nach West-Berlin. Dabei durchbrach er die Absperrung am Finkenkruger Weg und kam erst auf Spandauer Gebiet zum Stehen. Im Zug saßen auch Soldaten und weitere Passagiere, von denen sich einige spontan mit zur Flucht entschlossen. Nur sieben von ihnen kehrten freiwillig zurück. Die DDR-Medien berichteten, es habe sich um einen "verbrecherischen Anschlag auf den Interzonenzug aus Hamburg" gehandelt. Diese Flucht ist Hintergrund eines deutschen Spielfilms mit dem Titel "Durchbruch Lok 234" aus dem Jahr 1963.

Auf dem Finkenkruger Weg gehen wir weiter Richtung Norden. Die schmale, von zwei Baumreihen begleitete Straße bildete von 1951 bis 1990 die Grenze zwischen West-Berlin und der DDR. Die Grenze war die Straßenmitte. Zu Mauerzeiten wurde die West-Berliner Hälfte asphaltiert, das Kopfsteinpflaster der DDR-Seite blieb - bis heute - unangetastet.

Wir kommen in den Spandauer Forst und von nun an schlängelt sich eine für Radfahrer vorzügliche Asphaltpiste durch die Bäume hindurch mit beständigem kleinen Auf und Ab durch den Wald. Im Gegensatz dazu verläuft der nur einen Steinwurf entfernte ehemalige Grenzstreifen vollkommen eben und mit einer breiten, jedoch immer mehr zuwachsenden Sandspur neben uns her. Unser Weg folgt den natürlichen Geländegegebenheiten, der Grenzstreifen wurde zur Schaffung eines besseren Sicht- und Schussfeldes von den Grenzkommandos einplaniert.

Zu Fuß ist hier kein Mensch unterwegs, dafür aber die Radler: die Gemütlichen, die sportlich Flotten, die Einzelkämpfer, die Paare, die kleinen Familien mit Kinderanhänger, die Rudel, die mit Klingel und die ohne, die Rücksichtsvollen und die, denen ich am liebsten einen Stock zwischen die Speichen werfen möchte. Wir alle kommen bald an der ehemaligen West-Exklave Eiskeller vorbei. 

Sie erhielt ihren Namen aufgrund der durchweg niedrigen Temperaturen, die das Gebiet zu einer bevorzugten Lagerstätte für Eis aus dem Falkenhagener See gemacht haben soll. Nur durch eine vier Meter breite und 800 m lange Zufahrt waren die wenigen Häuser, die von drei Bauernfamilien bewohnt wurden, mit dem Bezirk Spandau verbunden. Im Herbst 1961 wurde ihre Situation durch die Geschichte eines 12-jährigen Bewohners weit über Berlin hinaus bekannt.

Der schulpflichtige Erwin, das einzige Schulkind aus der Exklave, fuhr jeden Morgen mit seinem Fahrrad nach Spandau zur Schule. Eines Tages kam er früh wieder nach Hause zurück mit der Aussage, Volkspolizisten hätten ihm den Weg versperrt und nach Hause gejagt. Die englische Besatzungsmacht stationierte daraufhin 30 Soldaten im Eiskeller und ließ Klein Erwin allmorgendlich mit einem Panzerspähwagen zur Schule eskortieren. Erst Jahre später gestand Erwin, dass er damals nur die Schule schwänzen wollte. Gottseidank schrieb die Mauer auch Geschichten wie diese.

Vom Eiskeller bis zur Havel ist es nicht mehr weit, teilweise verläuft der Mauerweg mitten durch den alten Grenzstreifen. Genau da, wo die ehemalige Grenze ans Havelufer trifft, steht an einer Badestelle der Havel die Ausflugsgaststätte Jagdhaus mit ihrem großen Biergarten. Paulaner-Sonnenschirme, blau-weiße Tischdecken, eine sehr bajuwarisch angehauchte Speisekarte - hier will man wohl ein wenig Bayern nach Preußen bringen. Wir machen das Spiel mit und bestellen Weißwürste (Dieter) und Kaiserschmarrn (ich), kauen und genießen und machen uns dann ans letzte Drittel.

Nach vielen Kilometern durch den Spandauer Forst, kommen wir jetzt wieder in besiedeltes Gebiet. Hennigsdorf liegt vor uns. Wieder gehen wir über eine gepflegte "Uferpromenade", deren Villenanrainer netterweise davon Abstand genommen haben, diese sich zur Vergrößerung ihrer Seegrundstücke einzuverleiben. Man muss ja schon darüber fast dankbar sein. Dafür steht an der Promenade sogar noch ein ehemaliger Grenzwachturm, sauber und gepflegt, zum Grenzmuseum gemacht, "Geöffnet! Eintritt kostenlos!".

Nach fast 20 Kilometern mehr oder weniger durchweg auf Asphalt beginnen die Füße zu brennen. Zwischen Havelkanal und dem riesigen Gelände des ehemaligen "Kombinat VEB Lokomotivbau-Elektrotechnische Werke Hennigsdorf", heute Bombardier, ziehen sich die Kilometer. Ältere West-Berliner verbinden dieses Werk noch immer mit dem "Zug der Stahlarbeiter". Am Morgen des 17. Juni 1953 waren die Arbeiter des Hennigsdorfer Stahlwerks und des Lokomotivwerks zur Begeisterung vieler Anwohner über Reinickendorf und Wedding zum "Haus der Ministerien" gezogen, um dort die DDR-Regierung mit ihren sozialen und politischen Forderungen zu konfrontieren.

Mein Körper fordert nun ein Bett! Asphalt, Kilometer und Temperaturen sind dafür verantwortlich und mein Brüllhusten gehört immer noch nicht der Vergangenheit an. Doch alles ist im Fluss, mir geht es von Tag zu Tag besser. Keine Sorge!

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Geht's noch?

Kladow - Staaken (13 km)

Heute streiken mal wieder die Lokomotivführer. Für uns, die wir nahezu jeden Tag u .a. auch schon mal S-Bahnen der Hauptstadt benutzen, eigentlich eine schlechte Nachricht. Da aber glücklicherweise die Busse und U-Bahnen nicht von dem Ausstand betroffen sind und wir unseren heutigen Startpunkt in Kladow auch auf diese Art und Weise erreichen können, ficht uns das nicht sonderlich an. Selbst das Fahrgastaufkommen in den beiden verbleibenden öffentlichen Verkehrsmitteln bleibt unkritisch. Immerhin, die Anreise dauert mal wieder gut eine Stunde, mit dem Bus braucht es natürlich länger als mit S- oder U-Bahn, dafür sieht man mehr.

Allmählich allerdings freue ich mich auch darauf, dass bald diese tägliche Fahrerei aufhört. Zum einen kostet sie täglich bis zu zwei Stunden Zeit, die man auch wandern könnte, zum andern hat es einfach was, morgens aus der Tür zu kommen, sich nach links oder rechts zu wenden und einfach loszugehen. Oder am Nachmittag in ein Dorf oder eine kleine Stadt einzulaufen, die Straße der Unterkunft zu finden, anzuklingeln und da zu sein. Aber hier für Berlin war und ist immer noch die Lösung mit dem Aufenthalt bei Christa genau richtig, eine glückliche Fügung, für die ich sehr dankbar bin.

Um 10.30 Uhr setzen wir uns an der Bushaltestelle in Kladow wieder in Bewegung, heute ist Christa wieder mit dabei. Die Temperaturen sind gute fünf-sechs Grad niedriger als gestern, erstmals nach einigen Tagen zeigen sich mal wieder ein paar Wolken mehr am Himmel - Wanderwetter! Zehn Minuten später sind wir am Mauerweg, eine halbe Stunde später an der Südspitze des Groß Glienicker Sees.

Die ehemalige Grenze ging der Länge nach durch diesen See hindurch, die Grenzanlage mit Mauer und Kolonnenweg unmittelbar am Ufer entlang. Patrouillenboote der DDD-Grenzsoldaten fuhren damals den See auf und ab und beobachteten die Menschen aus West-Berlin, die auf der anderen Seite wegen des sauberen Seewassers gerne hier badeten. Wir gehen auf der Straße mit dem schönen Namen "Seeuferpromenade", die ihren Namen allerdings überhaupt nicht verdient. Den See und das Ufer sehen wir nur ab und zu mal zwischen den villenartigen Häusern hervorblitzen, die Straße mit diesem so verheißungsvollen Namen ist nichts anderes als eine Anwohnerstraße. Die eigentliche Seeuferpromenade verläuft hinter diesen Häusern, unten am See entlang, auf dem ehemaligen Kolonnenweg. Obwohl im Bebauungsplan der Stadt Potsdam sowohl das Ufer als auch der frühere Kolonnenweg als öffentliche Anlagen ausgewiesen sind, haben die Bewohner einiger dieser Villen den Uferweg gesperrt. Einige sind sogar noch weitergegangen und haben ihren Garten bzw. ihre Grünanlagen über den eigentlich öffentlichen Weg hinweg bis ans Ufer ausgebaut. Geht's noch??? Wer hat denn da die Hand aufgehalten? Sowas geht doch nicht ohne Genehmigung! Wird gegen diese Frechheit nicht geklagt?

Während ich mich noch aufrege, sehen wir Relikte der Mauer vor uns, kurz dahinter einen etwa hundert Meter langen Reststreifen des Streckmetall-Hinterlandzauns. Bei genauem Hinschauen entdecke ich Gemäuerreste, eine Ansammlung alter Gebäude, durchsetzt mit neueren Gebäudeteilen, eine Andeutung von einem früheren Garten oder Park. Ein Weg mit grobem Kopfsteinpflaster führt zu einem großen Torbogen, der den Weg auf eine verkehrsreiche Straße münden lässt. Wir sind am früheren Gutshof Groß Glienicke, einem ehemaligen Rittergut aus dem späteren Mittelalter, Sitz derer von Wollanks. Einst gab es hier sogar ein kleines Schloss und eine Orangerie. Beide brannten nach dem II. Weltkrieg ab, nach der Teilung wurde das Gut durch Grenzstreifen und Mauer vom Ort Groß Glienicke abgeschnitten, der östliche Teil des Parks "zur Grenzsicherung" bewusst zerstört, der westliche verfiel. Ein Stück Landkultur - weg, kaum noch zu erkennen, geopfert dem "antifaschistischen Schutzwall".

Kurz hinter dem ehemaligen Gutshof stoßen wir auf die Potsdamer Chaussee. An ihr entlang zog sich damals der Grenzstreifen und die Mauer, heute bildet sie die Grenze zum Land Brandenburg und auf ihr rollt der Verkehr zwischen Berlin und Potsdam. Kilometerlang zieht sie sich schnurgerade dahin und wir drei sind froh, als wir mal für kurze Zeit auf einen Weg durch die ehemaligen Rieselfelder rechts von uns ausweichen können. Diese Felder, mit ihren kleinen Kanalvorrichtungen und wallartig aufgeschütteten Umrandungen, erinnern mich ein wenig an die riesigen Reisfelder in der Poebene Italiens. Sie wurden Ende des 19. Jahrhunderts für die Abwasserverrieselung der schnell wachsenden Großstadt Charlottenburg angelegt. Die Abwässer wurden durch ein Leitungssystem zur Stadtgrenze bis auf diese Felder gepumpt und erst nach dem II. Weltkrieg schrittweise außer Betrieb genommen. Für uns eigentlich jetzt ganz gut, dass sie nicht mehr in Nutzung sind.

Bald erhebt sich vor uns ein - nach unseren topographischen Erfahrungen der letzten Tage - recht "stolzer" Berg: der Hahneberg. Er wurde in den 1960er und 1970er Jahren als Bauschuttdeponie errichtet und türmt sich jetzt auf immerhin 87 m über NN auf. Ab 1977 wurde er nach und nach zum heutigen Spandauer Naherholungsgebiet mit Rodelbahn umgestaltet. Der Mauerweg führt glücklicherweise nicht auf ihn hinauf, sondern um ihn herum, und wenig später sind wir im Berliner Ortsteil Staaken, den wir exakt bei der ehemaligen "Grenzübergangsstelle Staaken/Heerstraße" betreten.

Bevor wir in der Nähe der alten Dorfkirche von Staaken wieder in einen Bus steigen, möchten wir nochmal rasten, einen Kaffee trinken. Direkt gegenüber der Heerstraße beim alten Grenzübergang prangt ein großes REWE-Schild. Aus Erfahrung wissen wir: Da gibt es Tische, Stühle und Kaffee! Genauso ist es! Dieter holt sich ein Stück Puddingstreusel dazu, Christa und ich versuchen es mit Kirschtaschen. Der Versuch scheitert! Die Kirschtaschen schmecken einfach nur nach süß und keineswegs nach Kirschen. Außerdem sind überhaupt keine drin, nur eine Art roter Glibber. Christa und ich nehmen es mit Humor, zumindest der Kaffee ist gut. Zu unserer Erheiterung trägt noch die Schiebetür bei, neben der wir am Haupteingang sitzen. In Sekundenabständen geht sie auf-zu, auf-zu, und stoppt dabei immer haarscharf neben Dieters Kopf. Der lässt sich gar nicht weiter stören und kaut seelenruhig an seinem Puddingstreußel.

Am Abend läuft Dieter ein weiteres Mal zur Hochform auf. Er verarbeitet (endlich!) den von Wolfgang vor drei Tagen unterwegs gekauften Spargel zu einem überaus schmackhaften Gericht und verhilft uns so zu einem kurzen Moment des Gedenkens an unseren Kurzzeit-Begleiter, der jetzt wohl zu Hause in seinem Fernsehsessel sitzt und sich seine Wanderwunden leckt.

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Weniger Mauer - mehr Natur

Volkspark Potsdam - Kladow (17 km)

Verschlafen! Na prima! Ausgerechnet heute, wo wir mal ein paar Kilometer länger gehen müssen und unsere An- und Abreisen auch etwas länger dauern als sonst, höre ich meinen Wecker nicht. Kunststück, ich hatte ihn ja auch nicht gestellt! Ein kleiner Trost ist wieder mal das sensationell gute Wetter. Es ist schon fast unheimlich, jeden Morgen beim Frühstück draußen einen blauen Himmel zu sehen, aber es schlägt sich sehr auf die gute Laune nieder. Deswegen gehen wir auch trotz aller Verspätung gutgelaunt aus dem Haus.

Es ist schon fast 11 Uhr, als wir in der Nähe vom Volkspark Potsdam die Straßenbahn verlassen und losmarschieren. Wer den Blog bisher aufmerksam verfolgt hat, dem wird aufgefallen sein, dass dieser heutige Startpunkt nicht dem gestrigen Etappenziel S-Bahnhof Griebnitzsee entspricht. Den Grund versuche ich zu erklären: Die Etappe Griebnitzsee - Volkspark Potsdam soll am kommenden Samstag die letzte Etappe auf unserer Mauerweg-Wanderung sein, denn sie ist mit acht Kilometern die weitaus kürzeste. Außerdem wollen wir an diesem Tag nach Beendigung der Wanderung nach Werder fahren, das mit dem Zug nur wenige Minuten westlich von Potsdam liegt und wo am Wochenende das in der ganzen Region hinein berühmte Blütenfest stattfinden wird. Hätten wir die normale Reihenfolge der Etappen durchgehalten, müssten wir einige Kilometer mehr machen, bevor wir uns dem Fest widmen könnten.

So, das geht mir ja jetzt fast so langsam auf den Geist. In regelmäßigen kurzen Abständen schreit Dieter aus Christas Wohnzimmer "Toooooor!!!!" Und ich muss wieder rennen. Vorab habe ich mir gesagt: "Während der ersten Halbzeit schreibst du noch am Blog, die zweite Halbzeit schaust du dir auch an". Mittlerweile haben jetzt die Bayern in ihrem Champions-League-Rückspiel gegen Porto bereits fünf Tore dem armen Torwart in seinen Kasten gezirkelt, Dieter kommt aus dem Brüllen gar nicht mehr raus und es ist noch nichtmal Halbzeitpause. Na ja, wenn ich gleich mit vor der Kiste hänge, schießen vielleicht die Portogiesen fünf Dinger.

Nach der langen Fahrerei mit Bus, Bahn und Tram geben wir richtig Gas. Eigentlich ist der größte Teil der heutigen Strecke eine Luxusbeigabe. Wären wir dem Verlauf der damaligen politischen Grenze zwischen BRD und DDR annähernd treu geblieben, hätten wir uns kurz nach dem Griebnitzsee an der Glienicker Brücke in eine Fähre gesetzt und wären damit über den Wannsee Richtung Sacrow geschippert und hätten uns damit einen Riesenumweg um den großen Jungfernsee, den Lehnitzsee und den Krampnitzsee erspart. Aber der Berliner Mauerweg führt nicht umsonst und ganz bewusst um diese Seenkette herum. Bis auf die ersten Kilometer, die der Weg noch an einer Hauptverkehrsstraße entlangzieht, ist der Rest des Weges ein herrlicher Abschnitt durch lichten Buchenwald, meist mit Blickkontakt auf die Seen und vor allem mal ohne Asphalt. Heute steht einfach mal die Natur im Vordergrund des Mauerweges und nicht die ehemalige Mauer und das schlimme Schicksal vieler Menschen, die mit ihr leben mussten bzw. dies eben nicht mehr wollten und dafür mit ihrem Leben bezahlen mussten. Der Kopf ist einfach mal frei von beklemmenden Empfindungen, wir genießen den Weg, die Rast am Seeufer oder draußen vor einem kleinen Restaurant, die Sonne, die fast schon zu sehr wärmt.

Aber ganz ohne geht es doch nicht. Ganz in der Nähe von der Stelle, wo die Fähre aus Richtung Glienicker Brücke anlandet, steht innerhalb des Sacrower Schlossparks und unmittelbar am Seeufer die Heilandskirche. Die Kirche mit dem Säulenumgang und dem Campanile wurde 1844 eingeweiht und war für die Potsdam-Sacrower Bevölkerung zu Mauerzeiten weder zugänglich noch zu sehen, da sie durch den Grenzstreifen mit der Mauer vom Dorf abgetrennt war. Von West-Berlin aus war sie über den See hinweg zwar sichtbar, aber unerreichbar in der scharf bewachten Todeszone. 

Nur für kurze Zeit war die Heilandskirche nach dem Mauerbau noch als Gotteshaus genutzt worden. Da die Grenztruppen verhindern wollten, das über das Kirchengelände die Flucht durch die Havel gelingt, wollten sie den Gottesdienst in dieser Kirche unterbinden. Wenige Tage nach dem letzten Gottesdienst am Heiligen Abend 1961 demolierten sie die gesamte Inneneinrichtung und zerstörten auch die Orgel. Danach fand 28 Jahre lang kein Gottesdienst mehr statt. Hinter der Mauer verfiel der Bau zusehends. Durch eine 1984/85 durchgeführte und von Westseite finanzierte Rettungsaktion wurden Dach und Außenfassade zwar saniert, aber die Kirche durfte immer noch nicht betreten werden. Erst nach dem Mauerfall 1989 wurde zu Weihnachten, nach fast drei Jahrzehneten, vom selben Pfarrer wie damals wieder ein Gottesdienst abgehalten.

Entlang der schmalen Straße Richtung Kladow wächst Bärlauch in Hülle und Fülle und schwängert die Luft mit seinem bekannten knoblauchähnlichen Duft. Hobbykoch Dieter ist ganz aus dem Häuschen und pflückt einiges davon in seine leere Provianttüte. Es gibt wirklich nicht vieles, wofür er sich freiwillig längere Zeit bückt, aber der Bärlauch schafft es. Heute Abend gibt es also Dieters "Spaghettis an Bärlauch".

Das Fußballspiel ist vor etwa einer Viertelstunde zu Ende gegangen. Zwei Tore durfte ich auch noch sehen, eins für jede Mannschaft.

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Grenzrelikte

Zehlendorf - Griebnitzsee (14 km)


Immer dieselbe Prozedur, es hat sich so eingespielt: Christa bereitet das Frühstück vor, Dieter oder ich holen die Brötchen, wir frühstücken, um 9 Uhr klingelt es und Wolfgang steht auf der Bildfläche. Gemeinsam gehen wir zur U-Bahnstation Rüdesheimer Platz und fahren zum Startpunkt unserer Tagesetappe. Heute ist es die Endstelle der Buslinie 101 in der Sachtlebenstraße von Zehlendorf, ganz in der Nähe des Teltowkanals. Wieder scheint die Sonne von einem über und über blauen Himmel, die Luft ist auch um 10 Uhr noch frisch, aber wir Mauerwanderer merken, dass es heute wohl noch ein paar Grad wärmer werden wird.


Für Wolfgang ist es heute der letzte Tag und ich bezweifle, ob er darüber sehr traurig ist. Wandern wird wohl nie sein erklärtes Hobby. Um dem Körper ein paar überflüssige Pfunde abzutrotzen, mag für ihn diese Fortbewegungsart vielleicht noch eine gewisse Existenzberechtigung haben, wenn dies dann aber gleichzeitig zu Versteifungen in diversen Gelenken und zu Ballonfüßen führt, ist das für ihn schon wieder gar nicht mehr lustig. Er hat also guten Willen gezeigt, vielleicht versucht er es von nun an eher mit Denksport. Aber diesen letzten Tag mit uns schafft er auch noch. 


In einer Wohnsiedlung an der Bezirksgrenze zwischen Zehlendorf und Klein Machnow werden wir unvermittelt bei einer Erinnerungstafel in einem kleinen Vorgarten auf die Geschichte eines weiteren gescheiterten Fluchtversuchs gestoßen. Am 14.11.1962 wurde hier eine beabsichtigte Tunnelflucht von 23 Menschen verhindert. Die durch einen Spitzel informierte Stasi wollte nicht nur die Flucht verhindern, sondern die Fluchthelfer mit einer Sprengladung töten. Diese sollte mit einem 70 Meter langen Kabel gezündet werden. Der Einsatzleiter hatte zwar den Befehl zur Sprengung gegeben, doch hatte einer der Grenzsoldaten das Kabel vorher zerschnitten. Die festgenommenen Flüchtlinge wurden zu mehrjähriger - der Fluchthelfer zu lebenslänglicher - Haftstrafe verurteilt. Weitere vier Fluchthelfer verdankten dem unbekannt gebliebenen Grenzposten ihr Leben. 


Von diesen Grenzsoldaten, die Befehle sabotiert, weggeschaut oder bewusst danebengeschossen haben, hört und liest man so gut wie nie. Ich hoffe, dass es auch sie, wenn auch in einer erschreckenden Minderheit, gegeben hat. Nur wenige hundert Meter von dieser Stelle, wo ein Funken Menschlichkeit aufflammte, entfernt, stoßen wir an der Erinnerungsstele für Walter Kittel auf den brutalen Kontrapunkt. Hier wurde Kittel - einer Hinrichtung vergleichbar - von einem Kommandeur der Grenztruppen aus 15 Metern Entfernung mit 30 Schüssen getötet, nachdem sein Fluchtversuch gescheitert war und er sich den Grenzpolizisten bereits gestellt hatte. Nach der Wende verurteilte das Bezirksgericht Potsdam den Kommandeur zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Ein Jahr später wurde dieses Urteil vom Bundesgerichtshof wegen Mordes auf 10 Jahre erhöht, das höchste Urteil, das gegen einen Todesschützen an der Berliner Mauer ausgesprochen wurde.


In der Nähe der Stelle, an der Walter Kittel den Tod fand, betreten wir das Gelände der Trasse der ehemaligen Stammbahn, das dem Mauerstreifen für kurze Zeit folgt. Die Stammbahn war die erste Eisenbahn in Preußen, die 1838 vom Potsdamer Personenbahnhof - am heutigen Potsdamer Platz - über Schöneberg, Zehlendorf und Griebnitzsee bis nach Potsdam fuhr. Hier dampften die "Bankierszüge" aus der Vorkriegszeit, mit denen das gehobene Bürgertum aus den Villenkolonien zwischen Wannsee und Zehlendorf ohne Halt in 13 Minuten zum Potsdamer Platz fuhr. Nach dem letzten Krieg wurde die Bahn stillgelegt, jetzt laufen Pläne für eine Reaktivierung.


Die alte Trasse, und mit ihr der alte Grenzstreifen, läuft fast genau auf die frühere "Grenzübergangsstelle Drewitz/Dreilinden" zu, die wir wenige Minuten später erreichen. Diese "GÜST" war die größte der DDR und erinnert viele West-Berliner und Berlin-Besucher an stundenlange Wartezeiten. Die immer wiederkehrende Frage der Zöllner: "Waffen, Munition, Funkgeräte?" war sattsam bekannt, und der im Auto geflüsterte Scherz "Muss man die dabei haben?" war nur für Neulinge witzig. Sie erinnert aber auch an "Gänsefleisch". So klang die Aufforderung der Grenzer in sächsischer Mundart an die Autofahrer: "Können Sie vielleicht... (den Kofferraum öffnen)".


Das Schmunzeln im Gesicht gefriert einem aber sofort wieder, wenn man bei dem noch existierenden und mittlerweile unter Denkmalschutz gestellten "Führungspunkt" (Grenzwachturm/jetzt Museum) an diesem "Checkpoint Bravo" vom Schicksal des kleinen Holger S. erfährt: Bei einem Fluchtversuch in Kisten auf einem Lkw hält die Mutter dem weinenden 15 Monate alten Kind in ihrer Panik den Mund zu. Dass er wegen einer Bronchitis nicht durch die Nase atmen konnte, hatte sich die Mutter nicht bewusst gemacht. Die Flucht gelingt, die Familie bleibt unentdeckt - beim Öffnen der Kisten am westlichen Kontrollpunkt kann nur noch der Tod des Kindes festgestellt werden.


Die "GÜST Drewitz/Dreilinden" gab es an dieser Stelle aber erst seit 1969. Davor existierte der "Kontrollpunkt Dreilinden/Checkpoint Bravo" an anderer Stelle, wenn auch nicht weit von hier. Wir erreichen diesen Punkt nur wenig später, nachdem wir bereits mindestens für einen Kilometer auf einem ehemaligen Stück der alten Autobahn marschiert sind, von der jetzt im Gelände nichts mehr zu erkennen ist außer einem breiten, trassenmäßigen Streifen. Wo dieses renaturierte Stück ehemaliger Autobahn über eine Brücke den Teltowkanal quert, fallen einem bei bewusstem Hinsehen auf dem geteerten Boden mit weißer Farbe gezogene Fahrbahnmarkierungen und die Worte "PKW" und "BUS" auf. Am Kopfende dieser bereits von Gras und Büschen überzogenen Fläche recken sich noch drei alte Fahnenstangen in die Luft und ganz in der Nähe davon steht ein kleines, mittlerweile schon baufällig aussehendes Gebäude mit der Aufschrift "Raststätte Dreilinden".


Die oben bereits benannte alte Autobahn A115 führte zum Verdruss der DDR-Verantwortlichen bis 1969 an dieser Stelle aber nach dem Verlassen von West-Berlin nach einigen Kilometern auf DDR-Gebiet noch durch Albrechts Teerofen, das - mit West-Berlin verbunden - wie ein Entenschnabel in das DDR-Gebiet hineinragte. Um Fluchtmöglichkeiten auszuschließen, wurde eine neue Streckenführung für die A115 gewählt, die nach Verlassen des Stadtgebiets nur noch auf DDR-Terrain verlief. Die alte Trasse, die West-Berlin bei Albrechts Teerofen nochmal berrührte, fiel in einen Dornröschenschlaf und wurde später ganz aufgegeben. Das relativ kleine Kontrollgebäude "Dreilinden", das bis zur Verlegung der Autobahn 1969 als Abfertigungsgebäude für West-Berliner Polizei, Zoll und Amerikaner in Betrieb war, wurde nach Inbetriebnahme der neuen Übergangsstelle mit 32 Spuren zu einem Restaurant umfunktioniert, das besonders als Gaststätte für den benachbarten Campingplatz diente. Jetzt steht es vor dem Verfall.


Kurz vor unserem heutigen Schlusspunkt, dem S-Bahnhof Griebnitzsee, gönne ich mir, während Dieter und Wolfgang bereits dem Bahnhof bzw. der erhofften Bahnhofsgaststätte zustreben, noch eine kleine Zusatzschleife nach Steinstücken, der einstigen West-Berliner Exklave inmitten der DDR ohne direkten Zugang nach West-Berlin. Anfangs mussten die Bewohner immer eine Klingel bedienen und sich auf einem abgezäunten Weg von und nach West-Berlin von DDR-Grenzposten kontrollieren lassen. Die gewissermaßen zur Beruhigung in Steinstücken stationierten drei amerikanischen Soldaten wurden dreimal wöchentlich mit einem Hubschrauber ausgetauscht. Durch einen ersten Gebietsaustausch 1971 wurde Steinstücken durch den Bau einer ca. einen Kilometer langen Zugangsstraße, die zu beiden Seiten eingemauert war, aus seiner "Insellage" befreit und mit dem "Festland" verbunden. Danach war es im Sommer ein beliebtes Ausflugsziel, wo es im "Taubenschlag" Kaffee und Kuchen gab. Der Fall der Mauer hat leider auch den "Taubenschlag" zu Fall gebracht.


Als ich nach meinem Bummel durch Steinstücken ebenfalls den Bahnhof Griebnitzsee erreiche, sitzen Dieter und Wolfgang bereits zufrieden lächelnd draußen in der Sonne vor zwei halb leeren Gläsern Weizen. Damit ist unsere Zeit als grenzwanderndes Kleeblatt beendet und drei Stunden später strebt Wolfgang, wohl heilfroh dieses "Abenteuer" einigermaßen schadlos überstanden zu haben, im Zug wieder dem heimatlichen Ruhrgebiet entgegen.


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Brüllhusten

Rudow - Lichtenrade (12 km)
Lichtenrade - Zehlendorf (14 km)

Gestern habt Ihr nichts von mir gehört - ich hatte aber sehr wohl geschrieben. Nur, nach zwei Stunden lustvollen Schreibens genügte mal wieder eine ungeschickte Fingerbewegung von mir, das Aufgezeichnete irgendwo in den Untiefen meines Tablets verschwinden zu lassen, vielleicht habe ich es aber auch gelöscht. Mit einer gehörigen Portion Frust im Leib habe ich mir um 0.25 Uhr daraufhin die Bettdecke über den Kopf gezogen und bin in den Protestschlaf-Modus übergegangen. Wahrscheinlich lag alles aber auch an meinem durch einen gigantischen Husten geschwächten Körper.

Tatsächlich quälte mich bereits seit über 24 Stunden ein Brüllhusten vm Feinsten. Natürlich war das Wetter schuld! Na ja, ein ganz klein wenig wohl auch ich. Von morgens an schien zwar immer die Sonne vom blauen Himmel, aber die Temperaturen waren noch recht niedrig und der Wind - vor allem, wenn er auffrischte - echt biestig. Unter dem Anorak wurde es mir schnell zu warm, also lief ich im T-Shirt rum. Dann gab es aber auch mal einen Wegabschnitt im Schatten, Häuserzeilen, wo der Wind nur so durchfegte und Rasten, wo es sich doch eigentlich gar nicht lohnte, den Anorak wieder drüberzuziehen und - zack! - war es passiert. Leichter Husten steigerte sich zum Brüllhusten, flankiert von leichtem Fieber. Der Junge war nicht mehr in Höchstform. Christa zerrte mich in die Apotheke, lud mir Hustensaft, schleimlösende Kapseln "zum Abhusten bei chronischer oder akuter Bronchitis" und Lutschpastillen in den Rucksack und all das Zeugs führte ich mir von da an in den vorgeschriebenen Dosierungen zu. Eine erhoffte kurzfristige Besserung ist bisher noch nicht eingetreten, aber ich will auch nicht zu viel verlangen. Noch immer ergreifen Christa, Wolfgang und Dieter vor mir auf dem Weg die Flucht, wenn mir wieder mal ein Hustenanfall bald die Brust zerreißt oder die Berliner Menschen in den S- und U-Bahnen reißen erschrocken ihre Armbeugen vor den Mund, um der wahrscheinlichen Bazillenattacke rechtzeitig entgegenzutreten. 

Trotzdem waren wir gestern recht flott unterwegs. Ich konnte zwar immer gut husten, aber trotzdem auch ganz gut marschieren, Wolfgang tappte tapfer hinterher und freute sich über jeden Kilometer, den er geschafft hatte. Dieter lief allmählich zur Hochform auf, was man mittlerweile daran erkennen kann, dass er nicht müde wird, einen Witz nach dem anderen zu erzählen und Christa bewegte sich mit ihren wohl nicht viel mehr als 40 Kilogramm Lebendgewicht wie eine Gazelle auf dem Kolonnenweg.

Kennen wir den Kolonnenweg bisher nur als einen asphaltierten Streifen durch die West-Berliner Randbezirke, so war er gestern meist ein sehr angenehmer Pfad durch jungen Birkenwald. Und dennoch muss ich mir klarmachen, dass ich hier nicht einfach nur einen Waldspaziergang mache. Auch hier sind Menschen gestorben, abgeknallt von eigenen Landsleuten, nur weil sie sich unter einem menschlichen Sozialismus etwas anderes vorgestellt hatten oder einfach nur an den Annehmlichkeiten teilhaben wollten, die es ihrer Meinung nach "auf der anderen Seite" in Hülle und Fülle gab.

Zum Beispiel Herbert Kiebler, drei Jahre jünger als ich. Am 27.06.1975 wurde er hier erschossen. Wenige Wochen vor der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki war der DDR an negativen Schlagzeilen jedoch nicht gelegen. Deshalb wurde die Tat als Selbstmord mit einem Messer ausgegeben. Da Herbert Kiebler seiner Mutter einen Abschiedsbrief geschrieben hatte: "Auf Widersehen im Knast oder in Westdeutschland", wurde diese Version bezweifelt. Da den Angehörigen der letzte Blick auf den Toten verwehrt wurde, drangen sie heimlich in die Friedhofskapelle ein, öffneten den Sarg und entdeckten die Schusswunden.

Über mehrere Kilometer gingen wir hart an der Stadtkante entlang. Rechts von uns die Häuser der Stadtbezirke Rudow, Buckow und Lichtenrade, links weite, beackerte Flächen, wo der Bauer früher nur unter strenger Aufsicht der Grenzer mit dem Traktor seine Bahnen ziehen durfte. Über diese Felder hinweg sahen wir die Blocks der Satellitenstadt Gropiusstadt aufragen. In den 18.500 Wohnungen, die zu 90 % als Sozialwohnungen errichtet wurden, leben 50.000 (!) Menschen. Seit den 1980er-Jahren gilt die Gropiusstadt als sozialer Brennpunkt. Über Berlin hinaus bekannt geworden ist sie durch das verfilmte Buch "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", dessen Protagonistin Christiane F. hier aufwuchs.

Nach knapp zwölf Kilometern waren wir schon an unserem Tagesziel, dem S-Bahnhof Lichtenrade. Gut für Dieters Füße, Wolfgangs Rücken und meinen geschwächten Gesamtkörper. Nur Christa hätte wohl noch stundenlang weiterlaufen können. In einem kleinen Café ganz in der Nähe des Bahnhofs gönnen wir uns zur Belohnung Buletten, Bockwürste, Kuchen und Kaffee, ganz nach dem jeweiligen Belieben, und fahren anschließend nach Hause.

Die Rekreationsphase war angenehm lang. Ich brauchte sie auch. Zwölf Kilometer sind eigentlich recht wenig, wenn man kränkelt können sie aber lang werden. Jedenfalls war ich heilfroh, als ich mich bei Christa sofort zwei Stunden lang flachlegen konnte. Und ich hätte mich nach Dieters selbstgekochten Spaghettis am liebsten sofort wieder hingelegt, dann aber schnappte sich Dieter Christas alte Gitarre, zog zwei neue Saiten auf und schruppte die alten Lieder runter. Ach ja..., wie in alte Zeiten!

Heute ist das Wetter weniger windig und auch wärmer als in den letzten Tagen, trotzdem behalte ich meinen Anorak an. Immer noch sind meine Hustenanfälle nicht unbedingt ein Ohrwurm. Der Weg heute unterscheidet sich nicht viel von dem gestrigen. Wieder geht es einige Kilometer auf schönen Pfaden durch den ehemaligen Grenzstreifen an der Stadtkante entlang, diesmal heißen die Bezirke nur Lichtenfelde, Marienfelde oder Teltow. Wieder sind es kleine Birkenwälder, Parkanlagen oder von Japanern gespendete Kirschbaumalleen, die nichts mehr von dem Schrecken vergangener Tage erkennen lassen. 

Bereits gestern, als wir mal kurzfristig den Mauerweg verlassen und ihn dann wieder suchen mussten, sprach die Antwort eines jungen Joggers auf Christas Frage "Wo ist denn hier der Mauerweg?" für uns Bände: "Weeß ick doch nich!" Ich glaube, viele der jungen Menschen, die am heutigen Sonntag hier mit ihren Hunden, als Pärchen oder auch alleine unterwegs sind, wissen gar nicht mehr, wo sie hier eigentlich sind. Aber ist das unbedingt schlecht? Sich erinnern im Grundsätzlichen ist bestimmt wichtig, aber muss dafür jeder Meter der ehemaligen Mauer ein Gedenkort sein? Ist es nicht auch ein gutes Gefühl, wenn heute, "nur" 26 Jahre nach dem Mauerfall, die Menschen diesen schlimmen Ort einfach "mit Füßen treten"? Kann es nicht auch eine gewisse Genugtuung sein, wenn Menschen sich an gleicher Stelle, wo früher Menschen starben, heute der Erholung hingeben, im Gras oder auf Bänken sitzen und picknicken, Mütter oder Omas Kinderwagen spazieren fahren oder junge Familien eine Radtour unternehmen? Honecker und Mielke werden sich im Grabe rumdrehen!

Für ein paar Kilometer ziehen wir wieder am Teltowkanal entlang, aber diesmal rauscht nicht genau neben uns, wie vorgestern, eine Autobahn. Nur Stelen zum Gedenken an Menschen, die ums Leben kamen, weil sie durch den Kanal in ein anderes Leben schwimmen wollten, gibt es auch hier.

Um 16 Uhr sind Dieter und ich wieder bei Christa und Wolfgang in seinem kleinen Hotel. Ich nehme mir meine Bettphase, die beiden anderen versuchen sie zu vermeiden, weil sie Sorge haben, sich in der Nacht nicht ausreichend ihrem Schönheitsschlaf widmen zu können. Als ich gerade, so gegen 23 Uhr, mal in Christas Wohnzimmer vorbeischaue, sitzt Dieter vor einem Glas Whiskey und dem laufenden Fernseher in dem gerade das Fußballspiel Schalke : Wolfsburg läuft - und schläft. Und das will was heißen!

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Wolfgang - und andere Gäste

v.l.: Dieter, Kerstin, Christa, Hans-Jürgen, Wolfgang
v.l.: Dieter, Kerstin, Christa, Hans-Jürgen, Wolfgang

Köllnische Heide - Rudow (18 km)

 

Ich melde mich nochmal! Wolfgang ist gerade von Christa aus zu Fuß zu seinem naheliegenden Hotel losmarschiert. Damit er den Weg bis dahin noch schafft, bekam er von Dieter noch zwei Single Malt Whiskey zur Stärkung "verpasst", jetzt müsste es morgen eigentlich klappen.


Heute war es für ihn nicht einfach. Gegen 5 Uhr am frühen Morgen fuhr sein Zug schon von Essen los, um 10.15 Uhr trafen wir uns wie verabredet am S-Bahnhof Köllnische Heide, unserem heutigen Startpunkt. 

Waren vor allem die letzten beiden Tage aufgrund ihrer mauergeschichtlichen Bedeutung trotz aller Asphaltkilometer noch sehr kurzweilig, so sieht das heute schon etwas anders aus. Zu einem oft bedeckten Himmel, der oft mit einem Regenschauer droht, kommt eine doch recht eintönige Strecke. Das Kernstück dabei ist der kilometerlange Abschnitt, wo der Mauerweg, eingeschlossen zwischen Autobahn zur Linken und dem Teltowkanal zur Rechten, seine Bahn zieht. Doch der Teltowkanal war eben nun mal für viele Kilometer die Grenze. Viele haben versucht, den Kanal schwimmend zu überwinden, die meisten haben dies mit ihrem Leben bezahlt. An einer Art "Zubringer" zum Teltowkanal, dem Britzer Zweigkanal, stoßen wir z.b. auf den Gedenkort für Chris Gueffroy. Eine Stele erinnert an einen 20-jährigen, der im Februar 1989 gehört hatte, an der Mauer werde nicht mehr geschossen. Mit einem Freund wagte er deshalb die Flucht und wurde acht Monate vor dem Mauerfall zum letzten Opfer der Grenzsoldaten, die ihn mit gezielten Schüssen daran hinderten, nach West-Berlin zu schwimmen.

Dieter und ich haben in den letzten Tagen am Rand des Weges nun schon von den Schicksalen vieler Menschen gelesen, und die Informationen über Chris Gueffroy fügen wir im Geiste all den anderen hinzu. Wolfgang wird aber zum ersten Mal damit jetzt konfrontiert und ist erschüttert. Sind wir beiden anderen schon abgestumpft? Geht das Schicksal eines einzelnen unter, wenn es nur viele sind? Ich denke nicht. Jede dieser erzählten Fluchtgeschichten mit ihren meist schlimmen Folgen ist für uns unbegreiflich. 

Die letzten Kilometer hat Wolfgang erkennbare Probleme. Tja, aller (Wander-)Anfang ist schwer - und über Asphalt und bei eintöniger Streckenführung erst recht! Er - und eigentlich wir alle - sind froh, als der Wandertag nach (eigentlich gar nicht so langen) 18 Kilometern in Rudow, im Süden Berlins, zu Ende ist.

Der Tag hält aber noch eine gewaltige Überraschung für mich bereit. Als wir gerade im Landauer bei unserem ersten Bier an der Theke sitzen, kommt ein Paar zur Tür herein. Ich traue meinen Augen nicht, sie sehen aus wie Kerstin und Hans-Jürgen. ES SIND KERSTIN UND HANS-JÜRGEN. Ich fass es nicht! Über meinen Blog hatten wir uns im letzten Jahr kennengelernt und während ich bei meiner Rom-Wanderung in Bretten übernachtete, überraschten sie mich mit ihrem Besuch. Aus ihrer Heimat in der Pfalz kamen sie seinerzeit angereist. Im Verlauf von sechs Jahren hatten sie die Via Francigena von Canterbury bis Rom erpilgert, immer in Etappen. Immer wieder hatten sie mich auf meinem Blog besucht und mich motiviert durchzuhalten. Und jetzt stehen sie schon wieder vor mir! Sie wollen morgen in Berlin das Udo-Lindenberg-Musical besuchen und dachten sich, wenn wir schon mal in Berlin sind, könnten wir auch Reinhard wieder überraschen. Mit Hilfe meines Blogs und von Google (Adresse vom Landauer) haben sie mich tatsächlich gefunden. Ich bin einfach platt und den beiden für diese schöne Geste sehr dankbar. Christa stößt auch noch zu uns und es wird ein netter Abend.

Nachdem sich Kerstin und Hans-Jürgen zu ihrem Hotel in Schönefeld aufgemacht haben, trinken Wolfgang, Dieter und ich noch einen kleinen Absacker in unserem "Hotel Christa", einen vollmundigen Single Malt. Vielleicht waren es auch zwei...
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Wolfgang kommt!

Freund Wolfgang aus Essen kommt für vier Tage nach Berlin und wird uns in dieser Zeit begleiten. Gerade habe ich ihn per Handy angerufen, er sitzt noch im Zug, scheint aber pünktlich um 9.11 Uhr am Berliner Hauptbahnhof anzukommen. Von dort setzt er sich dann zum S-Bahnhof Köllnische Heide in Bewegung, wo wir uns treffen werden, um uns von dort aus gemeinsam auf den Weg zu machen. 


Damit habe ich die richtigen Wanderkollegen zusammen. Beide bisher eher Fußballer, Tennis-und Gitarrenspieler, Bier- oder Whiskey-Malt-Trinker, versuchen sich jetzt am Wandern. Na Mahlzeit! Obwohl ich ja sagen muss, dass sich Dieter bisher wirklich gut geschlagen hat und ich noch keinen Klageton von ihm vernommen habe. Wolfgang, tu es ihm nach!


Fest steht, wir werden Spaß zusammen haben! Die kommenden Abende werden wohl so gestaltet werden, dass meine Blogberichte recht kurz ausfallen. Ich bitte, mir dies nachzusehen. Für heute Abend jedenfalls ist schon ein kleiner Tisch in der Nähe der Theke im Landauer reserviert und Dieters inzwischen schon halb leere Whiskeyflasche steht auch noch auf Christas Wohnzimmertisch. Das kann eventuell heiter werden...

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Bruderkuss

Reichstag - Köllnische Heide (16 km)

 

Nachts wird es oft unvermittelt hell und ich glaube immer, die Nacht wäre schon rum. Aber nichts da, Dieter kann nach einer gewissen Tiefschlafphase nicht mehr weiter ratzen und nimmt sich seinen Sudoku-Block vor. Ihm widmet er sich dann für etwa 90 Minuten, bis ihm wieder die Augen zufallen und er sich nochmal für eine Weile rumdreht. Eigentlich könnte ich mir dann den Sudoku-Block vornehmen, aber dieser Denksport interessiert mich herzlich wenig. So schlummern wir denn beide vor uns hin, bis um 7.30 Uhr mein Handywecker losgeht.


Heute nehmen wir die Spur des Mauerwegs wieder dort auf, wo wir ihn gestern verlassen haben, am Reichstag. Wieder strahlt die Sonne, aber es ist mindestens 5°C kälter als gestern. Das soll mir sehr recht sein. Geht ein Windzug - und derer gehen viele - sind es auch gefühlte 10°C weniger. Nur wenige Schritte sind es vom Reichstag zum Brandenburger Tor. Ich war nun schon oft genug hier, trotzdem steigen diesmal meine Erinnerungen an die Tage des 9./10./11. November 1989 ganz besonders in mir auf. Als die Menschen von der Westseite her die Mauer, die sich in einem Halbbogen vor dem Tor entlangzog, erklommen, jubelten, andere emporzogen, zu ersten Spitzhacken griffen und auf die Mauerkrone eindroschen. Wie erste Hundertschaften der Grenztruppen von Ostberliner Seite aufzogen, Wasserwerfer einsetzten, irgendwann dann aber doch gewissermaßen ratlos abzogen. Wie in den folgenden Tagen die "Mauerspechte" aktiv wurden und letztendlich hier, wie auch an vielen anderen Stellen der Stadt, ganze Mauerabschnitte eingerissen wurden, neue Grenzübergänge entstanden und die Mauer schließlich (fast) vollkommen von der Bildfläche der Geschichte verschwand. Viel schneller, als man es je erwartet hatte.

Wo seinerzeit ein großes Besucherpodest unmittelbar an der Mauer vor dem Tor gestanden und Ronald Reagan seinen berühmten Satz "Mr. Gorbatschow, please tear down this wall" in die Mikros gerufen hat, überqueren wir die Straße und gehen weiter am Holocaust-Denkmal vorbei bis zum Potsdamer Platz.

Wer die Bilder sieht, wie dieser Platz nach den Zerstörungen im II. Weltkrieg vor knapp 25 Jahren noch ausgesehen hat, nämlich im westlichen Teil wie eine Steppenlandschaft, auf der auch schonmal größere Flohmärkte stattfanden, oder eben jenen breiten Todesstreifen auf östlicher Seite, den mutet es fast unmöglich an, wie in dieser doch relativ kurzen Zeit daraus ein fast futuristisch pulsierendes Wirtschafts- und Touristenzentrum geworden ist.

Ich habe gehört, dass in einem dieser Neubauriesen, dem Kollberghaus, der schnellste Aufzug Europas Interessierte in 20 Sekunden 90 m in die Höhe auf eine Aussichtsplattform mit Panoramablick über Berlin hochbringt. Das Wetter ist schön, die Aussicht müsste gewaltig sein, also gönnen wir uns trotz 6,50 € "Fahrkosten" das Vergnügen und lassen uns hoch katapultieren. Die Aussicht ist allerdings phänomenal - aber es ist auch saukalt. Dieter rennt einmal um den Panoramarundgang, schüttelt sich, stöhnt, fröstelt - und ist in einen geschützten Bereich verschwunden. Ich halte es ein paar Minuten länger aus und bin dann auch der Meinung, dass ich genug gesehen habe. Wir lassen uns wieder "runterplumpsen" und gehen weiter.

Die nächsten Stationen unseres Weges entlang der ehemaligen Mauer seien im folgenden nur in geraffter Form dargestellt, denn ich möchte keinen Touristenführer niederschreiben. Die Kopfsteinpflaster-Doppelreihe, die den Verlauf der Mauer entlang der innerstädtischen Straßen nachzeichnet und fast lückenlos ist, lässt uns oft fast schmunzeln. Das ist in weiten Teilen tatsächlich alles, was von diesem schändlichen Bauwerk übrig geblieben ist! An Straßenrändern entlang zieht sich diese Linie, kreuzt mal eine Straße, biegt mal rechtwinklig ab, mal in einer weit geschwungenen Kurve. Und doch sind entlang dieser jetzt so harmlos anmutenden Linie Menschen erschossen worden, sind verblutet, wurden Fluchttunnel gegraben, wurden Fluchthelfer oder Flüchtlinge von Stasi-Mitarbeitern verraten. Gedenktafeln weisen auf viele dieser schlimmen Geschehnisse hin, manchmal stecken noch frische oder auch vertrocknete Blumen an einigen Erinnerungsstelen oder Gedenkkreuzen. Doch viele dieser Stätten des Gedenkens übersieht man, wenn man nicht gezielt danach sucht. Sie sind von parkenden Autos zugestellt, von hirnlosem Graffiti überkritzelt oder verschwinden in einem Gebüsch. Der weitaus größte Teil des ehemaligen Todesstreifens ist mit neuen Häusern oder mit Straßen überbaut, doch manchmal erkennt man noch, wenn man es weiß, Reste des alten Grenzstreifens. Sie liegen teils als mit Unrat überzogenen oder mit jungen Birken bewachsenen Brachen neben dem Weg, teils führt der Weg aber auch mitten hindurch, wenn sie zu einer Parklandschaft gemacht wurden.

Wir sehen den berühmten Checkpoint Charlie, das Mahnmal für das Maueropfer Peter Fechter, das Hochhaus des Axel-Springer-Verlags, die ehemaligen Grenzübergangsstellen Heinrich-Heine-Straße und Oberbaumbrücke, das Engelbecken mit der Sankt Michaelkirche, das mit Bildern von über 100 Künstlern versehene Reststück der Mauer zwischen Schilling- und Oberbaumbrücke, die sog. "East Side Gallery" (u.a. mit dem berühmten "Bruderkuss" zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker), den Mauerabschnitt am Landwehrkanal, die Heidelberger Straße mit der größten Dichte an Fluchttunneln - und immer wieder die Gedenktafeln für die Maueropfer. Jedesmal stehe ich fassungslos davor.

Gegen Ende der heutigen Strecke marschieren wir im Bezirk Neukölln an einem riesigen Areal von Schrebergartenkolonien vorbei. Bei einer von ihnen, der "Kolonie Neuköllner Wiesen", bringen wir es nicht fertig, am Vereinsheim "Im Wiesengrund" vorbeizugehen, obwohl es bis zum Zielpunkt unserer Tagesetappe, dem S-Bahnhof "Köllnische Heide", gar nicht mehr weit ist. Wir haben Hunger und im Vereinsheim, das gleichzeitig auch eine kleine Gaststätte ist, gibt es echte Berliner Currywurst.

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Stätten Berliner Mauergeschichte

Wilhelmsruh - Reichstag (14 km)

 

Heute möchte Christa uns begleiten. Berlin kennt sie wie ihre Westentasche, aber einige Stellen im Norden sind selbst ihr unbekannt. Warm soll es heute werden, über 20°C, und wir merken es auch direkt, als wir vor die Tür treten. Die Luft hat etwas wie Samt und Seide - aber nur solange wir in der Sonne Richtung U-Bahnhof gehen und kein Wind aufkommt. 


In den U- und S-Bahnen Richtung Norden ist es wesentlich leerer als gestern Morgen. Wir sind eine Viertelstunde später dran, der Berufsverkehr ist durch. An der Station Wilhelmsruh steigen wir aus, hier endete ja unsere gestrige Etappe. So wie schon gestern der Mauerweg gegen Ende an einem Bahndamm entlang führte, so setzt sich dies heute erstmal eine zeitlang fort. Der Bahndamm bildete eben damals die Grenze zwischen West- und Ost-Berlin. Die Mauer zog sich an ihm entlang, mit ihr der Todesstreifen. 

Was uns auffällt: Entlang des Weges liegen Unmengen an Müll. Aufgeplatzte blaue Säcke verbreiten ihren Unrat mit jedem stärkeren Windzug, Plastik in jeder Erscheinungsform verteilt sich zwischen den Büschen und alte, teilweise zerrissene Sperrmüllsessel stehen unter Straßenbrücken oder Zugunterführungen und faulen vor sich hin, vielleicht nur noch eine warme Heimstatt für Mäuse oder Ratten. Für einige Kilometer bewegen wir uns eben nicht durch ein Vorzeigeviertel der Hauptstadt, aber Wege oder Straßen parallel zu Bahndämmen sind nie ein Aushängeschild einer Stadt. Erst hinter dem Bahnhof Wollankstraße, wo wir den Dunstkreis des Bahndamms verlassen, wird es netter. Dazu passt auch, dass wir auf ein kleines Straßencafé stoßen, an dem wir draußen in der Morgensonne die erste Rast einlegen.

Danach bestimmen Kirschbäume unseren Weg. Sei es in den winzigen Vorgärten ansprechender Wohnviertel Pankows, sei es als eine von einer japanischen Initiative gespendeten Kirschbaumallee, die dort gepflanzt wurde, wo einst die Mauer stand oder als Baumreihe zwischen Kopfsteinpflasterstraßen und Bürgersteigen im Randbereich des Bezirks Prenzlauer Berg. Wo damals das Grau der Mauer und ihrer angrenzenden Häuserblocks das Bild dominierten, blühen jetzt, im April, diese Kirschbäume in ihrer ganzen Pracht.

Bald taucht vor uns der eiserne Bogen der Bösebrücke auf mit seiner darunter sich befindlichen S-Bahn-Station. Vielen mag dieser Brückenname vielleicht nicht viel sagen. Aber die Straße, die dort hinüberführt, hat einen besonderen Namen in der jüngeren deutschen Geschichte. Es ist die Bornholmer Straße und auf der Brücke befand sich zu Mauerzeiten die "Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße ". Am 9. November 1989 wurde dieser Übergang zwischen Ost- und West-Berlin weltbekannt. Die nördlichste - von insgesamt sieben - "Grenzübergangsstellen für West-Berliner und Bundesbürger" war der erste Grenzübergang, der für alle Besucher aus dem Ostteil der Stadt geöffnet wurde. Nachdem Herr Schabowski nach einer "kleinen" Kommunikationspanne am Abend eine neue Reiseregelung verkündete, wollten Leute aus Pankow und Prenzlauer Berg sofort Gebrauch davon machen und West-Berlin einen Kurzbesuch abstatten. Nachdem die ersten DDR-Bürger ohne Ausreisepapiere die Grenze hier um 21.20 Uhr passierten, öffnete der Grenzkommandant Harald Jäger den Schlagbaum mit den Worten: "Wir fluten jetzt". Mit Sekt und Jubelstürmen wurden 20.000 DDR-Bürger von ihren "Brüdern und Schwestern" im Westteil der Stadt begrüßt. Es war der Moment des Mauerfalls und das Ende der DDR. Ich habe diese Szenen damals im Fernsehen live miterlebt und war, das gebe ich gerne zu, Mitglied einer kollektiven Begeisterung und Rührung, die ich so bei mir zu der damaligen Zeit gar nicht für möglich gehalten hätte.

Als ich mit Dieter und Christa am nördlichen Brückenkopf auf dem Areal des ehemaligen Grenzübergangs stehe und mir wieder bewusst wird, welche Szenen sich hier abgespielt haben, schnürt es mir erneut die Kehle zu. Meinen beiden Begleitern geht es wohl nicht anders.

Kurz darauf kommen wir am ehemaligen Stadion des FC Dynamo Berlin vorbei, dem Lieblingsverein von Stasi-Chef Erich Mielke. Weil die Schiedsrichter diesen "MfS-Verein" immer begünstigten, wurde der vielfache DDR-Meister vom Volksmund auch "Schiebermeister" genannt.

Etwa eine Viertelstunde später stehen wir an dem Punkt, an dem damals die Mauer auf die Bernauer Straße traf und ihrem Verlauf für etwa zwei Kilometer bis zum Nordbahnhof folgte. Während die Bösebrücke mit der Bornholmer Straße ein Synonym für einen glücklichen Moment der unsäglichen Mauergeschichte ist, bleibt die Bernauer Straße mit ihren dramatischen Fluchten nach dem 13. August 1961ein besonderes Beispiel für die Grausamkeit dieses entsetzlichen "Schutzwalls". Hier versuchten Menschen aus den Häusern zu entkommen, die zu Ost-Berlin gehörten, während der Bürgersteig vor der Haustür schon West-Berliner Boden war. Sie seilten sich aus ihren Fenstern ab, sprangen in bereitgehaltene Sprungtücher, manchmal aber auch in den Tod. Fluchttunnel wurden gegraben, vielen gelang mit ihrer Hilfe die Flucht, vielen nicht. Wo früher diese Häuser standen, ihre Fensteröffnungen zur Vermeidung von Fluchtversuchen zugemauert , später sogar ganze Häuserzeilen abgerissen und an ihrer Stelle der Todesstreifen errichtet wurde, befindet sich heute eine 1,4 km lange Open-Air-Anlage, die versucht, das Grauen dieses besonderen Grenzabschnitts nachvollziehbar zu erzählen und zu veranschaulichen. Auf dem Areal dieser Gedenkstätte steht die Kapelle der Versöhnung, die den Platz der evangelischen Versöhnungskirche eingenommen hat, die im Grenzstreifen stand und zur "Bereinigung des Schussfelds" 1985 auf Veranlassung der DDR-Regierung kurzerhand gesprengt wurde. Vom Aussichtsturm des relativ neuen Dokumentationszentrums Deutsche Einheit auf der gegenüberliegenden Straßenseite haben wir einen Einblick in das letzte Stück Berliner Mauer, das in seiner Tiefenstaffelung erhalten geblieben ist und einen Eindruck vom Aufbau der Grenzanlagen zum Ende der 1980er Jahre vermittelt. Auf weite Strecken wurde der Verlauf der Mauer durch eine Reihe rostiger Stahlstangen sichtbar gemacht, die man überall passieren kann.Themenstationen bieten Informationen per Text, Ton oder Video.

In der gesamten Gedenkanlage wimmelt es von Touristengruppen und Schulklassen. Ich frage mich, inwieweit diese Anlage die jungen Menschen gerade der letzteren Gruppierung noch betroffen macht. Für sie sind sowohl die euphorischen Tage im Anschluss an den 9. November 1989 als auch die schlimmen Tage hier in der Bernauer Straße unmittelbau nach dem Mauerbau im August 1961 wahrscheinlich genauso weit weg wie das Mittelalter. Gibt es für sie einen wesentlichen Unterschied zwischen den damaligen Zeiten hier in Berlin an der Bornholmer Straße oder erst recht an der Bernauer Straße? Ist es für sie noch ein anderes Erschauern als bei der Besichtigung einer angeblichen Folterkammer in einer mittelalterlichen Ritterburg?

Das Wetter passt fast gar nicht zu dieser Umgebung. Die Sonne strahlt vom Himmel, die 20°C sind bei weitem überschritten, viele Menschen liegen entspannt im Gras - aber nicht in einer Parkanlage, sondern in dem mittlerweile begrünten Grenzstreifen, wo einst auch Menschen starben. Verrückte Welt!

Nach den ehemaligen Grenzübergangsstellen Chausseestraße und Invalidenstraße nähern wir uns nun allmählich dem Regierungsviertel und dem Reichstag. Eigentlich wollten wir unsere Etappe am nicht mehr weit entfernten Potsdamer Platz beenden, doch der Tag mit seinen doch recht hohen Temperaturen und der Fülle an Stopps lässt uns zu dem Schluss kommen, den heutigen Wandertag am Reichstag zu beenden. Es ist auch schon nach 17 Uhr. 

Dieter und ich freuen uns auf eine Dusche und ein paar Bier im "Landauer". Die angesagte Kneipe im Willmersdorfer Rheinischen Viertel, ganz in der Nähe von Christas Wohnung, ist für uns schon so etwas wie eine Stammkneipe geworden. Bald begrüßt man uns dort mit Handschlag.













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Einstieg in den Mauerweg

Frohnau - Wilhelmsruh (16 km)


In den schönen Hinterhof bei Christas Wohnung scheint die Sonne, der Frühstückstisch ist gedeckt mit allem, was der Wanderer braucht. Um kurz nach 9 Uhr stehen Dieter und ich mit leichtem Gepäck vor der Haustür und lassen uns von Christa zu Beginn unserer 12-tägigen Mauerweg-Exkursion fotografieren. Auf dem Foto erkennt man sofort unseren Tatendrang und fünf Minuten später stehen wir auf dem Bahnsteig der U-Bahn-Haltestelle Rüdesheimer Platz, den wir in den nächsten Tagen jeden Morgen anlaufen werden, um an den jeweiligen Startpunkt unserer Tagesetappe zu kommen.


Dreimal müssen wir heute Morgen umsteigen, bis wir den Bahnhof Frohnau, unseren ersten Ablaufpunkt im Norden Berlins, erreicht haben. Fast eine Dreiviertelstunde brauchen wir bis dorthin, aber es wird unsere längste Fahrtstrecke sein für die nächsten Tage. Damit sind wir aber noch nicht am Mauerweg. Erst etwa drei Kilometer vom Bahnhof entfernt ist es so weit. 

Bei der Straße Am Sandkrug stoßen wir auf einen besonderen Punkt der Berliner Mauergeschichte. Diese ruhige, enge Anwohnerstraße, links und rechts gesäumt von kleinen Einfamilienhäusern, galt 40 Jahre lang als ein trauriges Kuriosum. Wie ein "Entenschnabel" ragte zu Mauerzeiten diese Straße mit ihren Grundstücken von Glienicke (DDR) nach Frohnau (West-Berlin) hinein. Auf engstem Raum waren die Menschen von Mauer und Grenzstreifen umzingelt. Besucher, Handwerker, Ärzte oder Lieferanten durften die Siedlung nur mit einer Sondererlaubnis betreten. Zum ersten Mal kommt jetzt bei mir so etwas wie Beklemmung auf. Was war das für ein Leben, fast ringsum von einer absoluten Todeszone umgeben zu sein. Oft habe ich in Fernsehdokumentationen gesehen oder im Internet gelesen: "Wir hatten uns darin eingerichtet" oder "Wir Jüngeren kannten es ja nicht anders" oder "Der Zusammenhalt war damals viel besser als heute". Was ein menschenverachtendes Regime fertigbringt.

Bald darauf gehen wir das erste Mal mitten durch einen ehemaligen Todesstreifen. Am Rand des Naturschutzgebiets Tegeler Fließ, das eine eiszeitliche Abflussrinne ausfüllt, umgeben von einer Sumpflandschaft, marschieren wir auf dem ehemaligen Kolonnenweg, von Sanddünen begleitet und von jungen Birken, die vor 26 Jahren hier noch nicht stehen durften. Das Schussfeld musste frei bleiben. Als wir an einem etwas heruntergekommenen Holzpavillon vorbeikommen, liegt ein paar Meter davor ein Mann lang ausgestreckt und völlig reglos im gelben Sand. Er scheint sich im vollkommenen Entspannungsmodus zu befinden, vielleicht sogar zu schlafen, einen Menschen aber hier, im ehemaligen Minenfeld in dieser hingestreckten Körperhaltung zu sehen, führt zu einem leichten Schaudern.

Nach Querung der Blankenfelder Chaussee kommen wir zu einem anderen Schandmal deutscher Geschichte. Was heute nach einem friedlich daliegenden Acker aussieht, über dem gerade eine Lerche immer höher in den Himmel steigt, befand sich von 1941 bis 1945 ein "Krankensammellager für arbeitsunfähige Ostarbeiter", Männer und Frauen aus der Sowjetunion, die zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt worden waren. Für den "Arbeitseinsatz" nicht mehr verwendbar, waren die Menschen in diesem Lager katastrophalen hygienischen Bedingungen, mangelhafter Versorgung und fehlender ärztlicher Betreuung ausgesetzt. Bis heute sind mindestens 700 Todesfälle nachweislich bekannt.

Nicht weit von hier ist der "Checkpoint Qualitz". Ein Bauer dieses Namens aus dem naheliegenden Lübars, einem Ort, der sich seinen Dorfcharkter auf Berliner Stadtgebiet bis heute erhalten hat, durchbrach an dieser Stelle der Blankenfelder Chaussee am 16. Juni 1990, also 219 Tage nach dem Fall der Mauer, mit seinem Trecker die Mauer und öffnete damit wieder die Chaussee zwischen West- und Ost-Berlin.

In der Ferne sehen wir den 368 m hohen Fernsehturm am Alexanderplatz, nicht ganz so weit vor uns die Betonburgen des Märkischen Viertels, einem Wohnviertel für 40.000 Menschen. Die Menschen, die hierher zogen, mussten bald feststellen, dass sie nun in unmittelbarer Nachbarschaft zur Mauer wohnten, die sich unmittelbar unter vielen Fenstern entlangzog. Es wird erzählt, dass viele von ihnen spontan und unorganisiert eine eigene Protestform entwickelten. Manchmal wurden den Grenzposten vom Balkon aus Schilder entgegen gehalten, worauf stand: "Kommt doch rüber". Auf nächtliche Schüsse reagierten sie mit dem Heraushängen weißer Laken und Tücher.

Unsere erste Etappe auf dem Mauerweg endet am S-Bahnhof Wilhelmsruh, unmittelbar an der ehemaligen Mauer. Zu DDR-Zeiten war der Bahnhofseingang an der Ostseite zugemauert, nur Westberliner Bürger konnten den Bahnhof nutzen. Heute geht man wieder wie selbstverständlich von beiden Seiten in den Bahnhof hinein.






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Das geht ja gut los!

"Herr Reinhard Wagner bitte zum Security-Check! Herr Reinhard Wagner bitte zum Security-Check!" Wie? Was? - Ich sitze bereits am Boarding-Gate und warte auf Dieter, der sich nochmal zum zollfreien Einkauf begeben hat, um zur Feier des Tages eine Flasche Whiskey zu kaufen, als ich zweifelsfrei meinen Namen über die Flughafenansage höre. Was ist denn jetzt los? Ich bitte meinen Banknachbarn, auf unser Handgepäck aufzupassen und mache mich zum Security-Check, fieberhaft darüber sinnierend, was man von mir will. Als ich dort ankomme, sehe ich schon, wie mich ein Polizist von weitem fixiert - und sich dabei mit seinem linken Ellenbogen auf meinem Tagesrucksack abstützt. Ich werd verrückt, durchzuckt es mich, du hast vergessen, deinen Rucksack von hier mitzunehmen. "Kann ich Ihnen helfen?" fragt mich scheinheilig der Beamte und grinst mich süffisant an. "Mein Rucksack!" antworte ich etwas schmallippig. In seiner Hand hält er meinen Brustbeutel, außerdem die Kopie meines Personalausweises, die sich dort drin befand. "Seien Sie froh, dass wir die gefunden haben, so konnten wir Sie ausrufen lassen!" Na das ist ja prima, denke ich mir, dann gib mir jetzt mal schön meinen Rucksack! "Das war die gute Nachricht", meint der Herr Polizist, "die schlechte ist, in Ihrem Rucksack haben wir ein Messer gefunden!!!" - Neiiiiin!!! Er hält mir das Corpus delicti unter die Nase und schaut mich provokant-fragend an. Ich schaue relativ sprachlos zurück. Da hat sich doch tatsächlich mein Taschenmesser noch vom letzten Jahr in den Untiefen meines Rucksackes verirrt, taucht jetzt wieder auf und macht mir Schwierigkeiten. Zerknirscht gestehe ich meine Schuld, überlasse dem Polizisten mein Messer, der es auf Nimmerwiedersehen für mich entsorgt, schnappe mir meinen Rucksack und trotte zurück zum Boarding-Gate.


Inzwischen ist Dieter dort auch mit der Flasche Whiskey eingetroffen und wir beide erfreuen uns an dieser netten Geschichte. Ich allerdings bin eher froh, dass sie für mich nochmal so glimpflich ausgegangen ist.


Dieter stopft seine Plastiktüte mit der Literflasche Malt-Whiskey in die Außentasche seines kleinen Tagesrucksacks und bald darauf ziehen wir beide gutgelaunt in den Flieger ein. All unser Handgepäck verstauen wir in den dafür vorgesehenen Fächern über unseren Köpfen, schnallen uns an und nur wenig später sind wir in der Luft. 


Nach der Landung in Berlin zerre ich Dieters Rucksack aus der Klappe, während auf meiner Bauchnabelhöhe sich just der Kopf eines weiblichen Fluggastes befindet, der sich gerade aus seiner Sitzreihe heraus emporquält. In diesem Moment rutscht die Whiskeyflasche aus Dieters Rucksack-Außentasche, nimmt Geschwindigkeit auf und rast mit hoher Fallgeschwindigkeit am Kopf der Frau vorbei. Fünf Zentimeter weiter links und eine Platzwunde wäre das peinliche Ergebnis gewesen. Ein verlegenes Lächeln, ein "Entschuldigung!" und auch diese Situation ist überstanden.


Christa, Dieters gute Freundin, holt uns in Tegel ab und trotz Metropolen-Rushhour sind wir wenig später in Christas schöner Wohnung in Berlin-Willmersdorf. Dieter und ich richten uns in dem von Christa zur Verfügung gestellten Zimmer ein, genießen einen Kaffee und beenden bald danach diesen doch sehr problemlosen Tag in einer gemütlichen Vorstadt-Kneipe. Der Anfang war schonmal gut!

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Morgen bin ich weg!

Gewissermaßen scharre ich mit den Füßen wie ein ungeduldiges Pferd, das sich auf seinen versprochenen leckeren Apfel freut. Ich muss jetzt los!!! Es gibt nichts mehr zu planen, sich zu informieren, sich vorzubereiten, nichts mehr zu putzen, zu waschen, zu packen. Ich bin startbereit! Die Wettervorhersage verspricht wanderfreundliche Tage, von den meisten Freunden und Bekannten habe ich mich bereits verabschiedet, gleich geht´s nochmal zu einem Clantreffen zu Söhnchen Julian nach Köln, der rein zufällig heute auch noch Geburtstag hat. Vorläufig ein letztes Mal gemeinsam plaudern, lachen und rumalbern, dann Tschüss sagen, noch ein letztes Mal im eigenen Bett schlafen - und dann ab!

 

Eins steht fest! Während der kommenden Tour werde ich, genau wie im letzten Jahr, ein besonderes Kribbeln im Bauch mit mir spazieren tragen. Nicht die Ungewissheit, was die folgenden Tage so mit sich bringen, wird für dieses Kribbeln verantwortlich sein, sondern die anstehende Fortentwicklung unserer Großfamilie. Nachdem mich im letzten Jahr schon mein zweites Enkelkind Ella Mattea - noch ungeboren - auf den letzten Kilometern bis Rom täglich in Gedanken begleitet und beflügelt hat, um mir dann am Tag meiner Rückkehr - am Tag zuvor "frisch geschlüpft" - auf dem Arm von Papa Julian rosig entgegenzuschlafen, kommt es diesmal wieder zu einem Familien-Highlight: Mein Kronprinz Daniel wird bald von seiner Lena mit seinem Kronprinzen (so wird jedenfalls stark vermutet) beschenkt. Im letzten Mai-Drittel soll es so weit sein! Also, wenn sich Opa Reinhard irgendwo zwischen Werrabergland, Eichsfeld und Harz die Hacken krummläuft, wird ES dieser Welt entgegengleiten. Ich freue mich jetzt schon riesig auf die frohe Botschaft. Lena, du schaffst das! Und Daniel, immer schön mitpressen, mach´s wie dein Vater bei dir! Ich bin bei euch!

 

Meine Berichte in diesem Blog werden in den nächsten Wochen wohl nicht so üppig ausfallen, wie in den beiden letzten Jahren. In den Stunden, während derer ich damals in meinen Pilgerunterkünften allein am Tisch gesessen oder in meinem Bett gelegen habe, um meine Berichte zu schreiben, möchte ich diesmal mehr mit Menschen zusammen sein, von denen ich viel über ihr früheres und heutiges Leben an der (ehemaligen) Grenze zu erfahren hoffe. Hiervon werde ich mir viel notieren, um abschließend ausführlicher darüber in einem neuen Buch zu berichten. Es wird von den täglichen Situationen abhängen, was jeweils abends in diesem Blog auftaucht. Nichtsdestotrotz wünsche ich allen Lesern viel Spaß beim Lesen und Miterleben!


Bis morgen - in Berlin!


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Kontrastprogramm

Welch ein Unterschied! Vor wenigen Tagen musste ich hier noch Neuschnee befürchten, jetzt scheint draußen die Sonne von einem wolkenlosen Himmel und treibt die Quecksilbersäule im Thermometer gegen die 25°C. Im schräg einfallenden Sonnenstrahl sehe ich vor meinem Fenster die ersten Mücken tanzen, Vögel singen um die Wette und - tatsächlich - eine kleine Eidechse huscht gerade über meine Terrasse. "Der Frühling schaltet den Turbo ein!" stand gestern schon in der Zeitung. Für die nächste Woche ist auch keine dramatische Wetterverschlechterung vorhergesagt. Ab und zu mal eine Schauer, auch mal ein Gewitter, 17-18°C, das hört sich doch für den Anfang ganz gut an.


Gestern Nachmittag war Gepäck-Check bei Dieter. Als "Wander-Greenhorn" hatte er um eine kleine Beratung gebeten. Schnell hat man ja als Unerfahrener zu viel oder das Falsche im Rucksack verstaut oder etwas Wichtiges gänzlich vergessen. Mit einem Wanderanorak, einem großen Schirm und Ohropax (!) konnte ich ihm noch aushelfen, jetzt müsste er alles zusammen haben. Montag um 11.30 Uhr holt mich Dieter mit seiner Rosie mit dem Wagen in Helpenstell ab, dann geht's ab nach Köln zum Flughafen. 


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Hab ich alles?

Auf meinem Schreibtisch liegt die Packliste. Nochmal alles durchgehen ..., hab ich alles? Einige Textilien habe ich gerade noch aus dem Wäschetrockner geholt. Manches davon lag monatelang in meinem Schrank in der "Outdoor-Abteilung" und müffelte vor sich hin. Jetzt riecht alles wieder nach "Freiheit und Abenteuer" - und steckt in Plastiktüten. In Plastiktüten steckt eigentlich alles, was ich mit mir führe. Plastiktüten als Feuchtigkeitsschutz, falls eventuell die Wheelie-Tasche doch mal bei starkem Regen undicht ist, und als Ordnungssystem. Nichts fliegt im Wheelie durcheinander, alles hat seinen Platz und es muss nicht lange gekramt werden. In diesem System liegen 18.000 Kilometer Wandererfahrung - und jede Menge Spießertum.


Ein paar Sachen musste ich mir neu anschaffen: eine Bauchtasche, eine Kameratasche, Thermobeutel für die Trinkflasche, Kleinigkeiten. Dank eines Globetrotter-Gutscheins war es eine Lust einzukaufen. Aber was mache ich nun mit meiner alten Bauchtasche, meiner alten Kameratasche? Die kann ich doch nicht wegwerfen, die haben mich doch tausende von Kilometern begleitet, die haben doch Charakter, vielleicht sogar eine Seele. Wenn ich sie in die Mülltonne werfe, werden sie mich anstarren und anschreien. "Du undankbares Geschöpf!!!" Vielleicht könnte ich sie ja in Spiritus einlegen oder sie in Gießharz ... und dann auf meinen Schrank legen ... zur ewigen Erinnerung? Au Mann...!


Mein Wheelie ist auch nochmal durchgecheckt. Nachdem ich meinem handwerklich sehr begabten Sohn Florian die ein oder andere Schwachstelle gezeigt habe, die sich auf meiner letztjährigen Rom-Wanderung offenbart hatte, widmete er sich mit viel Liebe und Geduld sowie mit einigen Schraubenschlüsseln meinem dennoch bewährten zweirädrigen Wanderbegleiter. Jetzt wartet dieser darauf, dass ich ihn mit meinem Gepäck "füttere", und scheint dem Start seiner Diensthandlung entgegenzufiebern. Bleib ruhig, Wheelie, es dauert ja nicht mehr lange!

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Geht´s noch?

Wenn ich aus dem Fenster schaue, bin ich doch wieder etwas beruhigt. Die Sonne geht gerade hinter dem Helpensteller "Hausberg", dem Beuel, unter, der vorhin noch meist blaue Himmel verfärbt sich immer mehr türkis und die wenigen kleinen Wolken wechseln vom Weiß ins Orange. Doch die Luft, die am Nachmittag endlich mal wieder ganz vage den herannahenden Frühling erahnen ließ, wird schnell wieder empfindlich kalt. Aber kalte Luft ist nicht schlimm, Schnee wäre jetzt viel unpassender. Hier in den heimatlichen Gefilden hat es sich Frau Holle ja nochmal verkniffen, eine weiße Ladung abzulagern, dort, wo ich in etwa drei Wochen sein werde, sieht das schon anders aus. Gestern wollte ich es beim Zeitunglesen einfach nicht glauben: Im Erzgebirge, ganz in der Nähe von meinem Startpunkt auf dem Grünen Band, sind seit letzten Mittwoch 22 cm Neuschnee gefallen, in der Rhön 10 cm und auf dem Brocken im Harz wuchs in den letzten Tagen die Schneedecke um 35 cm auf sage und schreibe 1,30 m. Geht´s noch? Na ja, bis zum Brocken habe ich noch fast zwei Monate Zeit, aber auf den Höhen vom Vogtland, im Frankenwald oder Thüringer Wald kann es schon brenzlig werden.

 

Was soll´s! Vor zwei Jahren auf dem Jakobsweg bin ich in der Eifel durch den Schnee gestapft, im vorigen Jahr gab es auf meinem Weg nach Rom ein kleines Schnee-Intermezzo im Taunus und einige beharrliche Altschneefelder auf dem Feldberg im Schwarzwald, so ganz ohne wäre ja auch nix. Bei zu erwartendem Restschnee bin ich also irgendwie entspannt. Nur Sturm brauche ich nicht unbedingt, erst recht nicht von solchem Kaliber wie Orkan Niklas.


Au Mann, ich fange schon wieder an, Probleme zu sehen, wo vielleicht gar keine sind.

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Es geht wieder los - bald!

Heute ist Gründonnerstag 2015 und ich starte meinen neuen Blog! Es wird auch so langsam Zeit, denn am 13. April geht es ja schon los. An diesem Tag bringt mich der Flieger nach Berlin, wo ich in den folgenden Tagen den 160 Kilometer langen Berliner Mauerweg ablaufen werde, praktisch zum "Warmlaufen" für den langen Marsch auf dem Grünen Band Deutschland, der mich dann anschließend über mehr als zwei Monate beschäftigen wird.

 

Aber ich muss mich korrigieren: "Ich" stimmt nicht so ganz, für einige Tage gibt es ein "Wir"! Denn das Leben hält oft die wundersamsten Überraschungen bereit. Dieter, einen lieben ehemaligen Kollegen von mir aus Ruppichterother Hauptschulzeiten,  sticht der Hafer. Er, der jahrzehntelang dem Wandern so gar nichts abgewinnen konnte, wird sich mir für gut drei Wochen anschließen. "Ich will mal sehen, ob ich das noch drauf habe!" - Dieter wird zum Spätberufenen, ich könnte mich kringeln.

 

Sowohl auf dem kompletten Berliner Mauerweg, als auch noch für gut eine Woche auf dem Grünen Band wird er mich begleiten. Ganz abgesehen davon, dass wir - trotz möglicherweise brennender Füße, krachender Gelenke und schmerzender Blasen - zusammen mit Sicherheit viel Spaß unterwegs haben werden, kommt für mich ganz persönlich eine nette Annehmlichkeit hinzu. Dieter hat in Berlin eine gute Freundin, die uns beiden zur Übernachtung während unserer Berlinzeit zwei Betten zur Verfügung stellt. Das schont natürlich die Reisekasse immens, zusätzlich hält Christa, die Freundin, bestimmt auch viel Insiderwissen über Berlin für uns bereit. Zusätzlich werde ich dadurch das Berliner S- und U-Bahn-Netz in aller Ausführlichkeit kennenlernen, müssen wir doch morgens von Christas Wohnung immer zu unserem Tagesetappen-Start und nachmittags vom Etappenziel zurück zur "Pension Christa". Außerdem ist es doch immer wieder schön, neue nette Menschen kennenzulernen.

 

Ach na klar, Dieters kurzzeitige Begleitung bringt mir ja noch andere Vorteile! Aus den ursprünglich gebuchten Einzelzimmern werden für die Dauer unseres trauten Zusammenseins Doppelzimmer, ein nicht zu unterschätzender Preisvorteil. Gemeinsames Gaumensegel-Flattern werden wir dank Ohropax mannhaft überstehen. Vielleicht wird Dieter mir auch dabei behilflich sein können, zusammen mit mir mein Wheelie über die Baumstämme zu tragen, die Orkan Niklas vorgestern in den thüringischen Wäldern über den Kolonnenweg geworfen hat. Oder während ich bei den beschriebenen starken Steigungen vorne mein Wheelie ziehe, kann er von hinten schieben. Wunderbar, wir werden eine schöne Zeit haben!

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